PIPER Reader Frühjahr 2023
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GILLIAN Mc ALLISTER<br />
WERKSTATTBERICHT<br />
Die Heldin beobachtet alles von einem Panoramafenster<br />
in ihrem Haus aus. Am ersten rückwärts<br />
gelebten Tag, dem Tag -1, findet Jen ein Messer in<br />
der Schultasche ihres Sohnes, was ihr bestätigt, dass<br />
ihre Vorahnung stimmt. Dies sind die Eckpfeiler des<br />
Romans, die Aspekte, die es durch acht Rohfassungen<br />
bis in den Druck geschafft haben. Die Geschichte<br />
schien förmlich aus mir herauszusprudeln (was<br />
absolut nicht bei allen meinen Büchern der Fall ist!).<br />
In meiner langen, schmalen Küche hatte ich während<br />
des Schreibprozesses zwei Zeitleisten an den Wänden<br />
angebracht. Auf der linken Seite befand sich ein vorwärts<br />
gerichteter Zeitstrahl, den ich kurz und bündig<br />
›Was ist wirklich passiert?‹ nannte. Der andere Zeitstrahl<br />
an der rechten Wand verlief rückwärts, mit Hinweisen<br />
in der Reihenfolge, in der meine Protagonistin<br />
sie entdeckt. Jeden Morgen nahm ich jeweils einen<br />
Post-it-Zettel von links und rechts, verglich sie miteinander<br />
und schrieb die Szene. Ich hatte einen Riesenspaß<br />
dabei! Ich weiß noch, dass ich an den Tagen, an<br />
denen der zweite und dritte Lockdown angekündigt<br />
wurden, zu meiner besten Freundin sagte: ›Ich werde<br />
mich einfach verkriechen und ein hervorragendes Buch<br />
schreiben.‹ Ich hoffe sehr, dass ich das geschafft habe!<br />
Natürlich gab es Stolpersteine. Anfangs wurde Jen<br />
jede Nacht auf dem Treppenabsatz erneut Zeugin des<br />
Verbrechens, und es änderte sich, je nachdem, was sie<br />
in der Vergangenheit verändert hatte. Das war aber,<br />
zusammen mit der rückwärts laufenden Zeitachse, zu<br />
kompliziert und verwirrend für die Leser:innen. Aber<br />
als ich diesen Aspekt herausgenommen hatte, fehlte<br />
mir ein Weg, um das, was Jen jeweils herausfand, auf<br />
andere Weise darzustellen. Das war ein schwieriges<br />
Unterfangen und gelang mir erst in einem späten Stadium<br />
des Lektoratsprozesses. Ich hatte das Gefühl,<br />
das Buch aus seinem übersichtlichen Zusammenhang<br />
gerissen zu haben und alles irgendwie wieder zusammensetzen<br />
zu müssen, mit allen losen Fäden.<br />
Das Einzige, was mir von Anfang an klar war, war das<br />
Ende. Das ist nicht immer so – und bei einigen meiner<br />
besten Bücher hat sich das Ende erst während des<br />
Schreibprozesses ergeben. Aber bei diesem Buch wusste<br />
ich es immer; schon ab dem ersten Kapitel wies mir ein<br />
Pfeil den Weg zum Ziel. Für mich war es offensichtlich,<br />
für die Leser:innen hoffentlich unvorhersehbar,<br />
aber letztendlich auch befriedigend. Die entscheidende<br />
Wendung zu verstecken, war eine der schwierigsten Herausforderungen<br />
beim Schreiben. An manchen Abenden<br />
saß ich auf einem Barhocker an der Küchentheke<br />
und gab meinem Mann Hinweise, während er kochte:<br />
Wenn er die Wendung erriet, wurde der Hinweis aus<br />
dem Buch entfernt (er hatte es irgendwann satt).<br />
Auch wenn ›Going Back‹ ein wendungsreicher Thriller<br />
ist, so ist es doch letztlich eine Hommage auf das Muttersein:<br />
Jen geht davon aus, dass ihr Sohn einen Mord begangen<br />
hat, weil sie ihn nicht richtig erzogen hat. Als sie sich<br />
in die Vergangenheit begibt, liegt ihr Fokus auf ihrer vermeintlich<br />
erfolglosen Erziehung. Aber sollte er das überhaupt?<br />
Ich hoffe, dass dieses Buch eine Würdigung aller<br />
Frauen ist, die Mütter, die das Gefühl haben zu versagen,<br />
die Ehefrauen, Töchter und Schwestern, die an sich<br />
selbst zweifeln: Sie alle sind gut genug, genau wie Jen.«<br />
Gillian McAllister