PIPER Reader Frühjahr 2023
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THOMAS MEYER<br />
INTERVIEW<br />
Young-Bruehl fühlte sich mit Arendt verbunden,<br />
wie die überlieferten Briefe zeigen. Als Arendt 1975<br />
überraschend starb, entschieden die engsten Vertrauten,<br />
dass sie die Biografie schreiben solle. Es<br />
gab nämlich zahlreiche Anfragen, teils von sehr<br />
berühmten Leuten. Young-Bruehl war enthusiastisch,<br />
hatte beste Beziehungen zu den Freundinnen,<br />
Freunden und Bekannten Arendts in aller Welt, und<br />
man versprach ihr eine exklusive Nutzung des Nachlasses.<br />
Sie konnte noch viele Dokumente einsehen,<br />
die heute nicht mehr existieren. Heraus kam ein unglaublich<br />
intimes Porträt, das nicht zuletzt von den<br />
Erinnerungen der Interviewpartner lebte und das<br />
verstehen ließ, warum Arendt bereits zu ihren Lebzeiten<br />
so viele Menschen faszinierte – und warum sie<br />
so umstritten war.<br />
Jeder, der über Arendt schreibt, ist Young-Bruehl<br />
verpflichtet. Die Forschung hat dann natürlich in<br />
den folgenden Jahren vieles ergänzt, korrigiert oder<br />
verworfen. Später haben so bekannte Arendt-Fachleute<br />
wie Laure Adler, Antonia Grunenberg, Kurt<br />
Sontheimer und Thomas Wild wichtige Biografien<br />
vorgelegt.<br />
Als ich Ihre Frage erstmals gestellt bekam, schien<br />
mir die Antwort eindeutig auszufallen. Doch ich<br />
fing an, in Archive zu gehen, und nach und nach entstand<br />
ein Bild, das ich bisher nicht kannte. Ich war<br />
irritiert und zugleich entschlossen, den neuen Eindrücken<br />
auf den Grund zu gehen. Weniger die unübersehbare<br />
Aktualität war es schließlich, die mich<br />
die neue Biografie schreiben ließ. Vielmehr wollte<br />
ich die Hannah Arendt deutlicher zeichnen, die im<br />
Laufe ihres Lebens sehr genau Auskunft über sich<br />
selbst gegeben hatte. Arendt war nämlich beides,<br />
Biografin – und Autobiografin. Letzteres vergisst<br />
man leicht, obwohl das Gespräch mit dem Journalisten<br />
Günter Gaus von 1964 auf YouTube bereits<br />
Millionen Zuschauer anzog. Ich habe es oft gesehen,<br />
aber mir war lange nicht klar, dass sie darin den<br />
Schlüssel eingeschmuggelt hatte für die Deutung<br />
der Biografien anderer: »Ich glaube nicht, dass es irgendeinen<br />
Denkvorgang gibt, der ohne persönliche<br />
Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken,<br />
der Sache nach – denken.«<br />
Das heißt natürlich nicht, dass Arendts Werk sich anhand<br />
ihres Lebens erklärt. Das ist genau der Vorwurf,<br />
den Philosophen Biografen seit der Antike machen.<br />
Vielmehr lässt sich an diesem Satz verstehen, warum<br />
Arendt Leben als die einzige verfügbare Grundlage<br />
des Denkens ansah. Und dass der Zugang zum<br />
Leben – auch zum eigenen – nur über das Denken<br />
führt. Wobei Denken für Arendt immer Handeln ist,<br />
immer in der Welt stattfindet, im Austausch mit sich<br />
selbst, mit anderen, in der Öffentlichkeit, sichtbar in<br />
der Geschichte.<br />
In diesen Zeiten sind Hannah Arendts<br />
Schriften weiterhin sehr nachgefragt.<br />
Was würden Sie einem jüngeren Menschen<br />
empfehlen: Warum sollte man heute<br />
Hannah Arendt lesen, und was wäre<br />
ein guter Einstieg?<br />
Nun, in der Tat sind ihre Texte heute noch relevant,<br />
Hannah Arendt wurde von ihrem kürzlich verstorbenen<br />
Freund Richard J. Bernstein sogar die »Denkerin<br />
der Stunde« genannt. Als Donald Trump 2016<br />
zum 45. Präsidenten der USA gewählt wurde, stieg<br />
Arendts erstes Hauptwerk »Origins of Totalitarianism«<br />
auf Platz 1 der Bestsellerliste und war sogar<br />
zeitweise nicht lieferbar. Das 65 Jahre alte Werk<br />
schien den Menschen die Zeit zu erklären, die mit<br />
Trump begann. Auch in Deutschland wurde das<br />
Buch, das hier »Elemente und Ursprünge totaler<br />
Herrschaft« heißt, stark nachgefragt.<br />
Doch zum Einstieg dürfte sich dieses Werk, das<br />
tatsächlich aus drei Büchern besteht, kaum eignen.<br />
Arendt war eine Meisterin des Essays. Auf »Wir<br />
Flüchtlinge« hatte ich bereits hingewiesen. Doch<br />
das ist nur eine Möglichkeit, sich Arendt zu nähern.<br />
»Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?«<br />
ist nicht nur durch den Angriffskrieg Russlands<br />
gegen die Ukraine eine Frage, die sich viele<br />
junge Menschen stellen, die nicht verstehen, was da<br />
vor sich geht. Das gilt auch für den Text »Ideologie<br />
und Terror«, den Arendt 1952 verfasste. »Wahrheit<br />
und Politik« wäre ein weiterer Artikel, mit dem man<br />
beginnen könnte.<br />
War also Hannah Arendt ausschließlich mit der<br />
»dunklen Seite der Geschichte« (Yehuda Bauer)<br />
beschäftigt? Keineswegs! Sie konnte loben, wie<br />
kaum ein anderer Denker von Format, und so sind<br />
ihre Texte etwa über Karl Jaspers auch eine gute