24 ALEXANDER OETKER & THI LINH NGUYEN LESEPROBE es ihr für viele Jahre nicht mehr gelingen, diese Bilder abzuschütteln. Das Bild des Jungen am Boden, in seiner eigenen Blutlache liegend, die Augen ins Leere gerichtet. Das Bild von Duc, der wie versteinert dasaß, kreidebleich. Sie sah, wie sich seine graue Jogginghose im Schritt verfärbte. Und sie würde auch nicht den Mann vergessen, der in der Tür stand und aus dessen Pistolenlauf sich sanfter Rauch kräuselte. Linh war, als blickte er nur sie an, und sein Blick war so besorgt, dass sie glaubte, er würde sie jeden Moment in die Arme schließen wollen. Linh wusste in diesem Augenblick nur eines: Ihr Leben hatte gerade am seidenen Faden gehangen und dieser Mann hatte sie gerettet – sie und ihren Bruder. *** »Hände hoch nehmen!«, schrie der Mann und richtete seinen Revolver auf Adam. »Hände!« Adam konnte sich nicht bewegen, hielt die Waffe zu Boden. Er sah nur auf Melanie, sah das bisschen Leben, das noch in ihren Augen lag, sie war schon im Delirium, so sah es zumindest aus, und in seinem Körper schien es ebenso zu sein. Da war kein Gefühl mehr außer Angst, Angst, Angst. Und dann, doch noch etwas anderes: Schuld. Abgrundtiefe Schuld. Schieß!, hörte Adam eine Stimme in seinem Kopf. Er war immer der schnellste Schütze am Schießstand gewesen. Aber jetzt? Ihm fehlte die Kraft, auch nur den Finger zu rühren. »Hände hoch!« Der junge Typ zielte auf ihn. Adam konnte ihn nicht ansehen. In der Ferne waren Sirenen zu hören. Er nahm das Klicken des Ladehebels wahr, sah, wie der Vietnamese ein Auge schloss. Ein vietnamesisches Wort klang durch den Raum, fremd und entschlossen. Adam schloss die Augen und wartete auf die Erleichterung, gleich würde alles vorbei sein. Er schreckte zusammen, als der Schuss fiel, doch er spürte keinen Schmerz. Stattdessen hörte er etwas fallen, genau vor ihm. Er öffnete die Augen, neben Melanie lag nun der Typ reglos am Boden. Er schaffte es, den Kopf zu wenden, und hinter ihm stand … *** Chêt – das hatte er gesagt. Tod! Tod auf Vietnamesisch. Sie wusste, dass er auch noch ein zweites Mal schießen würde. Ein toter Polizist mehr spielte hier keine Rolle. Sie war wie ferngesteuert gewesen, hatte ohne nachzudenken die Pistole des toten Jungen genommen, war durch den dunklen Flur gelaufen. Da hatte sie seine Worte gehört. Durch die geöffnete Tür fiel Licht, der Polizist stand mit dem Rücken zu ihr. Sie hatte nicht zu dem röchelnden Körper am Boden geschaut, dann wäre es aus gewesen. Nein, es gab nur eines, das jetzt zählte: ihn retten. Sie stand verdeckt hinter dem Polizisten, der andere konnte sie nicht sehen. Abzudrücken war viel zu leicht, schoss es ihr durch den Kopf, aber die Angst wurde kleiner, und als der Mann zu Boden fiel wie ein nasser Sack, war ihr klar, dass sie nun allein waren. Nur sie drei. Der Polizist, Duc, sie. Ihre Ohren klingelten immer noch vom Schuss, aber über allem lag jetzt eine unheimliche Stille. Die Polizistin – Linh erkannte erst jetzt, dass es eine Frau war – hatte aufgehört zu atmen. *** Er drehte sich zu dem Mädchen mit der Waffe um, sie stand unbeweglich in der Tür, die Augen geweitet. Er trat nur einen Schritt auf sie zu, er wollte Melanie nicht allein lassen. »Verschwinde von hier«, sagte er leise. »Nimm deinen Bruder, und verschwindet von hier. Aber nicht runter aus dem Haus, da sind gleich zu viele Bullen. Lauft die Treppe rauf und bleibt dort ein paar Minuten. Dann geht ihr einfach runter, als würdet ihr hier wohnen – und kommt nie wieder hierher. Verstanden?« Sie sagte nichts, nickte nur, legte die Waffe vorsichtig auf den Boden und verschwand, und er war sich sicher, dass er sie nie wiedersehen würde. *** Der Mann hatte Duc gerettet und sie, Linh, hatte ihn gerettet – damit hatte das Schicksal sie auf ewig verbunden. Sie wusste instinktiv, dass sie ihn wiedersehen würde.
ERSCHEINT AM: 23-02- 320 SEITEN 18, 00 € | D 18, 50 € | A ALEXANDER OETKER & THI LINH NGUYEN DIE SCHULD, DIE UNS VERFOLGT Klappenbroschur ISBN 978-3-492-06401-9 Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf piper.de/leseexemplare oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (BuchhändlerInnen) press_reader@piper.de (Presse)