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WOLL Magazin 2022.3 Herbst

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Thomas Vogelsang stabilisiert<br />

traumatisierte Kinder im<br />

Kinderhaus Ense<br />

Das Problem an<br />

der Wurzel packen<br />

Matthias Koprek<br />

Thomas Vogelsang gar keine eigenen Kinder hat, teilt er sich sein Zuhause mit gleich fünf<br />

Heranwachsenden im Alter zwischen vier und 13 Jahren. Als Traumapädagoge und traumazentrierter<br />

Fachberater leitet er seit fünf Jahren das Kinderhaus in Ense-Waltringen. Hier finden traumatisier-<br />

Obwohl<br />

te Kinder ein Zuhause auf Zeit. Und eine feste Bezugsperson, die mit den Krisen umgehen kann, die traumatisierte<br />

Menschen – ob minder- oder volljährig – immer wieder haben. Zumindest solange ihr Trauma nicht therapiert ist.<br />

Solche Krisen sind zum Beispiel Wutausbrüche. Das Kind<br />

brüllt, schlägt um sich oder rennt einfach weg. Was für die<br />

Mitmenschen so aussieht, als käme es aus heiterem Himmel,<br />

hat einen tiefsitzenden Grund. Die Betroffenen wurden an ihr<br />

Trauma erinnert. Auslöser können alle äußeren Einflüsse sein,<br />

die das Kind wahrnimmt und mit dem Trauma in Verbindung<br />

bringt: Geräusche, Gerüche, Geschmäcker, Personen, Wortlaute,<br />

Lieder oder Blicke beispielsweise.<br />

Kinder werden immer wieder mit<br />

Traumata konfrontiert<br />

„Stellen Sie sich ein Kind vor, das von seinem Vater verprügelt<br />

wurde, sobald dieser alkoholisiert war. Am Schützenfestwochenende<br />

hat er besonders viel getrunken, die Misshandlungen<br />

waren entsprechend heftig. Wenn das Kind nun die Schützenfestfahnen<br />

sieht oder die Schützenfestmusik erklingen hört,<br />

dann wird es an die Zeit erinnert, auch wenn es längst in unserer<br />

Wohngruppe lebt. Es reagiert auf diesen Trigger. Es schreit<br />

oder schlägt um sich, egal wo es ist. Und keiner weiß, warum“,<br />

erklärt Thomas Vogelsang.<br />

Seine Aufgabe als Traumpädagoge ist es, das Kind in solchen<br />

Ausnahmesituationen – aber auch im scheinbar normalen Alltag<br />

– zu stabilisieren. „Die Kinder kommen zu uns, weil sie<br />

aufgrund ihres Verhaltens als schwer erziehbar gelten. Die Eltern<br />

kommen mit ihnen nicht mehr klar oder das Jugendamt<br />

traut ihnen die Erziehung nicht mehr zu. Andere pädagogische<br />

Wohnformen sind häufig bereits gescheitert“, sagt Vogelsang.<br />

Oft sind keine Details darüber bekannt, was das Kind traumatisiert<br />

hat. Zumal es nicht immer um das eine große Trauma,<br />

zum Beispiel die Vergewaltigung, geht. Viele kleine schwierige<br />

Erlebnisse können zu einer kumulativen Traumatisierung<br />

führen, weil die Häufung der Verletzungen keine Erholung<br />

zulässt.<br />

Vogelsangs Arbeit hat deshalb immer auch etwas Detektivisches.<br />

Er muss beobachten und Grenzen austesten. Stets reflektieren,<br />

was passiert. So fügt sich ein Puzzleteil zum anderen.<br />

Eine Sisyphusarbeit, die klassische Wohngruppen nicht<br />

leisten können. Weil sie dafür nicht die Kapazitäten haben<br />

und weil sie dafür nicht ausgebildet sind. Das fehlende Wissen<br />

führt dazu, dass die Verhaltensweisen nicht immer als Schutzmechanismen<br />

erkannt werden. Das Kind wird bestraft, bis es<br />

60 - <strong>WOLL</strong> <strong>Herbst</strong> 2022

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