13.03.2023 Aufrufe

Irene Dingel: Die Reformation in Gestaltungen und Wirkungen (Leseprobe)

Die von der Reformation ausgehenden Impulse veränderten nicht nur Kirche und Frömmigkeit, sondern auch die Strukturen der Gesellschaft sowie die rechtlichen und politischen Dimensionen der damaligen Lebenswelt. Die hier versammelten Beiträge, die zum überwiegenden Teil aus den Themenjahren der Reformationsdekade hervorgegangen sind, veranschaulichen das gestaltende und nachhaltig wirkende Potenzial der Reformation. Sie spannen einen weiten Bogen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und eröffnen Perspektiven auf die frühe Verbreitung reformatorischer Inhalte, auf Formen von Frömmigkeit und katechetischer Unterweisung sowie auf rechtliche Neuordnung in politisch motivierten Religionsfriedensregelungen einerseits und kirchlich ausgerichteter Union andererseits.

Die von der Reformation ausgehenden Impulse veränderten nicht nur Kirche und Frömmigkeit, sondern auch die Strukturen der Gesellschaft sowie die rechtlichen und politischen Dimensionen der damaligen Lebenswelt. Die hier versammelten Beiträge, die zum überwiegenden Teil aus den Themenjahren der Reformationsdekade hervorgegangen sind, veranschaulichen das gestaltende und nachhaltig wirkende Potenzial der Reformation. Sie spannen einen weiten Bogen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und eröffnen Perspektiven auf die frühe Verbreitung reformatorischer Inhalte, auf Formen von Frömmigkeit und katechetischer Unterweisung sowie auf rechtliche Neuordnung in politisch motivierten Religionsfriedensregelungen einerseits und kirchlich ausgerichteter Union andererseits.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Kirche <strong>und</strong> Frçmmigkeit 19<br />

Gottes, das er an se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Lektüre des Römerbriefs gewann, ist auf<br />

diese relational-existenzielle Bibelhermeneutik zurückzuführen. 11 Fortan wurde<br />

die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen alle<strong>in</strong> aus der Gerechtigkeit<br />

schenkenden Gnade Gottes heraus zum Kernstück der <strong>Reformation</strong> generell. <strong>Die</strong><br />

Heilige Schrift wurde für Luther, wie für alle Reformatoren <strong>in</strong> Europa, zur<br />

obersten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>zigen Autorität. Auch <strong>in</strong> den 95 Thesen deutet sich dies bereits<br />

an. Zwar griffen die Thesen eigentlich weder Struktur noch Theologie der alten<br />

Kirche an, aber an e<strong>in</strong>igen Stellen f<strong>in</strong>den sich Aussagen, die auf die alle<strong>in</strong>ige <strong>und</strong><br />

höchste Autorität des Evangeliums verweisen. So heißt es z. B. <strong>in</strong> These 55: »<strong>Die</strong><br />

Me<strong>in</strong>ung des Papstes ist unbed<strong>in</strong>gt die, daß, wenn der Ablaß, der e<strong>in</strong> denkbar<br />

ger<strong>in</strong>ges Gut ist, mit e<strong>in</strong>er Glocke, mit e<strong>in</strong>er Prozession <strong>und</strong>Gottesdienst gefeiert<br />

wird, das Evangelium, das das höchste Gut ist, mit h<strong>und</strong>ertGlocken, mit h<strong>und</strong>ert<br />

Prozessionen, mit h<strong>und</strong>ert Gottesdiensten gefeiert werden soll.« 12 Oder <strong>in</strong> These<br />

62: »Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der<br />

Herrlichkeit <strong>und</strong> Gnade Gottes.« 13 <strong>Die</strong>ser Perspektivenwechsel weg von kirchlichen<br />

Autoritäten h<strong>in</strong> zur Autorität der Bibel war zugleich e<strong>in</strong> Normenwechsel.In<br />

letzter Konsequenz bedeutete dies, dass nicht mehr die kirchliche Ämterhierarchie<br />

mit dem Papst an ihrer Spitze darüber befand, was im Leben der Kirche<br />

<strong>und</strong> des E<strong>in</strong>zelnen gelten sollte, sondern e<strong>in</strong>e historische Quelle, die Heilige<br />

Schrift, die man mit dem Wort Gottes, dem Evangelium, identifizierte.<br />

<strong>Die</strong>s rückte fortan die Predigt <strong>in</strong> den Mittelpunkt des Gottesdienstes, der bis<br />

dah<strong>in</strong> als late<strong>in</strong>ische Messe mit Schwerpunkt auf der Eucharistie gefeiert wurde.<br />

<strong>Die</strong>se Aufwertung des gesprochenen Worts g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>er Abwertung<br />

der Riten <strong>und</strong> Zeremonien.Sie galten der <strong>Reformation</strong>, gegenüber der zentralen<br />

Verkündigung des Evangeliums, als Äußerlichkeiten, mit denen e<strong>in</strong> freier Umgang<br />

gestattet sei. Zwar erstellte Luther mit se<strong>in</strong>er Deutschen Messe relativ spät<br />

(1525/1526) e<strong>in</strong>e liturgische Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes, 14<br />

aber die volkssprachliche Predigt hatte sich bis dah<strong>in</strong> bereits zu e<strong>in</strong>em reformatorischen<br />

Kommunikationsmedium ersten Ranges entwickelt. Während Luther<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Ges<strong>in</strong>nungsgenossen an der kirchlich überlieferten Perikopen-<br />

11<br />

Vgl. dazu Ulrich Köpf, Luthers Römerbrief-Vorlesung (1515/16) – Historische <strong>und</strong><br />

theologische Aspekte, <strong>in</strong>: <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>/Henn<strong>in</strong>g P. Jürgens (Hrsg.), Meilenste<strong>in</strong>e der <strong>Reformation</strong>,<br />

Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Mart<strong>in</strong> Luthers, Gütersloh 2014,<br />

48–55. 253f.<br />

12<br />

Mart<strong>in</strong> Luther, Disputatio pro declaratione virtutis <strong>in</strong>dulgentiarum, <strong>in</strong>: WA 1, 229–238,<br />

hier 236,7–9. <strong>Die</strong> deutsche Übersetzung nach Kurt Aland,<strong>Die</strong> 95 Thesen Mart<strong>in</strong> Luthers <strong>und</strong><br />

die Anfänge der <strong>Reformation</strong>, Gütersloh 1983, 63.<br />

13<br />

WA 1, 236,22 f.; Aland, <strong>Die</strong> 95 Thesen (s. Anm. 12), 64.<br />

14<br />

Vgl. dazu Joachim Ott, Luthers Deutsche Messe <strong>und</strong> Ordnung Gottesdiensts (1526) –<br />

Historische, theologische <strong>und</strong> buchgeschichtliche Aspekte, <strong>in</strong>: Meilenste<strong>in</strong>e der <strong>Reformation</strong><br />

(s. Anm. 11), 218–234.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!