PIPER Reader Frühjahr 2023
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INTERVIEW<br />
11<br />
THOMAS MEYER<br />
INTERVIEW<br />
Seit wann beschäftigen Sie sich mit<br />
Hannah Arendt?<br />
Einer der Schwerpunkte meines Philosophiestudiums<br />
in München bildete das Denken Martin Heideggers.<br />
Einige meiner Dozenten hatten den 1976 Verstorbenen<br />
noch kennengelernt, fühlten sich vor allem<br />
seinem ersten Hauptwerk »Sein und Zeit« von 1927<br />
und den Schriften zur Technikkritik und den Analysen<br />
der griechischen Klassiker verpflichtet. Ob in den<br />
Vorlesungen und Seminaren der Name Hannah Arendt<br />
fiel? Ich kann mich nicht daran erinnern.<br />
Allerdings: Im alteingesessenen Münchner Antiquariat<br />
Kitzinger kaufte ich mir unter anderem eine<br />
Erstausgabe von »Eichmann in Jerusalem«. Ich habe<br />
die Lektüre dann mehrfach abgebrochen, wie ich<br />
zugeben muss. Hannah Arendts Buch stand gegen<br />
alles, was ich zuvor über den Holocaust gelesen hatte.<br />
Manche Sätze schienen mir skandalös, vieles verstand<br />
ich schlicht nicht. Ich ging dem Buch zunächst<br />
aus dem Weg.<br />
Und dann kündigten der Piper Verlag und der Frankfurter<br />
Klostermann Verlag für 1998 den Briefwechsel<br />
Arendts mit Heidegger an. Man wusste zu der Zeit<br />
schon, dass die beiden eine Affäre gehabt hatten,<br />
und Auszüge der Briefe waren ebenfalls bekannt geworden.<br />
Aber die Vorstellung, dass die bedeutende<br />
Arendt-Herausgeberin Ursula Ludz eine gesamte<br />
Edition vorlegen würde, elektrisierte wohl alle an der<br />
Philosophie des 20. Jahrhunderts Interessierten. Und<br />
bei weitem nicht nur die. Es folgte ein Anruf von Dr.<br />
Hermann Schlüter, dem Leiter des Philosophieprogramms<br />
der Volkshochschule München, an der ich<br />
Vorträge hielt. Ob ich mit ihm zu Frau Ludz fahren<br />
wolle. Er habe die Fahnen der Korrespondenz und<br />
wolle mit Frau Ludz und mir den Briefwechsel der<br />
Öffentlichkeit vorstellen. Ich sehe mich noch ganz<br />
ergriffen auf dem Sofa sitzen, wie ich den beiden Experten<br />
zuhörte. Die Fahnen las ich anschließend, wie<br />
man so sagt: atemlos. Ich war völlig gefangen, ließ mir<br />
von meiner Mitbewohnerin die Fahnen binden und<br />
hörte nicht auf, darin zu lesen. Die Veranstaltung<br />
war ausverkauft, die Leute saßen um uns herum, die<br />
Türen in dem großen Saal waren geöffnet, ich hatte<br />
mich wochenlang vorbereitet und wollte Heidegger<br />
»entzaubern«, war ganz auf der Seite Arendts. Ob<br />
ich etwas verstanden habe von dem, was darinstand?<br />
Eher nein. Frau Ludz zeigte sich an dem Abend<br />
sehr großzügig mit dem nicht mehr wirklich jungen<br />
Ideologiekritiker, der ich damals war.<br />
Seitdem lese ich Arendt, vergaß sie zwischendurch,<br />
um mich dann wieder in Seminaren und Vorträgen<br />
mit ihr zu beschäftigen, in Israel, der Schweiz<br />
und schließlich in den USA. Mit der politischen<br />
Instru mentalisierung der angeblichen »Flüchtlingskrise«<br />
2015 sprachen mich die Essay-Redaktionen<br />
vom Bayerischen Rundfunk und vom Deutschlandfunk<br />
an, ob es nicht philosophische Gegengifte zu<br />
den immer aggressiver werdenden Attacken auf die<br />
Entscheidungen der Bundeskanzlerin Merkel gebe.<br />
Wir einigten uns auf Hannah Arendts Essay »Wir<br />
Flüchtlinge«, dessen anschließende Neuausgabe ein<br />
großer Erfolg wurde und der mich in Kontakt mit<br />
vielen Menschen brachte. Das wiederholte sich zwei<br />
Jahre später mit »Die Freiheit, frei zu sein«, ein bis<br />
dahin unbekannter Text Arendts.<br />
Es gibt einige umfangreiche Biografien,<br />
die zum Teil seit Jahrzehnten auf dem<br />
Markt sind. Was hat Sie bewogen, sich<br />
an das große Projekt einer neuen Biografie<br />
zu machen?<br />
Jeder, der sich mit Hannah Arendt beschäftigte,<br />
musste die Biografie von Elisabeth Young-Bruehl<br />
lesen. Sie war nicht nur ihre Schülerin, wie man so<br />
sagt, sondern auch ihre einzige Doktorandin. Übrigens<br />
mit einer Dissertation über Karl Jaspers, dem<br />
Freund und Lehrer Arendts!<br />
THOMAS MEYER