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Ulrich H. J. Körtner: Theologische Exegese (Leseprobe)

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

Systematische Theologie und Bibelexegese gehen heute oftmals getrennte Wege. Einer der Gründe ist die Rehabilitierung des Historismus. In Teilen heutiger Systematischer Theologie spielen religionsphilosophische Reflexionen eine größere Rolle als die Texte der Bibel. Die Studien des vorliegenden Bandes begreifen Bibelexegese als theologisches Unterfangen, das historische und systematische Fragestellungen vereint, und Systematische Theologie als konsequenter Exegese. So vielstimmig, spannungsreich und bisweilen widersprüchlich die in den biblischen Schriften zu vernehmenden Stimmen auch klingen mögen, weisen sie doch über sich hinaus auf einen Konvergenzpunkt, der mit dem Wort „Gott“ benannt wird. Systematische Schriftauslegung versucht diesem Richtungspfeil der biblischen Texte zu folgen.

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2 Die Vaterunserbitte um die Vergebung der Schuld 85<br />

Wie bei Mt und in der Didache ist Gottes Sündenvergebung daran<br />

geknüpft, dass auch diejenigen, die Gott um Vergebung bitten, ihrerseits<br />

bereit sind, jenen zu vergeben, die an ihnen schuldig geworden<br />

sind. Für die zwischenmenschliche Schuld verwendet Lk allerdings<br />

nicht das Wort Sünde, sondern die Vokabel „schuldig werden“. Wie die<br />

konditionale Bindung der göttlichen Vergebung an die menschliche<br />

Vergebungsbereitschaft genau zu verstehen ist, bedarf einer gesonderten<br />

Erörterung. Hier muss uns zunächst beschäftigen, ob Lk durch die<br />

Wortwahl einen kategorialen Unterschied zwischen der Sünde des Menschen<br />

gegenüber Gott und zwischenmenschlicher Schuld macht.<br />

Im Unterschied zur lukanischen verwendet die matthäische Fassung<br />

das Wort Schulden (ὀφειλήματα; Mt 6,12), so dass die Vergebung<br />

der Schuld durch Gott und die zwischenmenschliche Schuldvergebung<br />

einander entsprechen. Diese Version deckt sich bis auf zwei Abweichungen<br />

mit derjenigen in Did 8,2. Zum einen spricht die Didache-Fassung<br />

im Singular von der ὀφειλή, die Gott vergeben möge, zum anderen<br />

gebraucht Did 8,2 im Nachsatz das Präsens ἀφίεμεν, Mt 6,12 hingegen<br />

den Aorist ἀφήκαμεν. Lk hat offenbar den bei Mt überlieferten ur -<br />

sprünglichen Wortlaut verändert und „Schulden“ durch „Sünden“ er -<br />

setzt. Außerdem spricht die lukanische Version wie Did 8,2 von der<br />

zwischenmenschlichen Sündenvergebung im Präsens.<br />

Durch die Ersetzung von ὀφειλήματα durch ἁμαρτίαιβάπτισμα<br />

μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν stellt Lk nicht nur einen klaren Bezug<br />

zu Jesu Praxis der Sündenvergebung her, sondern auch zum Wirken<br />

Johannes’ des Täufers. Laut Lk 3,3 predigte Johannes die Taufe der Buße<br />

zur Vergebung der Sünden (βάπτισμα μετανοίας εἰς ἄφεσιν ἁμαρτιῶν;<br />

vgl. Mk 1,4). In Lk 24,47 beauftragt der Auferstandene seine Jünger, in seinem<br />

Namen Buße zur Vergebung der Sünden zu predigen. Die Wendung<br />

stimmt wörtlich mit Lk 3,3 überein, allerdings mit dem bezeichnenden<br />

Unterschied, dass sie nicht mit der Taufe verknüpft wird. Das geschieht<br />

freilich in Act 2,38, wo mit der Taufe nicht nur Buße und Sündenvergebung,<br />

sondern außerdem die Gabe des Heiligen Geistes verbunden ist.<br />

Wie in Mt 6,12 setzt auch in Lk 11,4 der Nachsatz den Gehalt des<br />

Ausdrucks ὀφειλήματα voraus, weil sonst die Analogie zwischen göttlicher<br />

und menschlicher Vergebung nicht bestünde. 8 Durch die Ver-<br />

8 Zur Auslegung der Stelle vgl. Michael Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5),<br />

Tübingen 2008, 408 f.

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