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KOLUMNE

MEIN PENIS, MEINE ENTSCHEIDUNG

Ich weiß nicht, wie gerne du, liebe:r Leser:in,

dir Schwänze ansiehst. Ich jedenfalls tu es

nicht gern. Ich weiß, du willst jetzt sagen, die

Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Aber

wenn diese Schönheit buchstäblich fast in

deinem Auge landet, wirst du anders darüber

denken.

Du wirst mich jetzt fragen, wo hast du

Schwänze unmittelbar vor Augen gehabt?

Ich sage dir: im Fußballverein. Und das war

mein erster Kulturschock in Österreich. Es war

ein Kulturschock des Grauens. Nach meinem

ersten Spiel im Fußballverein in der Unterliga

Salzburg gingen wir in die Umkleidekabine, um

den Sieg zu feiern. Und dort bin ich in ein Bad

des Unbehagens gesprungen. Die Spieler zogen sich komplett

aus, wie damals, als sie zur Welt gekommen sind. Mit

Bierflaschen in der Hand begannen sie, in die Luft zu springen

und zu singen. Ich saß wie angenagelt auf der Bank

und war hypnotisiert von dem unbeschnittenen, wedelnden

Penis des Spielers, der vor meinem Gesicht jubelnd

hüpfte. Ich merkte, dass mir ein kalter Schauer über den

Rücken lief. Ich stellte fest, dass alle anderen ebenfalls

unbeschnitten waren. Was für eine verworrene Situation!

Ich löste mich langsam aus der Erstarrung, packte meine

Sportsachen zusammen und verließ, ohne zu duschen, die

Umkleidekabine mit Herzklopfen.

HAST DU EINEN KLEINEN?

Ich bin normalerweise nicht g'schamig. In Syrien hätte

mich mein Umfeld für freizügig und derb gehalten. Aber ich

bin so sozialisiert, dass man sich nicht vor anderen nackt

auszieht. Man zeigt seine intimen Dinge anderen nicht.

Besonders nicht unter Männern. Und das ist ein ziemliches

Paradoxon. Denn in Syrien war es üblich, Hand in Hand

oder eingehängt mit einem Freund durch die Stadt zu spazieren,

oder dass ein Freund beim Film Anschauen seinen

Kopf auf meinen Schoß legt. Beim Begrüßen und Verabschieden

küssen sich Männer dreimal auf die Wangen und

Schultern. Aber nackt voreinander zu sein war ein Tabu. In

Österreich ist es umgekehrt. Männer berühren sich kaum.

Dafür wedeln sie gerne gemeinsam mit ihren Penissen.

turjman@dasbiber.at

Jad Turjman

ist Comedian, Buch-Autor

und Flüchtling aus Syrien.

In seiner Kolumne schreibt

er über sein Leben in

Österreich.

Mir ist das arabische Miteinander in dieser

Hinsicht jedenfalls lieber.

Am Anfang habe ich es vermieden, in die

Umkleidekabine zu gehen. Ich sagte meinen

Mitspielern, dass ich in der Nähe wohnte und

lieber zu Hause duschen wollte. Aber als wir

das erste Mal auswärts spielten, wollte ich

nicht schweißgebadet ins Auto steigen. So

entschied ich mich für einen Kompromiss. Ich

ging mit Unterhose unter die Dusche. Das war

die schnellste Dusche, die ich jemals hatte.

Und so behielt ich das anfangs bei, mit der

Unterhose zu duschen. Bis ein anderer Araber

dem Fußballverein beitrat. Er war aber schon

seit zwanzig Jahren hier und hatte keine Probleme

mehr damit, sich auszuziehen. Natürlich ging mein

Herz auf, als ich einen beschnittenen Penis sah. Es war, als

hätte ich meinen Bruder wiedergesehen. Ich meine hier

den Araber, nicht seinen Penis. In dem Augenblick stellte

ich fest, dass ich mich mit beschnittenen Schwänzen

identifizierte. Je weniger Vorhaut ein Mensch hat, desto

näher steht er meinem Herzen. Aber die Tatsache, dass er

auch nackt duschte, setzte mich zusätzlich unter Druck.

„Hast du nur ein Ei oder einen kleinen?“, fragte er in der

Dusche mit einem Blick auf meine Unterhose. „Scheiß dich

nicht an, es ist nur ein Penis.“ Ich gab nach. Beim nächsten

Mal zog ich mich entschlossen und konsequent aus und

erntete überraschte Blicke meiner Kollegen. Mittlerweile bin

ich ganz schmerzbefreit, was Nacktheit angeht. Aber als

neulich ein weiterer Syrer zum Verein kam, brachte er mich

zum Nachdenken. Denn er zeigte fast dieselbe Reaktion

wie ich damals. Als wir in der Dusche standen, wollte ihn

derselbe Freund darauf ansprechen, nicht in der Unterhose

duschen zu müssen: „Das ist der Integrations-Endgegner!“

Bei mir ging ein Impuls auf: „Das ist der Entfremdungs-

Endgegner. Hör bloß nicht auf ihn, mach nur, womit du dich

wohlfühlst“, sagte ich dem neuen Syrer, und stellte den

Wasserhahn bei dem anderen Freund auf arschkalt, als

Revanche.

Ich bin dafür, dass in der Verfassung verankert wird,

sich nicht nackt machen zu müssen. Jeder soll selbst

bestimmen, wo er sein Ding zeigt.

Robert Herbe

62 / MIT SCHARF /

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