16 THOMAS MEYER LESEPROBE Godart, bestens in den Pariser Bankierskreisen vernetzt und zugleich ein Mann der Praxis, mietete Räume in Paris an und finanzierte Lehrbauernhöfe. So erhielten die künftigen Handwerker und Landwirte durch speziell ausgebildete Kräfte regelmäßig Schulungen und hörten Vorträge über jüdische Geschichte, die französische Kultur und allgemeine technische und berufliche Fragen, zudem konnten sie dort Hebräisch und Französisch lernen. In dem Bericht hieß es weiter: Die Mitarbeiter des Komitees, die mit der Vermittlung und Unterbringung der Schüler betraut sind und technische und pädagogische Aufgabe übernehmen, sind Juden, die von ihrem Judentum durchdrungen sind und auf diese Weise die Einheit der Arbeitsmoral sichern. Zu den so charakterisierten Mitarbeiterinnen gehörte seit dem <strong>Frühjahr</strong> 1934 auch Hannah Arendt. Über ihre Tätigkeit bei »Agriculture et Artisanat« kam sie mit zahlreichen französisch-jüdischen Aktivistinnen in ganz Frankreich zusammen, die sich in zionistischen Organisationen und in der Flüchtlingshilfe engagierten. Denn die Ausbildungsstätte für die Landwirtschaft und das Handwerk sah immer deutlicher den Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen, zumeist jüdischen Organisationen geboten. Die politische Lage im nationalsozialistischen Deutschland hatte sich zudem stabilisiert, die Flüchtlingsströme nahmen kein Ende, die Not der zum Teil ohne Begleitung von Eltern, Verwandten oder Geschwistern eintreffenden Kinder und Jugendlichen wurde immer größer. Es musste also geworben werden, es galt, das traditionell den zionistischen Bewegungen gegenüber skeptische, zumeist sogar scharf ablehnende französische Judentum auf die neue Lage und die sich daraus ergebenden Folgen aufmerksam zu machen – und endlich zusammenzuarbeiten. Große Erfahrungen mit diesen und ähnlichen Problemen hatte die 1923 gegründete »Union des femmes juives françaises pour la Palestine« (»Vereinigung der jüdischen französischen Frauen für Palästina«), einer Organisation, in der bis zu achtzig Frauen aktiv waren. Präsidentinnen waren Suzanne Esther Zadoc-Kahn und Yvonne Netter, zwei bedeutende Zionistinnen. Zadoc-Kahns Mann Léon stammte aus einer hochangesehenen Rabbinerfamilie, war von 1914 bis 1943 Leiter des Rothschild-Krankenhauses, dekorierter Teilnehmer des Ersten Weltkrieges und hatte zahlreiche Positionen in jüdischen Organisationen inne. Suzanne Esther, deren Familie aus Mainz und aus dem Elsass stammte, trat immer wieder auf zionistischen Kongressen auf und versuchte lebenslang, Frauen für ihre Sache zu begeistern. Nicht minder bekannt war Yvonne Netter. Eine Tafel an dem Haus, in dem sie von 1911 bis zu ihrem Tod 1985 wohnte, fasst ihr Leben zusammen: »Yvonne Netter, Rechtsanwältin, feministische Aktivistin, Journalistin, Widerstandskämpferin, Internierte, Geflüchtete.« Wie auch immer Arendt genau zu der »Union« stieß, sie dürfte jedenfalls innerhalb der französisch-zionistischen Aktivistinnen-Szene keine Unbekannte mehr gewesen sein. Am 9. Dezember 1934 wurde ihr erster bekannter Vortrag in der jüdischen und Exilpresse angekündigt. Über »allgemeine jüdische Fragen« werde »Dr. H. Arendt-Stern« sprechen, hieß es. Dazu traf man sich nicht irgendwo, sondern im exklusiven Café de la Paix. Das seit der Eröffnung 1862 von allen Berühmtheiten der Zeit frequentierte Café vermietete seine Räumlichkeiten seit jeher an alle erdenklichen Organisationen und Vereine, ab 1933 wurde es vermehrt zum Ort verschiedener politischer Zirkel. So versuchte der Schriftsteller, Rechtsanwalt und zionistische Aktivist Sammy Gronemann im Paix deutsche, französische und ostjüdische Zionisten zur Zusammenarbeit in der von ihm mitbegründeten Gruppe »Ost und West« zu bewegen. Ob Baron Edmond de Rothschild oder kommunistische Funktionäre, sie folgten Gronemanns Ruf ins Paix. Doch er war nicht der Einzige, der das Café entdeckt hatte. Auch seine Frau Sonja mochte den mondänen Ort offensichtlich. Sie war es dann auch, die sich gemeinsam mit der Zahnärztin und Aktivistin Luba Filderman Arendts Überlegungen anhörte, wie am 27. Dezember 1934 in der Zeitschrift Archives Israélites zu lesen war: Die Wizo Union hielt am Donnerstag im Café de la Paix ihr Propagandatreffen ab, mit dem Ziel, eine Vertretung in Paris zu gründen. Frau Filderman und Frau Groneman (sic!) saßen der gut besuchten Versammlung vor. Frau Dr. Stern sprach bei diesem Treffen mit viel Herzblut, sie sprach vom Leiden der Juden unter dem Joch Hitlers und sie zeigte, wie man sich solidarisch für Palästina einsetzen kann. Es war dieser Vortrag, der Hannah Arendts Leben verändern sollte.
ERSCHEINT AM: 27-04- 23 384 SEITEN 28, 00 € | D 28, 80 € | A THOMAS MEYER HANNAH ARENDT Die Biografie Hardcover ISBN 978-3-492-05993-0 Bestellen Sie Ihr digitales Leseexemplar zum Erscheinungstermin auf piper.de/leseexemplare oder schreiben Sie eine E-Mail an: sales_reader@piper.de (BuchhändlerInnen) press_reader@piper.de (Presse)