44 LINUS GESCHKE DIE VERBORGENEN DIE LINUS GESCHKE VERBORGENEN
WERKSTATTBERICHT 45 LINUS GESCHKE WERKSTATTBERICHT DIE VERBORGENE WELT DES LINUS GESCHKE Jede Geschichte braucht einen Anfang. Die meines Thrillers »Die Verborgenen« hat gleich zwei. Sie beginnt zum einen im November 2019, als im Kino der südkoreanische Film »Parasite« anlief, in dem die Familie einer Hausangestellten unentdeckt im Keller ihres Arbeitgebers wohnt. Die Darstellerriege war beeindruckend, ebenso die beklemmende Atmosphäre, die durch die fantastische Kameraarbeit hervorgerufen wurde. Ein richtig guter Film, und dennoch verschwand er allmählich wieder aus den vorderen Bereichen meines Bewusstseins. Der zweite Anfang der Geschichte liegt im Spätsommer 2021. Zu dem Zeitpunkt hatte ich »Das Loft« gerade fertig geschrieben und war auf der Suche nach einem Stoff, der sich als Nachfolger eignen würde. Spannend sollte er sein, natürlich, dazu auch beklemmend und atmosphärisch – ohne allzu viel Blutvergießen. Ein waschechter Psychothriller eben, am besten wieder einer mit einer ungewöhnlichen Erzählperspektive. Immer, wenn ich mit einem Buchprojekt noch ganz am Anfang stehe, bediene ich mich der stets gleichen Herangehensweise: Ich schaue in endloser Abfolge True-Crime-Dokumentationen, suchte unzählige Serien weg und suche in Sachbüchern nach Inspiration. Nein, eigentlich stimmt das nicht – ich suche nicht nach ihr, ich warte darauf, dass sie mich anspringt! Das geschah, als ich vor dem Rechner sitzend durch ein US-amerikanisches Mystery-Forum surfte und dort auf den Begriff »Phrogging« stieß. Ich wusste nicht, was das war, fand das Wort nur witzig, weil es mich an »Frog« erinnerte, den Frosch also. Ein paar Klicks später war klar, was sich hinter der Wortspielerei verbarg: Phrogger sind Menschen, die in die Häuser anderer eindringen, um dort eine Zeitlang unentdeckt zu leben. Wie ein Frosch springen sie dabei von Unterkunft zu Unterkunft, um sich auf staubigen Dachböden, in finsteren Kellern oder in ungenutzten Gästezimmern zu verbergen. Aus ihren Verstecken kommen sie nur heraus, wenn die Bewohner schlafen oder das Haus verlassen haben. Dann bedienen sie sich an deren Essen, tragen deren Kleidung und putzen sich mit deren Zahnbürsten die Zähne. Sie kundschaften das komplette Haus aus, dringen in jedes Zimmer vor und erkunden jeden noch so versteckten Winkel. Die Erzählungen haben mich sofort gepackt, obwohl mir zu dem Zeitpunkt noch nicht klar war, wie viel Wahrheit sie enthalten. Gibt es Phrogger tatsächlich oder handelt es sich bei ihnen lediglich um eine der unzähligen »Urban Legends«, von denen in den USA so viele kursieren? Ich wusste es nicht, ich wusste nur eins: Ich hatte mein Thema gefunden! Den Rest würde ich noch in Erfahrung bringen! Bevor ich anfing, Bücher zu schreiben, habe ich siebzehn Jahre lang als Journalist gearbeitet. Eine Aufgabe des Journalisten ist das Recherchieren, also recherchierte ich, um dem Wahrheitsgehalt des Phänomens »Phrogging« auf den Grund zu gehen. Ich durchstöberte weitere Foren, stieß auf Erlebnisberichte und sah mir Videos von Menschen an, die das Treiben von Phroggern heimlich mit einer Webcam filmten. Schnell wurde klar, dass es sie tatsächlich gab. Nicht so häufig, wie in den Foren behauptet wurde, aber öfter, als man es sich vorstellen mag. Ich fand heraus, dass Phrogger meist in ländlichen Gegenden aktiv werden, oft in Asien oder den USA. Überall dort, wo es große freistehende Häuser gibt, die ihnen eine gute Auswahl an Versteckmöglichkeiten bieten. Die meisten Phrogger bleiben nicht lange in den einzelnen Häusern, zwei oder drei Tage nur, alles andere würde unnötig das Risiko erhöhen. Für viele von ihnen scheint das Ganze sowieso nur ein Spaß zu sein, ein Abenteuer vielleicht – so, wie andere Menschen ein Wochenende lang in die Wildnis fahren, um zu ihren Wurzeln zurückzufinden.