Gabys Natur-Tagebuch Gruselige Geheimnisse im dunklen Fichtenwald Von magischen weissen Hexeneiern, bleichen Leichenfingern, die sich aus dem Waldboden emporstrecken, und nach Aas stinkenden Pilzen, die aussehen wie Morcheln und doch keine sind 20 <strong>NATURZYT</strong>
Huhhh, dieses Mal wird es gruselig. Ich nehme euch mit in den finsteren Fichtenwald. Darin herrscht selbst bei schönstem Wetter um die Mittagszeit beklemmend stille Düsternis. Stellt euch vor, wie ein einzelner Sonnenstrahl eine Lücke im dichten Geäst der Fichten gefunden hat. Wie ein Scheinwerfer beleuchtet er etwas hell Leuchtendes, Weisses auf dem moosigen Wald boden. Was kann das nur sein? Sieht auf den ersten Blick wie nach kugelrunden Eiern aus, leicht eingegraben in ein Bett aus Fichtennadeln. Doch welches Tier mag an diesem Ort Eier hingelegt haben, zu dieser Jahreszeit, im <strong>September</strong>? Bei näherem Betrachten löst sich das Rätsel auf: Es sind Hexeneier! Nun, das tönt jetzt auch nicht wirklich beruhigend. Doch keine Angst, man wird nicht verhext beim Anblick oder der Berührung einer dieser geheimnisvollen, weissen Kugeln. Hexeneier sind das Entwicklungsstadium einiger weniger Pilzarten. Dazu gehören beispielsweise die Tintenfischpilze oder Stinkmorcheln (Phallus impudicus). Bei diesen Eiern hier handelt es sich um das Jungstadium der Stinkmorchel. Man kann sie je nach Wetter bereits ab Ende August, Anfang <strong>September</strong> in den Wäldern entdecken. Einmal war ich «gwundrig» und habe so ein Ei vorsichtig «seziert», respektive halbiert. Zum Vorschein kam ein wahres Kunstwerk. Da sieht man im äussersten Ring eine gallertartige Schicht. Sollte es für längere Zeit nicht regnen, so verhindert sie das Austrocknen. Die olivgrüne Masse hingegen, die sogenannte Gleba, ist die Fruchtschicht und bedeckt später den Kopfteil der ausgewachsenen Stinkmorchel. In der Mitte ist der weisse Stiel zu erkennen, der noch stark zusammengepresst ist. Ist das Ei «reif», platzt die äussere Hülle und der Stiel dehnt sich, langsam schält sich die Stinkmorchel heraus. Doch was heisst da langsam, das geschieht ziemlich schnell, so, dass sie innerhalb kürzester Zeit eine Höhe von 20 Zentimeter erreichen kann. <strong>Das</strong> geflügelte Wort «wie Pilze aus dem Boden schiessen» trifft auf die Stinkmorchel im Besonderen zu. Ihr Hut ist von der dickflüssig-schleimigen, olivgrünen Sporenmasse bedeckt. Auf der Spitze des Hutes kann man einen weissen Ring erkennen. Nun heisst der Pilz nicht umsonst Stinkmorchel und verströmt einen fürchterlich nach Aas stinkenden Geruch, der so stark ist, dass man den Pilz riechen kann, lange bevor man ihn sieht. Habt ihr also einen stechenden Aasgeruch in der Nase, so folgt ihm und ihr werdet mit grosser Wahrscheinlichkeit auf diesen höchst interessanten Pilz treffen. So geht es den Insekten, welche in grosser Zahl von diesem Geruch angezogen werden. Insbesondere allerlei Gattungen Fliegen tummeln sich auf der zuckerhaltigen Porenmasse des Hutes und tragen sie oft innert weniger Stunden komplett ab. Damit sorgen sie nicht nur für die Verbreitung der Samen, sondern auch dafür, dass der Pilz seinem Namen «Leichenfinger» gerecht wird. Nachdem nämlich die olivgrüne Masse komplett abgetragen worden ist, bleibt nur noch der schneeweisse Hut auf dem weissen Stiel übrig. Von Weitem erinnert er damit im dunklen Wald ein wenig an weisse Finger, die sich Aufgeschnittenes «Hexenei» da einem aus dem dunklen Waldboden entgegenstrecken. Übrigens haben der Gestank und das an die Morchel erinnernde Aussehen der Stinkmorchel zu ihrem Namen verholfen. Den Zusammenhang mit dem lateinischen Namen Phallus impudicus muss angesichts seiner Form wohl nicht näher erörtert werden. Nächstes Mal, ich verspreche es, wird es nicht mehr so gruselig werden, bis dann, hebed en gueti (Natur-) Zyt Herzlichst, eure Gaby Text/Fotos Gaby Kistler Gaby Kistler – Naturvermittlerin mit Leib und Seele Auf ihrer Homepage www.naturtagebuch.ch und der gleichnamigen Facebook-Seite zeigt Gaby, was es im Laufe der Jahreszeiten in Wäldern und Wiesen vor unserer Haustüre so alles zu entdecken gibt. Sie lebt am Ricken - pass, wo sie einen Gemüse-, Obst-, Beeren- und Heilkräutergarten pflegt. So findet man auf ihren Seiten auch Tipps für den Garten, zum Einmachen, zur Verwertung von Wildfrüchten und vieles mehr. <strong>NATURZYT</strong> 21