PIPER Reader Frühjahr 2023
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HANNO SAUER<br />
LESEPROBE<br />
LESEPROBE<br />
Der Mondgott<br />
Kommt und seht! Beeilt euch, legt euer Tagwerk nieder,<br />
macht euch auf den Weg, sonst habt ihr es verpasst!<br />
Denn heute kommt er zum Ziqqurat des Nanna, der<br />
Namenlose, der alle Namen trägt, der Gewaltige, Niedagewesene,<br />
der mit dem langen Bart, der Strahlende.<br />
Und verdanken wir ihm nicht alles? Hier gibt es Datteln<br />
und Nüsse, saftige Schlangen und frisches Brot,<br />
Oliven, Honig, bunte Fische, Ziegenfleisch und scharfe<br />
Suppen. Duftende Schwaden purpurnen Rauchs verraten<br />
seine Ankunft, der Weg seines Zuges ist gesäumt<br />
mit stattlichen Trommlern, Hörner klingen aus der<br />
Ferne, vom Palast her, damit niemand vergesse, sich in<br />
den Staub zu werfen, wenn Ur-Nammu kommt, um im<br />
hohen Haus mit dem Mondgott zu träumen.<br />
Von überall her sind sie gereist: aus Larsa, wo man die<br />
Türen zweimal abschließt; aus Nippur, wo der Falke<br />
wohnt; sogar aus Eschnunna, wo – so sagt man – das<br />
Feuer nie ausgeht. Hier warnen Fremde in unerhörten<br />
Lauten vor dem Ende der Zeit, wahnsinnig gewordene<br />
Frauen mit ihren leblosen Kindern im Arm<br />
bitten die kleineren Götter um Trost, Ausgestoßene<br />
in Lumpen verhüllen ihre Pocken, hier gibt es Mädchen<br />
mit schwarzen Augen, die in den Gassen warten,<br />
Zauberer, die reiche Männer um ihre Langeweile<br />
und ein paar Schekel erleichtern, hier gibt es bitteren<br />
Trank, der müde macht und doch wach, und der Wind<br />
ist so heiß, dass man den Brunnen austrinken möchte.<br />
Dort liegt er, unter dem heiligen Dach, der große rote<br />
Stein, der uns sagt, was dem Gott gefällt. Nur wenige<br />
können seinen Anblick ertragen, und noch weniger<br />
haben ihn je gesehen, aber er ist da, das weiß jeder, das<br />
wissen wir alle. Und heute ist wieder der Tag, an dem<br />
der Große Mann ihn um Rat fragt, auf dass es gerecht<br />
zugehe in den Mauern von Ur. Vom Königshaus<br />
kommt er her, das wir Echursanga nennen, und der<br />
lange Zug kündigt ihn an. Diener geleiten die Rinder,<br />
die von rasselnden Ketten bedeckt sind. Entmannte<br />
tragen die Sänften, in denen die Weiber ruhen, die<br />
nur ihm gehören. Die weisen Priester und Berater<br />
reiten auf Böcken hinterher; Šulgi, der Süße, das<br />
Licht unserer Zukunft, sitzt hoch über allen auf dem<br />
Rüsseltier, dessen Hals die große Glocke trägt.<br />
Aber ach, schwer haben wir es doch oft in unserem<br />
Leben. Danken müssen wir der Tiamat, aus deren<br />
Augen einst der Buranun und der Idigina entsprangen,<br />
die unsere Erde nähren, und danken müssen wir auch<br />
dem Meskalamdug, dem Größten der Großen, der<br />
schon so lange unter uns liegt und der uns die Dämme<br />
gab. Still, dann könnt ihr sie flüstern hören, die Frauen<br />
und Männer und die traurigen Kinder in der Tiefe,<br />
die mit ihm hingelegt wurden, so lange bevor ihre<br />
Zeit gekommen war.<br />
Und doch: Nichts wären wir ohne den roten Stein der<br />
Gesetze. Er sagt uns, wie es zugehen muss auf der Welt,<br />
wo Ruhm liegt und wo Frevel, und wer die bösen Männer<br />
sind. Erschlag' ich den, der meine Frau sich nimmt?<br />
Der von meinem Bruder stiehlt? Darf der seine Scholle<br />
behalten, der sie verderben lässt? Was schulde ich dem,<br />
der mich heilt? Und wem gehört das Wasser?<br />
Er ist da. Endlich ist er da. Viele Stufen sind es zum<br />
verbotenen Ort, und lange braucht selbst der Kaum-<br />
Sterbliche, um die Treppe zu bezwingen. Jetzt tritt<br />
er ein. Das neue Jahr beginnt! Möge es uns so reich<br />
beschenken wie das letzte, und – wenn Nanna es will –<br />
noch reicher sogar!<br />
Goldene Zeitalter<br />
Fast jede Kultur kennt die Idee eines goldenen Zeitalters.<br />
Wer von einem goldenen, meist lange vergangenen<br />
Zeitalter spricht, versteht seine Gegenwart<br />
gleichzeitig als eine Epoche des Verfalls: als einen<br />
zwar beklagenswerten, aber überwindbaren Zwischenzustand,<br />
in dem der Mensch seine einstige<br />
Lebensform der edlen Einfalt und stillen Größe<br />
vorübergehend eingebüßt hat. Früher, so heißt es,<br />
lebten wir versöhnt mit der Natur, die wir inzwischen