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Irene Dingel: Die Reformation in Gestaltungen und Wirkungen (Leseprobe)

Die von der Reformation ausgehenden Impulse veränderten nicht nur Kirche und Frömmigkeit, sondern auch die Strukturen der Gesellschaft sowie die rechtlichen und politischen Dimensionen der damaligen Lebenswelt. Die hier versammelten Beiträge, die zum überwiegenden Teil aus den Themenjahren der Reformationsdekade hervorgegangen sind, veranschaulichen das gestaltende und nachhaltig wirkende Potenzial der Reformation. Sie spannen einen weiten Bogen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und eröffnen Perspektiven auf die frühe Verbreitung reformatorischer Inhalte, auf Formen von Frömmigkeit und katechetischer Unterweisung sowie auf rechtliche Neuordnung in politisch motivierten Religionsfriedensregelungen einerseits und kirchlich ausgerichteter Union andererseits.

Die von der Reformation ausgehenden Impulse veränderten nicht nur Kirche und Frömmigkeit, sondern auch die Strukturen der Gesellschaft sowie die rechtlichen und politischen Dimensionen der damaligen Lebenswelt. Die hier versammelten Beiträge, die zum überwiegenden Teil aus den Themenjahren der Reformationsdekade hervorgegangen sind, veranschaulichen das gestaltende und nachhaltig wirkende Potenzial der Reformation. Sie spannen einen weiten Bogen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts und eröffnen Perspektiven auf die frühe Verbreitung reformatorischer Inhalte, auf Formen von Frömmigkeit und katechetischer Unterweisung sowie auf rechtliche Neuordnung in politisch motivierten Religionsfriedensregelungen einerseits und kirchlich ausgerichteter Union andererseits.

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<strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong><br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>Gestaltungen</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>Wirkungen</strong><br />

Speyerer Vorträge


Inhalt<br />

Zum Geleit ................................................ 7<br />

Vorwort <strong>und</strong> E<strong>in</strong>leitung ...................................... 11<br />

Im Umbruch der Zeiten ...................................... 15<br />

Kirche <strong>und</strong> Frömmigkeit .................................. 18<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Familie .................................. 22<br />

Recht <strong>und</strong> Politik ....................................... 28<br />

Conclusio ............................................. 32<br />

Freiheit <strong>und</strong> Verantwortung ................................... 33<br />

1520 als Entscheidungsjahr der <strong>Reformation</strong> .................. 34<br />

<strong>Die</strong> Freiheitsschrift imKontext der großen <strong>Reformation</strong>sschriften<br />

Luthers ............................................... 38<br />

Rechtfertigung als Freiheit – Freiheit als Verantwortung ......... 40<br />

Conclusio: Bedeutung <strong>und</strong> Wirkung ......................... 46<br />

»Außerdem haben wir de<strong>in</strong>e Bücher nach Brabant <strong>und</strong> England<br />

geschickt …« .............................................. 49<br />

<strong>Die</strong> Ausbreitung der <strong>Reformation</strong> ........................... 50<br />

Verfolgung <strong>und</strong> Aneignung der <strong>Reformation</strong> – europäische<br />

Entwicklungen ......................................... 53<br />

<strong>Die</strong> Etablierung der <strong>Reformation</strong> ............................ 64<br />

Conclusio ............................................. 68<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> im Bild ..................................... 71<br />

Bilder als Medium reformatorischer Propaganda ................ 75<br />

Das reformatorische Predigt- <strong>und</strong> Frömmigkeitsbild ............. 85<br />

Das reformatorische Bild im <strong>Die</strong>nste fürstlicher Repräsentation .... 90<br />

Conclusio ............................................. 95<br />

Gesungener Glaube ......................................... 97<br />

E<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> die Geschichte ................................ 98<br />

Reformatorische Theologie im Lied .......................... 101<br />

Abgrenzung, Protest <strong>und</strong> Polemik im Geistlichen Lied ........... 107<br />

Kriegserfahrung <strong>und</strong> Frömmigkeit .......................... 113<br />

Abgesang ............................................. 124


6 Inhalt<br />

Den Glauben <strong>in</strong>s Leben ziehen ................................. 125<br />

Der Heidelberger Katechismus – e<strong>in</strong> Handbuch des christlichen<br />

Lebens ............................................... 126<br />

Konfessionelle Neuordnung im Heidelberger Katechismus ........ 133<br />

Conclusio ............................................. 143<br />

»… das Recht haben, bei Religion, Glauben, Kirchengebräuchen <strong>in</strong><br />

Frieden zu bleiben« ......................................... 145<br />

Religion <strong>und</strong> Politik – e<strong>in</strong>ige Schlaglichter .................... 145<br />

Das Phänomen »Religionsfrieden« ........................... 149<br />

Europäische Religionsfriedenspraxis im Vergleich .............. 150<br />

1. Frankfurter Anstand <strong>und</strong> Augsburger Religionsfrieden ... 150<br />

2. Das Januaredikt von Sa<strong>in</strong>t-Germa<strong>in</strong>-en-Laye ........... 155<br />

3. <strong>Die</strong> Warschauer Konförderation .................... 158<br />

Conclusio ............................................. 161<br />

»immerfort auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit <strong>und</strong> echt religiöser<br />

Aufklärung« ............................................... 163<br />

<strong>Die</strong> pfälzische Irenik ..................................... 165<br />

<strong>Die</strong> Entstehung der Pfälzischen Union ....................... 171<br />

<strong>Die</strong> Unionsurk<strong>und</strong>e <strong>und</strong> ihre theologischen Charakteristika ....... 176<br />

Conclusio ............................................. 180<br />

Register .................................................. 181<br />

Personenregister ........................................ 181<br />

Ortsregister ............................................ 186<br />

Bibelstellen ............................................ 189


Zum Geleit<br />

Im Rückblick auf die Ausgestaltung der <strong>Reformation</strong>sdekade 2008 bis 2017<br />

me<strong>in</strong>te der damalige Vizepräsidentdes Kirchenamts der Evangelischen Kirche <strong>in</strong><br />

Deutschland (EKD), Dr. Thies G<strong>und</strong>lach, e<strong>in</strong>e »Ignoranz« der Universitätstheologie<br />

feststellen zu müssen. <strong>Die</strong> hier publizierten »Speyerer Vorträge« von Frau<br />

Professor<strong>in</strong> Dr. Dr. h.c. <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, von 1998 bis 2022 Inhaber<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Professur<br />

für Kirchen- <strong>und</strong> Dogmengeschichte an der Evangelisch-Theologischen<br />

Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Ma<strong>in</strong>z, von 2005 bis 2022 Direktor<strong>in</strong><br />

des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für Abendländische<br />

Religionsgeschichte,<strong>und</strong> seit April 2022 Seniorforschungsprofessor<strong>in</strong> der<br />

Ma<strong>in</strong>zer Universität <strong>und</strong> der Akademie der Wissenschaften <strong>und</strong> der Literatur |<br />

Ma<strong>in</strong>z,s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> sprechendes Gegenbeispiel: Sie stehen für das sich wechselseitig<br />

bereichernde Mite<strong>in</strong>ander von theologischer Wissenschaft <strong>und</strong> kirchlicher Praxis.<br />

<strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong> besuchte <strong>in</strong> den Jahren 2013 bis 2020 regelmäßig die Stadt<br />

der Protestation von 1529, um dort <strong>in</strong> der Bibliotheks- <strong>und</strong> Medienzentrale der<br />

Evangelischen Kirche der Pfalz, meist anknüpfend an die von der EKD vorgeschlagenen<br />

Themenjahre der <strong>Reformation</strong>sdekade, die bis heute wirksamen<br />

Potenziale der <strong>Reformation</strong> auszuloten. Darüber h<strong>in</strong>aus war für sie das <strong>in</strong> der<br />

Pfälzischen Landeskirche 2018 gefeierte Unionsjubiläumder Anlass, den Bogen<br />

bis <strong>in</strong>s 19. Jahrh<strong>und</strong>ert zu spannen, um zunächst die Religionsfriedensregelungen<br />

<strong>in</strong> der Frühen Neuzeit <strong>in</strong> den Blick zu nehmen <strong>und</strong> sodann dezidiert auf<br />

die pfälzische Konsensunion von 1818 e<strong>in</strong>zugehen.<br />

Indem<strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong> <strong>in</strong> ihrenkirchenhistorischenVorträgen streng ausden uns<br />

zugänglichen Quellen schöpft, ist sie e<strong>in</strong>erseits gegen kurzschlüssige Vere<strong>in</strong>nahmungen<br />

<strong>und</strong> Aktualisierungen gefeit. Andererseits stößt sie so doch gerade zum<br />

Wahrheitsanspruch des historischen Ereignisses vor: dass es, exemplifiziert am<br />

<strong>Reformation</strong>sgeschehen, die»konsequenteOrientierung«der Reformatoren an den<br />

»vier Kriterien« war, »die sich unter den Schlagworten ›sola scriptura‹, ›solus<br />

Christus‹, ›sola gratia‹ <strong>und</strong> ›sola fide‹ zusammenfassen lassen« – diese legten sie<br />

»ihrer Lehre<strong>und</strong> ihrerPositionimpolitischen <strong>und</strong>gesellschaftlichenMite<strong>in</strong>ander


8 Zum Geleit<br />

normgebend zugr<strong>und</strong>e« –, welche nicht nur die kirchliche Verkündigung <strong>und</strong> die<br />

Frömmigkeitdes E<strong>in</strong>zelnen, sondernauchdie Strukturen derGesellschaft, ja,»die<br />

Welt« <strong>in</strong>sgesamt, veränderte (s. u. S. 15–32). In der imGlauben an Jesus Christus<br />

alle<strong>in</strong> aus Gnade empfangenen Heilsgewissheit bestand für die Reformatoren<br />

diezentraleexistentielle Erfahrungmit demKerndes Evangeliums. Fortan sollten<br />

alle theologischen Gr<strong>und</strong>aussagen von ihm ableitbar se<strong>in</strong> <strong>und</strong> anihm gemessen<br />

werden. Damit setzte die <strong>Reformation</strong> nicht nur Maßstäbe, sondern die hier<br />

greifbare theologische Innovation, auch das machen die nun vorgelegten Studien<br />

deutlich, fordert jede Gegenwart, also auch uns heute, zueigener theologischer<br />

Verantwortung heraus, ja, ermutigt regelrecht dazu.<br />

Nicht zuletzt diese durch die geschichtliche Horizonterweiterung ermöglichte<br />

dialogische Öffnung des historischen Gegenstands sowie die Bewusstwerdung<br />

der Aufgabe, <strong>in</strong> jeder Zeit neu Rechenschaft abzulegen über die Hoffnung,<br />

die <strong>in</strong> uns ist (vgl. 1. Petrus 3,15), <strong>und</strong> also zu plausibilisieren, was unser<br />

»e<strong>in</strong>ziger Trost« ist »im Leben <strong>und</strong> im Sterben« (vgl. Frage 1des Heidelberger<br />

Katechismus), führten bei den vielen, den »Speyerer Vorträgen« Zuhörenden zu<br />

der Bitte, man möge die Beiträge <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>s publizieren, um sie noch e<strong>in</strong>mal<br />

nachlesen zu können <strong>und</strong> zugleich auch e<strong>in</strong>em weiteren Leserkreis zugänglich<br />

zu machen. Eben dieser Bitte wird mit der hier vorliegenden Veröffentlichung<br />

entsprochen.<br />

Dass die Bibliotheks-<strong>und</strong> Medienzentrale e<strong>in</strong>er Landeskirche der kongeniale<br />

Ort für das praktizierte Mite<strong>in</strong>ander von theologischer Wissenschaft <strong>und</strong><br />

kirchlichem Leben ist, leuchtet schon deshalb e<strong>in</strong>, weil hier sowohl wissenschaftlich<br />

Engagierte als auch Menschen, die auf der Suche nach Arbeitsmaterialien<br />

für die kirchliche Praxis s<strong>in</strong>d, gleichermaßen fündig werden. Dass darüber<br />

h<strong>in</strong>aus diese ausgezeichnete kirchliche Bildungse<strong>in</strong>richtung das öffentliche Forum<br />

für theologisches Nachdenken<strong>und</strong> lebendige Diskussion se<strong>in</strong> kann, das weit<br />

<strong>in</strong> die Gesellschaft h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> auszustrahlen <strong>und</strong> zu <strong>in</strong>spirieren vermag – <strong>und</strong> eben<br />

dar<strong>in</strong> Menschen ganz unterschiedlicher Provenienz zusammenführt, auch das<br />

haben die »Speyerer Vorträge«, die zumeist noch durch thematisch passgenaue<br />

Ausstellungen seitens der Bibliotheks- <strong>und</strong> Medienzentrale kreativ ergänzt<br />

wurden, s<strong>in</strong>nenfällig vor Augen geführt.<br />

So danken wir Frau Professor<strong>in</strong> <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong> sehr herzlich für ihre Bereitschaft,<br />

ihre <strong>in</strong> Speyer gehaltenen Vorträge zu veröffentlichen <strong>und</strong> wünschen<br />

diesem Buch nun <strong>in</strong>teressierte Leser<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Leser.<br />

Speyer, am Pf<strong>in</strong>gstfest 2022<br />

Dr. Traudel Himmighöfer<br />

Leiter<strong>in</strong> derBibliotheks-<strong>und</strong> Medienzentrale<br />

der Evangelischen Kirche der Pfalz<br />

(Protestantische Landeskirche)<br />

Dr. h.c. Christian Schad<br />

Kirchenpräsident i.R.<br />

Präsidentdes EvangelischenB<strong>und</strong>es


Vorwort <strong>und</strong> E<strong>in</strong>leitung<br />

<strong>Die</strong> <strong>in</strong> diesem Band versammelten Beiträge, unter denen sich drei bisher ungedruckte<br />

Studien bef<strong>in</strong>den, veranschaulichen das gestaltende <strong>und</strong> nachhaltig<br />

wirkende Potenzial der <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> spannen e<strong>in</strong>en weiten Bogen vom<br />

16. bis zum Beg<strong>in</strong>n des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Damiteröffnen sie Perspektivenauf die<br />

frühe Verbreitung reformatorischer Inhalte, auf Formen von Frömmigkeit <strong>und</strong><br />

katechetischer Unterweisung im Zuge der Etablierung der <strong>Reformation</strong> sowie<br />

auf rechtliche Neuordnung <strong>in</strong> politisch motivierten Religionsfriedensregelungen<br />

e<strong>in</strong>erseits <strong>und</strong> kirchlich ausgerichteter Union andererseits.<br />

<strong>Die</strong> Reihe beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>er gr<strong>und</strong>legenden E<strong>in</strong>ordnung der <strong>Reformation</strong><br />

<strong>und</strong> ihrer Wirkung. E<strong>in</strong> Blick auf die Anfänge zeigt, dass die <strong>Reformation</strong> zwar <strong>in</strong><br />

vielerlei H<strong>in</strong>sicht an Reformansätze anknüpfen konnte, die schon im Spätmittelalter<br />

thematisiert wurden, aber <strong>in</strong> ihrer Entfaltung – wie der Beitrag Im Umbruch<br />

der Zeiten vor Augen führt – weit darüber h<strong>in</strong>aus reichte. <strong>Die</strong> von Wittenberg<br />

<strong>und</strong> anderen europäischen Zentren der <strong>Reformation</strong> ausgesandten<br />

reformatorischen Impulse veränderten nicht nur Kirche <strong>und</strong> Frömmigkeit,<br />

sondern auch die Strukturen der Gesellschaft sowie die rechtlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Dimensionen der damaligen Lebenswelt. Manches ist bis heute prägend.–<br />

Das theologische F<strong>und</strong>ament für die von der <strong>Reformation</strong> angestoßenen <strong>und</strong><br />

beförderten Transformationen ist <strong>in</strong> den großen reformatorischen Programmschriften<br />

Mart<strong>in</strong> Luthers niedergelegt. E<strong>in</strong>e davon – wohl die <strong>in</strong> Inhalt <strong>und</strong> Rezeption<br />

herausragendste – ist die Schrift »Vonder Freiheit e<strong>in</strong>es Christenmenschen«<br />

von 1520. Ihr ist der Beitrag Freiheit <strong>und</strong> Verantwortung gewidmet. Nicht<br />

erst die Denker der Aufklärung, sondern bereits der Wittenberger Reformator<br />

entwickelte e<strong>in</strong>en Freiheitsbegriff, der hoch moderne Töne anschlug. Luther<br />

nahm den Menschen als sowohl geistliche als auch weltliche Existenz <strong>in</strong> den<br />

Blick, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spannungsverhältnis von freier Selbstbestimmung<br />

<strong>und</strong> b<strong>in</strong>dender Verantwortung für andere. <strong>Die</strong>se neue Perspektive auf den<br />

Menschen sowie se<strong>in</strong> Verhältnis zuGott <strong>und</strong> Welt leitete sich ab aus dem neuen<br />

reformatorischen Zugang zur Heiligen Schrift, die als exklusive Richtschnur für<br />

Lehre <strong>und</strong> Leben geltend gemacht wurde.– <strong>Die</strong>ser ausschließliche Rückbezug auf


12 Vorwort <strong>und</strong> E<strong>in</strong>leitung<br />

das Wort Gottes brachte zugleich die bisher <strong>in</strong> der Kirche herrschenden Autoritätsstrukturen<br />

<strong>in</strong> die Kritik. Durch die rasche Verbreitung reformatorischen<br />

Schrifttums wurde fast ganz Europa von diesen Gedanken erfasst. »Außerdem<br />

haben wir de<strong>in</strong>e Bücher nach Brabant <strong>und</strong> England geschickt …«, so berichtete der<br />

Basler Buchdrucker Johannes Froben an Mart<strong>in</strong> Luther gewandt. Aber so e<strong>in</strong>ig<br />

sich die Reformatoren <strong>in</strong> ihren theologischen Gr<strong>und</strong>sätzen waren, sovielfältig<br />

entfaltete sich die <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> den durch unterschiedliche politische <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Strukturen geprägten Regionen Europas. E<strong>in</strong> hier erstmals<br />

veröffentlichter Beitrag bietet e<strong>in</strong>en »europäischen R<strong>und</strong>gang« <strong>und</strong> beleuchtet an<br />

ausgewählten Beispielen, wie unterschiedlich sich die frühe Verbreitung reformatorischer<br />

Ideen vollzog, wie sehr Verfolgung <strong>und</strong> Untergr<strong>und</strong>existenz theologische<br />

Denkmuster <strong>und</strong> Kirchenstrukturen prägten <strong>und</strong> unter welchen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

e<strong>in</strong>elangfristige Etablierung der <strong>Reformation</strong> möglichwurde. – Nicht<br />

nur die bisherige kirchliche Lehre wurde durch die <strong>Reformation</strong> auf den Prüfstand<br />

gestellt, auch die aus ihr abgeleitete Frömmigkeitspraxis erntete Kritik. So<br />

entwickelte die <strong>Reformation</strong> e<strong>in</strong> neues, kritisches Verhältnis zum Bild. Heiligen<strong>und</strong><br />

Bilderverehrung lehnte man dezidiert ab. Zugleich aber nutzte man das Bild<br />

als effektives Kommunikationsmedium zur Verbreitung <strong>und</strong> Darstellung der<br />

reformatorischen Theologie. Dem dienten die <strong>in</strong>der Frühzeit der <strong>Reformation</strong><br />

zahlreich produzierten Flugschriften mit Darstellungen propagandistischen Inhalts.<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus bildeten Maler wie Lucas Cranach <strong>in</strong> ihren Werken reformatorischen<br />

Glauben <strong>und</strong> Lehre meisterhaft ab<strong>und</strong> förderten damit das<br />

Entstehen e<strong>in</strong>er evangelischen Frömmigkeit. Ferner ließen sich Fürsten auf<br />

Gemälden als e<strong>in</strong>flussreiche Förderer der <strong>Reformation</strong> verewigen. Der bisher<br />

ungedruckte Beitrag <strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> imBild zeigt, auf welche Weise Bilder reformatorische<br />

Inhalte vermittelten, Frömmigkeit beförderten <strong>und</strong> zuStandortbestimmung<br />

<strong>und</strong> Repräsentation beitrugen.– Charakteristisch für reformatorische<br />

Frömmigkeit wurden Kirchenlied <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>degesang. Dabei waren sie<br />

ke<strong>in</strong>eswegs Neuerf<strong>in</strong>dungen der <strong>Reformation</strong>. Neu aber waren die Inhalte <strong>und</strong><br />

die Inbrunst, mit der gesungen wurde, sowie die auf diese Weise <strong>in</strong> Gang gesetzte<br />

Rezeptionreformatorischer Theologie. Viele jener alten Lieder s<strong>in</strong>d bis heute im<br />

Gottesdienst präsent, auch wenn man deren ursprüngliche Aussage kaum noch<br />

<strong>in</strong>s Bewusstse<strong>in</strong> rückt. Der hier erstmals gedruckte Beitrag Gesungener Glaube<br />

vermittelt e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck davon, welche kollektiven <strong>und</strong> persönlichen Erfahrungen<br />

h<strong>in</strong>ter dem gesungenen Lobpreis oder der musikalisch artikulierten<br />

Klage standen. Aber nicht nur als Medium von Frömmigkeit spielte das Kirchenlied<br />

<strong>und</strong>der Gesang e<strong>in</strong>egroßeRolle,sondern auch als effektive Artikulation<br />

von Opposition <strong>und</strong> Protest.– Für die Vermittlung <strong>und</strong> Aneignung von Inhalten<br />

war das S<strong>in</strong>gen bzw. der Geme<strong>in</strong>degesang e<strong>in</strong> nichtzuunterschätzender Faktor.<br />

Wichtiger aber noch wurde dafür die Katechetik. In der Fülle der reformatorischen<br />

Katechismen s<strong>in</strong>d der Kle<strong>in</strong>e Katechismus Mart<strong>in</strong> Luthers (1529) für die<br />

lutherischen <strong>und</strong> der auf Zacharias Urs<strong>in</strong>us zurückgehende Heidelberger Kate-


Vorwort <strong>und</strong> E<strong>in</strong>leitung 13<br />

chismus (1563) für die reformierten Kirchen herausragend. Der Beitrag Den<br />

Glauben <strong>in</strong>s Leben ziehen charakterisiert den Heidelberger Katechismus als<br />

theologischen Ratgeber <strong>in</strong> persönlichen Krisensituationen, als Handbuch des<br />

Glaubens, Lehrbuch für Schule <strong>und</strong> Universität sowie bekenntnisorientierte<br />

Norm. E<strong>in</strong>e auf das Individuum zielende Didaktik, theologische Klarheit <strong>und</strong> die<br />

Def<strong>in</strong>ition des eigenen reformiert-konfessionellen Standorts zeichnen ihn aus.<br />

E<strong>in</strong>e aus den historischen Kontexten heraus abgeleitete Lesart des Heidelberger<br />

Katechismus zeigt sowohl se<strong>in</strong>e Zeitgeb<strong>und</strong>enheit als auch se<strong>in</strong>e zeitunabhängige<br />

Bedeutung.– Mit der kont<strong>in</strong>uierlichen Verbreitung der kirchenrechtlich als<br />

Häresie e<strong>in</strong>gestuften <strong>Reformation</strong>, die zudem <strong>in</strong> politische Strukturen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirkte<br />

<strong>und</strong> auch zu politischen Zwecken <strong>in</strong>strumentalisiert werden konnte,<br />

entzündete sich e<strong>in</strong> <strong>in</strong>tensives R<strong>in</strong>gen um das Recht auf ungeh<strong>in</strong>derte Religionsausübung,<br />

das nicht selten unter Waffen ausgetragen wurde. Zahlreiche<br />

militärische Konfrontationen <strong>und</strong> Religionskriege mündeten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vielfalt<br />

unterschiedlicher Religionsfriedensregelungen, die <strong>in</strong> Europa richtungweisend<br />

für die langfristige Etablierung von Religionsfreiheit <strong>und</strong> Toleranz wurden. Religionsfrieden<br />

entwickelten sich zu e<strong>in</strong>em wesentlichen Bauste<strong>in</strong> für die Konstituierung<br />

des modernen europäischen Staatswesens. Der e<strong>in</strong> Friedenszitat<br />

voranstellende Beitrag »… das Recht haben, bei Religion, Glauben, Kirchengebräuchen<br />

<strong>in</strong> Frieden zu bleiben« zeigt an vier Beispielen welch unterschiedliche<br />

Koexistenzmodelle <strong>in</strong> Religionsfriedensregelungen entwickelt wurden. <strong>Die</strong>jenigen,<br />

die nach der damaligen Häretikergesetzgebung eigentlich hätten verfolgt<br />

werden müssen, erhielten beschränkte Duldung.– <strong>Die</strong>se Konstellationen änderten<br />

sich erst Ende des 18./Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, als mit der Erklärung der<br />

Menschenrechte die Frage nach dem religiösen Ort der Wahrheit endgültig <strong>in</strong> die<br />

<strong>in</strong>dividuelle Entscheidungverwiesen wurde. Weiter aber g<strong>in</strong>g das R<strong>in</strong>gen um die<br />

E<strong>in</strong>heit der Kirche <strong>und</strong> das Bemühen um die Überw<strong>in</strong>dung von theologischen<br />

Spaltungen <strong>und</strong> Konfessionsgrenzen. <strong>Die</strong> für das 17./18. Jahrh<strong>und</strong>ert charakteristischeIrenik<br />

<strong>und</strong> die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vollzogenen Kirchenunionen s<strong>in</strong>d Teil<br />

davon. Sie werden <strong>in</strong> ihrem theologischen Anliegen <strong>und</strong> ihrer gesellschaftlichen<br />

Tragweite aber nur dann recht verständlich, wenn man die politischen Kontexte<br />

mit betrachtet, die das Streben nach konfessionellem Frieden <strong>und</strong> Wiederherstellung<br />

der E<strong>in</strong>heit beförderten. <strong>Die</strong>sen Zusammenhang versucht der Beitrag<br />

»immerfort auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit <strong>und</strong> echt religiöser Aufklärung« –<br />

Vonder pfälzischen Irenikzur Union aufzuzeigen. – Mit ihm endet der knappe, an<br />

e<strong>in</strong>zelnen, exemplarischen Studien durchgeführte Gang durch die <strong>Reformation</strong>sgeschichte<br />

<strong>in</strong> ihren vielfältigen <strong>Gestaltungen</strong> <strong>und</strong> ebenso vielfältigen, langfristigen<br />

<strong>Wirkungen</strong>. Sie sollen e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck davon vermitteln, wie dynamisch<br />

sich die Verlaufsformen theologischer Entwicklung <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit gestalteten<br />

<strong>und</strong> wie sehr sich die durch die <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> Gang gesetzten<br />

Transformationen von Kirche <strong>und</strong> Frömmigkeit, Politik <strong>und</strong> Gesellschaft e<strong>in</strong>er<br />

vere<strong>in</strong>heitlichenden Bewertung entziehen.


14 Vorwort <strong>und</strong> E<strong>in</strong>leitung<br />

<strong>Die</strong> hier abgedruckten Beiträge s<strong>in</strong>d aus Vorträgen hervorgegangen, die sich<br />

zum überwiegenden Teil an den Themenjahren der vergangenen <strong>Reformation</strong>sdekade<br />

orientieren <strong>und</strong> <strong>in</strong> den Jahren 2013 bis 2020 <strong>in</strong>der Bibliothek <strong>und</strong> Medienzentrale<br />

der Evangelischen Kirche der Pfalz <strong>in</strong> Speyer gehalten wurden. Ins<br />

Leben gerufen wurde diese Vortragsreihe durch den damaligen Kirchenpräsidenten<br />

Dr. h.c. Christian Schad, dem die Leiter<strong>in</strong> der Bibliothek <strong>und</strong> Medienzentrale,<br />

Dr. Traudel Himmighöfer, <strong>in</strong> Organisation <strong>und</strong> Ausrichtung der Vortragsabende<br />

impulsgebend <strong>und</strong> tatkräftig zur Seite stand. An beide geht me<strong>in</strong><br />

aufrichtiger Dank sowohl für die herzliche Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>in</strong>Speyer, als auch<br />

für die effektive Anregung, die Vorträge bei der Evangelischen Verlagsanstalt <strong>in</strong><br />

Leipzig zum Druck zu br<strong>in</strong>gen. Zu danken habe ich auch Frau Kirchenpräsident<strong>in</strong><br />

Dorothee Wüst <strong>und</strong> der Evangelischen Kirche der Pfalz <strong>in</strong>sgesamt für die Gewährung<br />

e<strong>in</strong>es namhaften Druckkostenzuschusses. <strong>Die</strong>s hat für die Realisierung<br />

der Publikation e<strong>in</strong>e nicht unwichtige Rolle gespielt. E<strong>in</strong> besonderer Dank<br />

geht zudem an me<strong>in</strong>e Wissenschaftliche Mitarbeiter<strong>in</strong> im Projekt Europäische<br />

Religionsfrieden Digital (EuReD)Marion Bechtold-Mayer. Sie hat me<strong>in</strong>e Beiträge<br />

nicht nur e<strong>in</strong>er kritischen Lektüre unterzogen, sondern sich vor allem – <strong>in</strong> bewährter<br />

Weise – um die verlagskonforme E<strong>in</strong>richtung der Fußnoten 1 <strong>und</strong> die<br />

Erstellung der Register gekümmert. Dass die beiden Initiatoren dieses Bandes,<br />

Dr. Christian Schad <strong>und</strong> Dr. Traudel Himmighöfer, zudem e<strong>in</strong> Geleitwort beigesteuert<br />

haben, das me<strong>in</strong>en Beiträgen den Weg zum damaligen Publikum<br />

me<strong>in</strong>er Vorträge <strong>und</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e neue Leser- <strong>und</strong> Leser<strong>in</strong>nenschaft h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> ebnet, ist<br />

mir e<strong>in</strong>e große Freude. Auch dafür danke ich von Herzen.<br />

Ma<strong>in</strong>z <strong>und</strong> Werdohl/Westf., im September 2022<br />

<strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong><br />

1<br />

<strong>Die</strong> verwendeten Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen<br />

Realenzyklopädie von Siegfried M. Schwertner, Internationales Abkürzungsverzeichnis für<br />

Theologie <strong>und</strong> Grenzgebiete, Berl<strong>in</strong>/Boston, 3. Aufl., 2016 (IATGi). <strong>Die</strong> bei Quellenangaben<br />

h<strong>in</strong>zugefügte »VD16«-Nummer bezieht sich auf die unter Führung der Bayerischen Staatsbibliothek<br />

München erstellte Nationalbibliographie »Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich<br />

erschienenen Drucke des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts«. Hier f<strong>in</strong>den sich komplette bibliographische<br />

Nachweise.


Im Umbruch der Zeiten<br />

<strong>Wirkungen</strong> der <strong>Reformation</strong> auf Theologie, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Politik*<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> war für die europäische Geschichte <strong>in</strong> jeder H<strong>in</strong>sicht e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schneidendes<br />

Ereignis. Denn sie veränderte nicht nur christliche Theologie <strong>und</strong><br />

Frömmigkeit, sondern hatte auch Auswirkungen auf die gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />

politischen Strukturen <strong>in</strong> Europa. Zudem wurdenethische Auffassungen auf e<strong>in</strong><br />

neues F<strong>und</strong>ament gestellt <strong>und</strong> rechtliche Normen neu def<strong>in</strong>iert. Aber auch schon<br />

vor der <strong>Reformation</strong> hatte es im Spätmittelalter Erneuerungsbewegungen <strong>in</strong>nerhalb<br />

der Kirche gegeben, ebensowie Kritik an herrschenden Strukturen <strong>und</strong><br />

Praktiken.<br />

So hatten z. B. die Waldenser, die Anhänger des aus Lyon stammenden<br />

Kaufmanns Petrus Valdes (ca. 1140–ca. 1218), die Rückkehr der kirchlichen<br />

Amtsträger zu apostolischer Armut gefordert <strong>und</strong> e<strong>in</strong>en starken Akzent auf<br />

Predigt <strong>und</strong> Bibelstudium gesetzt. <strong>Die</strong> Lektüre der Bibel sollte nicht nur dem<br />

Klerus vorbehalten, sondern auch den Laien gestattet se<strong>in</strong>. Heiligenverehrung,<br />

Fegefeuer <strong>und</strong> Ablass lehnten sie ab. Der lombardische Zweig der Waldenser<br />

stellte zudem die herrschende Sakramentenlehre <strong>und</strong> -praxis <strong>in</strong> Frage, sofern sie<br />

sich nicht durch das biblische Zeugnis legitimieren ließen. All dies brachte sie<br />

schnell <strong>in</strong> Häresieverdacht. 1<br />

In England traten gegen Ende des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts die Lollarden hervor, die<br />

sich auf das Wirken des Oxforder Theologieprofessors John Wyclif (1330–1384)<br />

zurückführten. Auch sie machten die Bibel, die unter ihnen <strong>in</strong> eigenen englischen<br />

Übersetzungen kursierte,zuAusgangspunkt <strong>und</strong> Maßstab von Kirchenkritik <strong>und</strong><br />

* Der Beitrag wurde zuerst <strong>in</strong> französischer Sprache veröffentlicht unter dem Titel Un<br />

monde en transition. L’<strong>in</strong>fluence de la Réformation sur la théologie, la société et la politique,<br />

<strong>in</strong>: RHPR 97 (2017), 327–347. Zugr<strong>und</strong>e lag e<strong>in</strong> Vortrag, gehalten <strong>in</strong> der Bibliothek <strong>und</strong><br />

Medienzentrale der Evangelischen Kirche der Pfalz <strong>in</strong> Speyer am 14.3.2017 unter dem Titel<br />

Im Umbruch der Zeiten – Was ist das Reformatorische an der <strong>Reformation</strong>? In der hier abgedruckten<br />

deutschen Fassung wurden <strong>in</strong> den Anmerkungen neuere Publikationen ergänzt.<br />

1<br />

Vgl. Gustav Adolf Benrath (Hrsg.), Wegbereiter der <strong>Reformation</strong>, Bremen 1967,<br />

KlProt 1, Nachdr. Wuppertal 1988, 1–24.


16 Im Umbruch der Zeiten<br />

Reformforderungen. Wyclif verstand die Kirche als Geme<strong>in</strong>schaft der Prädest<strong>in</strong>ierten,<br />

weniger als e<strong>in</strong>e hierarchisch strukturierte äußerliche Institution.<br />

Ebenso wie die Waldenser mahnten die Lollarden zu e<strong>in</strong>er »vita apostolica« der<br />

Amtsträger. ImPapst erkannten sie geradezu das Gegenbild des <strong>in</strong> Armut lebenden<br />

Christus <strong>und</strong> sahen <strong>in</strong> ihm den Antichrist schlechth<strong>in</strong>. Später äußerten<br />

sie auch Kritikander Heiligenverehrung <strong>und</strong>der Transsubstantiationslehre,d.h.<br />

der Lehre von der Wandlung der Elemente Brot <strong>und</strong> We<strong>in</strong> <strong>in</strong> Leib <strong>und</strong> BlutChristi<br />

beim Abendmahl. <strong>Die</strong>s spaltete die Bewegung allerd<strong>in</strong>gs, da nun ihr von der<br />

herrschenden Lehre abweichender, häretischer Charakter deutlich zu Tage trat.<br />

<strong>Die</strong> Lollarden verloren an Rückhalt <strong>und</strong> mussten im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert schwere<br />

Verfolgungen erleiden. Wyclifs sterbliche Überreste wurden noch 45 Jahre nach<br />

se<strong>in</strong>em Todverbrannt. 2<br />

Anders als die Waldenser <strong>und</strong> die Lollarden konnten sich die ebenfalls kirchenkritischen<br />

Hussiten – so genannt nach Jan Hus (ca. 1370–1415) – <strong>in</strong> Böhmen<br />

<strong>und</strong> Mähren sogar als e<strong>in</strong>e von Rom unabhängige Kirche etablieren. Sie praktizierten<br />

das Abendmahl »sub utraque specie«, d. h. unter beiderlei Gestalt, <strong>und</strong><br />

beriefen sich dafür auf das Zugeständnis des Laienkelchs auf dem Basler Konzil<br />

von 1433. Man nannte sie auch »Utraquisten«. Ihnen gehörte sogar die Mehrheit<br />

der Bevölkerung <strong>in</strong> Böhmen an. Wiefür Valdes <strong>und</strong> Wyclif stand auch für Hus die<br />

Heilige Schrift anerster Stelle. Gleicherweise fand sich die Armutsforderung an<br />

die Kirchebei ihm <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Anhängern sowiedie Kritikandem e<strong>in</strong>getretenen<br />

moralischen Verfall <strong>und</strong> an den päpstlichen Primatsvorstellungen. Ke<strong>in</strong> W<strong>und</strong>er,<br />

dass man Hus der Häresie bezichtigte. Im Juli 1415 wurde er während des<br />

Konstanzer Konzils auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch wenn sich die<br />

<strong>Reformation</strong> Mart<strong>in</strong> Luthers nicht aus den hussitischen Strömungen herleitete,<br />

brachte der Reformator sich <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Lehre auf der Leipziger Disputation von<br />

1519 selbst mit Jan Hus <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung. Es ist e<strong>in</strong>e Äußerung Luthers aus dem<br />

Jahre 1531 überliefert, <strong>in</strong> der er Folgendes bemerkt:»S. Johannes Hus hat von mir<br />

geweissagt, da er aus dem gefengnis ynn behemerland schreib, Sie werden itzt<br />

e<strong>in</strong>e Gans braten (denn Hus heisst e<strong>in</strong>egans) Aber vber h<strong>und</strong>ertiaren, werden sie<br />

e<strong>in</strong>en schwanen s<strong>in</strong>gen horen, Den sollen sie leiden, Da solls auch bey bleiben, ob<br />

Gott wil«. 3<br />

2<br />

Vgl. Benrath (Hrsg.), Wegbereiter der <strong>Reformation</strong>, 254–341 (s. Anm. 1); Anne Hudson,<br />

The Premature <strong>Reformation</strong>. Wycliffite Texts and Lollard History, Oxford 1988, Repr. 2002,<br />

239–246.<br />

3<br />

Mart<strong>in</strong> Luther,Glosse auf das verme<strong>in</strong>te kaiserliche Edikt (1531), <strong>in</strong>: WA 30/III, 387,6–<br />

10. <strong>Die</strong> spätere Luther-Ikonographie hat das gern aufgegriffen. Der Schwan wurde zum<br />

Emblem Luthers. Zu Hus <strong>und</strong> den Hussiten vgl. Benrath (Hrsg.), Wegbereiter der <strong>Reformation</strong><br />

(s. Anm. 1), 342–413; Joachim Bahlcke,Geschichte Tschechiens. VomMittelalter bis<br />

zur Gegenwart, München 2014, 35–39.


Im Umbruch der Zeiten 17<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> hatte also manche Kritikpunkte <strong>und</strong> Erneuerungsansätze<br />

mit spätmittelalterlichen Reformbewegungen geme<strong>in</strong>sam; auch Elemente persönlicher<br />

Frömmigkeit, wie sie die Mystik vorgeprägt hatte, setzen sich <strong>in</strong> der<br />

<strong>Reformation</strong> fort. 4 Dennoch fußt die <strong>Reformation</strong> auf gr<strong>und</strong>legenden Neuansätzen.<br />

Sie wurden befördert durch e<strong>in</strong>en veränderten Umgang mit der Heiligen<br />

Schrift, durch die Kritik an herrschenden Autoritätsstrukturen, durch die massenhafte<br />

Verbreitung reformatorischer Ideen mit Hilfe neuer Medien <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />

wirkmächtige Rezeption <strong>in</strong> allen gesellschaftlichen Schichten. <strong>Die</strong>s löste solch<br />

tiefgreifende Veränderungen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum<br />

aus, dass man der <strong>Reformation</strong> im Rückblick zu Recht e<strong>in</strong>e »epochale« Bedeutung<br />

beimisst <strong>und</strong> mit ihr die Frühe Neuzeit beg<strong>in</strong>nen sieht. Als ausschlaggebendes<br />

Datum dafür gilt das Jahr 1517, <strong>in</strong>dem Mart<strong>in</strong> Luther se<strong>in</strong>e 95 Thesen veröffentlichte.<br />

Denn sie setzten nicht nurdas Nachdenken über zentrale theologische<br />

Fragen <strong>in</strong> Gang, sondern verstärkten vor allem den Ruf nach Erneuerung von<br />

Kirche <strong>und</strong> Gesellschaft, befördert durch die rasante Verbreitung, die der Inhalt<br />

der Thesen <strong>und</strong> nachfolgende Schriften des Reformators durch den Buchdruck<br />

erfuhren. Dem standen weiterereformatorische Ansätze <strong>in</strong> Europa zur Seite, die<br />

mit den Impulsen, die um 1517von Wittenberg ausg<strong>in</strong>gen, <strong>in</strong> Interaktion traten. 5<br />

Ausschlaggebend für die Distanzierung von der überkommenen Tradition<br />

<strong>und</strong> charakteristisch für die <strong>Reformation</strong> war ihre konsequente Orientierung an<br />

vier Kriterien, diesich unter den Schlagworten »sola scriptura«, »solus Christus«,<br />

»sola gratia« <strong>und</strong> »sola fide« zusammenfassen lassen. Selbst wenn es die Reformatoren<br />

– Luther ebenso wie Zw<strong>in</strong>gli, Bucer oder Calv<strong>in</strong> – nicht explizit formulierten,solagen<br />

diese Kriterien ihrer Lehre<strong>und</strong> ihrer Position im politischen<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlichen Mite<strong>in</strong>ander normgebend zugr<strong>und</strong>e. <strong>Die</strong>s hatte natürlich<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Auswirkungen auf die kirchliche Verkündigung <strong>und</strong> die <strong>in</strong>dividuelle<br />

Frömmigkeit. Aber auch die Strukturen <strong>und</strong> Verantwortungsbereiche von<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Politik waren von den reformatorischen Positionen betroffen,<br />

wie wir später noch sehen werden. Zugleich g<strong>in</strong>g mit der Verbreitung der <strong>Reformation</strong><br />

die verme<strong>in</strong>tliche religiöse E<strong>in</strong>heit Europas <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en christlichen<br />

Kirche endgültig verloren. Langfristig entstanden die bis heute existierenden<br />

großen christlichen Konfessionen. Das war e<strong>in</strong> Prozess, der oft mit Staatsbildungsprozessen<br />

sowie mit gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Transformationen<br />

verb<strong>und</strong>en war. 6<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> war also e<strong>in</strong> <strong>in</strong>sgesamt äußerst komplexes Geschehen, bei<br />

dem zahlreiche Faktoren zusammenwirkten; e<strong>in</strong> Geschehen, das se<strong>in</strong>erseits <strong>in</strong><br />

4<br />

Vgl. dazu <strong>in</strong>sgesamt Volker Lepp<strong>in</strong>, <strong>Die</strong> fremde <strong>Reformation</strong>. Luthers mystische Wurzeln,<br />

München 2016.<br />

5<br />

Vgl. dazu <strong>in</strong>sgesamt <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong>. Zentren – Akteure – Ereignisse, Gött<strong>in</strong>gen<br />

2016.<br />

6<br />

Vgl. <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong> (s. Anm. 5), 10–12.


18 Im Umbruch der Zeiten<br />

viele Bereiche h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>wirkte. Inwiefern sie sich zu e<strong>in</strong>em Umbruchsphänomen<br />

entwickelte, wird auf folgenden drei Ebenen deutlich: Kirche <strong>und</strong> Frömmigkeit,<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Familie <strong>und</strong> schließlich Recht <strong>und</strong> Politik. 7<br />

Kirche <strong>und</strong> Frçmmigkeit<br />

Bis heute s<strong>in</strong>d Kirche <strong>und</strong> Frömmigkeit im evangelischen Raum durch die<br />

Neuansätze der <strong>Reformation</strong> bestimmt. Ausschlaggebend war Luthers Betonung<br />

der Heiligen Schrift. Sie wurde für den Reformatorzur ausschließlichen Autorität.<br />

Natürlich hatte für Luther auch zuvor die Bibel im Mittelpunkt se<strong>in</strong>er Beschäftigung<br />

gestanden. Als er z. B. im Jahre 1512 se<strong>in</strong>en Doktoreid ablegte, schwor er,<br />

die Heilige Schrift »treulich <strong>und</strong> lauter zu predigen <strong>und</strong> zu lehren«. 8 Und er<br />

begann se<strong>in</strong>e Lehrtätigkeit, die er fortan an der Universität Wittenberg, der<br />

Leucorea, versah, mit Vorlesungen über das Alte <strong>und</strong> das Neue Testament. Am<br />

Anfang stand 1513–1515 dieAuslegung der Psalmen, gefolgt 1515/1516 von der<br />

Römerbriefvorlesung. Vorerst blieb dabei das kirchliche Lehrsystem, das die<br />

Schrift unter Rückgriff auf die großen mittelalterlichen Kommentare auslegte<br />

<strong>und</strong> den sog. vierfachen Schrifts<strong>in</strong>n praktizierte, 9 noch unangetastet. Aber Luthers<br />

neuer reformatorischer Zugang deutete sich bereits an. 10 Vorallem se<strong>in</strong>e<br />

Arbeit am Römerbrief des Paulus brachte ihn dazu, scholastische Auslegungsmuster<br />

endgültig abzustreifen <strong>und</strong><strong>in</strong>erster L<strong>in</strong>ie auf die biblische Term<strong>in</strong>ologie,<br />

den eigentlichen Schrifts<strong>in</strong>n (sensus litteralis), zu hören. <strong>Die</strong>s war durch den<br />

Bibelhumanismus, den Luther während se<strong>in</strong>er Studienzeit <strong>in</strong> Erfurt kennengelernt<br />

hatte,vorbereitet. Denn der humanistische Ruf »ad fontes!«,»zurück zu den<br />

Quellen!«, bedeutete, dass man das Wort Gottes <strong>in</strong> den ältesten vorhandenen<br />

Überlieferungen wiederentdeckte <strong>und</strong> nicht mehr über die Kirchenväter <strong>und</strong><br />

großen Exegeten des Mittelalters, sozusagen aus zweiter Hand, vermittelt bekommen<br />

wollte. H<strong>in</strong>zu kam, dass Luther den Text mit Bezug zur eigenen Existenz<br />

las <strong>und</strong> verstand. Se<strong>in</strong> neues, befreiendes Verständnis von der Gerechtigkeit<br />

7<br />

Unterschiedliche Problematisierungen der Rede vom »Reformatorischen« nehmen<br />

Volker Lepp<strong>in</strong>,Wie reformatorisch war die <strong>Reformation</strong>?,<strong>in</strong>: ZThK 99 (2002), 162–176, <strong>und</strong><br />

Michael Be<strong>in</strong>tker, »Was ist das Reformatorische?« E<strong>in</strong>ige systematisch-theologische Erwägungen,<br />

<strong>in</strong>: ZThK 100 (2003), 44–63, vor.<br />

8<br />

Re<strong>in</strong>hard Schwarz, Luther, <strong>Die</strong> Kirche <strong>in</strong> ihrer Geschichte 3/I, Gött<strong>in</strong>gen 4 2004, 26.<br />

9<br />

Dahan vertritt die Position, dass es sich hauptsächlich um zwei Schrifts<strong>in</strong>ne gehandelt<br />

habe, den sensus litteralis <strong>und</strong> den sensus spiritualis. Vgl. Gilbert Dahan, L’exégèse chrétienne<br />

de la Bible en Occident médiéval. XII e –XIV e siècle, Paris 1999.<br />

10<br />

Zur theologischen Entwicklung Luthers, wie sie sich anhand se<strong>in</strong>er Vorlesungen<br />

nachvollziehen lässt, vgl. Mart<strong>in</strong> Brecht, Mart<strong>in</strong> Luther, Bd. 1: Se<strong>in</strong> Wegzur <strong>Reformation</strong>.<br />

1483–521, Stuttgart 3 2013, 129–137; Matthieu Arnold, Luther, Paris 2017, 67–74.


Kirche <strong>und</strong> Frçmmigkeit 19<br />

Gottes, das er an se<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Lektüre des Römerbriefs gewann, ist auf<br />

diese relational-existenzielle Bibelhermeneutik zurückzuführen. 11 Fortan wurde<br />

die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen alle<strong>in</strong> aus der Gerechtigkeit<br />

schenkenden Gnade Gottes heraus zum Kernstück der <strong>Reformation</strong> generell. <strong>Die</strong><br />

Heilige Schrift wurde für Luther, wie für alle Reformatoren <strong>in</strong> Europa, zur<br />

obersten <strong>und</strong> e<strong>in</strong>zigen Autorität. Auch <strong>in</strong> den 95 Thesen deutet sich dies bereits<br />

an. Zwar griffen die Thesen eigentlich weder Struktur noch Theologie der alten<br />

Kirche an, aber an e<strong>in</strong>igen Stellen f<strong>in</strong>den sich Aussagen, die auf die alle<strong>in</strong>ige <strong>und</strong><br />

höchste Autorität des Evangeliums verweisen. So heißt es z. B. <strong>in</strong> These 55: »<strong>Die</strong><br />

Me<strong>in</strong>ung des Papstes ist unbed<strong>in</strong>gt die, daß, wenn der Ablaß, der e<strong>in</strong> denkbar<br />

ger<strong>in</strong>ges Gut ist, mit e<strong>in</strong>er Glocke, mit e<strong>in</strong>er Prozession <strong>und</strong>Gottesdienst gefeiert<br />

wird, das Evangelium, das das höchste Gut ist, mit h<strong>und</strong>ertGlocken, mit h<strong>und</strong>ert<br />

Prozessionen, mit h<strong>und</strong>ert Gottesdiensten gefeiert werden soll.« 12 Oder <strong>in</strong> These<br />

62: »Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium der<br />

Herrlichkeit <strong>und</strong> Gnade Gottes.« 13 <strong>Die</strong>ser Perspektivenwechsel weg von kirchlichen<br />

Autoritäten h<strong>in</strong> zur Autorität der Bibel war zugleich e<strong>in</strong> Normenwechsel.In<br />

letzter Konsequenz bedeutete dies, dass nicht mehr die kirchliche Ämterhierarchie<br />

mit dem Papst an ihrer Spitze darüber befand, was im Leben der Kirche<br />

<strong>und</strong> des E<strong>in</strong>zelnen gelten sollte, sondern e<strong>in</strong>e historische Quelle, die Heilige<br />

Schrift, die man mit dem Wort Gottes, dem Evangelium, identifizierte.<br />

<strong>Die</strong>s rückte fortan die Predigt <strong>in</strong> den Mittelpunkt des Gottesdienstes, der bis<br />

dah<strong>in</strong> als late<strong>in</strong>ische Messe mit Schwerpunkt auf der Eucharistie gefeiert wurde.<br />

<strong>Die</strong>se Aufwertung des gesprochenen Worts g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>her mit e<strong>in</strong>er Abwertung<br />

der Riten <strong>und</strong> Zeremonien.Sie galten der <strong>Reformation</strong>, gegenüber der zentralen<br />

Verkündigung des Evangeliums, als Äußerlichkeiten, mit denen e<strong>in</strong> freier Umgang<br />

gestattet sei. Zwar erstellte Luther mit se<strong>in</strong>er Deutschen Messe relativ spät<br />

(1525/1526) e<strong>in</strong>e liturgische Neuordnung des evangelischen Gottesdienstes, 14<br />

aber die volkssprachliche Predigt hatte sich bis dah<strong>in</strong> bereits zu e<strong>in</strong>em reformatorischen<br />

Kommunikationsmedium ersten Ranges entwickelt. Während Luther<br />

<strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Ges<strong>in</strong>nungsgenossen an der kirchlich überlieferten Perikopen-<br />

11<br />

Vgl. dazu Ulrich Köpf, Luthers Römerbrief-Vorlesung (1515/16) – Historische <strong>und</strong><br />

theologische Aspekte, <strong>in</strong>: <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>/Henn<strong>in</strong>g P. Jürgens (Hrsg.), Meilenste<strong>in</strong>e der <strong>Reformation</strong>,<br />

Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Mart<strong>in</strong> Luthers, Gütersloh 2014,<br />

48–55. 253f.<br />

12<br />

Mart<strong>in</strong> Luther, Disputatio pro declaratione virtutis <strong>in</strong>dulgentiarum, <strong>in</strong>: WA 1, 229–238,<br />

hier 236,7–9. <strong>Die</strong> deutsche Übersetzung nach Kurt Aland,<strong>Die</strong> 95 Thesen Mart<strong>in</strong> Luthers <strong>und</strong><br />

die Anfänge der <strong>Reformation</strong>, Gütersloh 1983, 63.<br />

13<br />

WA 1, 236,22 f.; Aland, <strong>Die</strong> 95 Thesen (s. Anm. 12), 64.<br />

14<br />

Vgl. dazu Joachim Ott, Luthers Deutsche Messe <strong>und</strong> Ordnung Gottesdiensts (1526) –<br />

Historische, theologische <strong>und</strong> buchgeschichtliche Aspekte, <strong>in</strong>: Meilenste<strong>in</strong>e der <strong>Reformation</strong><br />

(s. Anm. 11), 218–234.


20 Im Umbruch der Zeiten<br />

ordnung festhielten, löste sich Zw<strong>in</strong>gli <strong>in</strong> Zürich auch davon. Er führte die sogenannte<br />

»lectio cont<strong>in</strong>ua«, d. h. die fortlaufende Auslegung der biblischen Bücher<br />

<strong>in</strong> den Gottesdienst e<strong>in</strong>, was man später auch <strong>in</strong> Genf praktizierte.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> hatte also e<strong>in</strong>en Perspektiven- <strong>und</strong> Autoritätenwechsel<br />

vollzogen. Nicht das Papsttum, sondern die Heilige Schriftgalt als oberste Norm.<br />

Dass sich dies auch auf die kirchlichen Strukturen auswirkte, wurde vor allem<br />

durch die Leipziger Disputation von 1519 öffentlich. 15 Eigentlich hatte die Disputation<br />

zwischen dem Ingolstädter Professor Johannes Eck <strong>und</strong> dem Wittenberger<br />

Professor Andreas Bodenste<strong>in</strong> von Karlstadt stattf<strong>in</strong>den sollen. Aber da<br />

sich die von Eck für die Disputation aufgestellten Thesen »contra novam doctr<strong>in</strong>am«,<br />

d. h. gegen die neue Lehre, richteten <strong>und</strong> damit auf die reformatorische<br />

Theologie Luthers zielten, meldete sich dieser natürlich zu Wort. Zur Debatte<br />

stand zunächst der päpstliche Primat, den Eck auf göttliches Recht zurückführte.<br />

Für Luther dagegen, der auf Christus als das Haupt der Kirche verwies, ließen<br />

sich aber weder das Papsttum noch die beanspruchte Vorrangstellung auf e<strong>in</strong> »ius<br />

div<strong>in</strong>um«, e<strong>in</strong> göttliches Recht, das ja <strong>in</strong> der Heiligen Schrift verbürgt se<strong>in</strong><br />

müsste, zurückführen. Für ihn galtensie als Produkte lediglich des menschlichen<br />

Rechts.<strong>Die</strong>se Auffassung hatte weitreichende Konsequenzen. Denn damit wurde<br />

zugleich der verpflichtende bzw. heilsrelevante Charakter zweifelhaft, den man<br />

bisher kirchlichen Geboten oder dem Gehorsam dem Papst gegenüber beigemessenhatte.<br />

Außerdem stellte dies die hierarchische Ämterstrukturder Kirche<br />

<strong>in</strong> Frage, zumal Luther auch die aus göttlichem Recht hergeleitete Höherstellung<br />

des Episkopats bestritt.Selbst der von Eck postulierten Irrtumslosigkeit der<br />

Konzilien widersprach Luther. Für ihn stand fest, dass ke<strong>in</strong>e kirchliche Instanz<br />

etwas für heilsnotwendig erklären könne, wofür e<strong>in</strong>e biblische Begründung<br />

fehlte. Luther hatte also die Autorität von Papst, Episkopat <strong>und</strong> Konzilien <strong>in</strong><br />

Zweifel gezogen <strong>und</strong> ihnen den Primat der Heiligen Schriftentgegengehalten. <strong>Die</strong><br />

wahre Kirche, d. h. die Geme<strong>in</strong>schaft der Heiligen unter dem alle<strong>in</strong>igen Haupt<br />

Christus, war <strong>in</strong> den Augen Luthers unter diesen Strukturen regelrecht <strong>in</strong> Gefangenschaft<br />

geraten.<br />

<strong>Die</strong>se Gefangenschaft betraf <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Sakramente, mit Hilfe derer<br />

die Kirchebzw. ihre Amtsträger – nach altem Verständnis – Heil vermittelten. <strong>Die</strong><br />

<strong>Reformation</strong> aber verlangte, auch das Sakramentsverständnis an der Heiligen<br />

Schriftzuüberprüfen.Luther tat dies zunächst nurvor dem Forum der Gelehrten,<br />

nämlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er late<strong>in</strong>ischen Schrift, die später zu den großen reformatorischen<br />

Programmschriften gerechnet wurde: De captivitate Babylonica ecclesiae. Prae-<br />

15<br />

Vgl. dazu <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong> (s. Anm. 5), 54–56; Arnold, Luther (s. Anm. 10), 159–<br />

164; <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Die</strong> Leipziger Disputation 1519 <strong>in</strong> ihrem historischen Kontext. Verfahren<br />

– Realisierung – Wirkung, <strong>in</strong>: Markus He<strong>in</strong>/Arm<strong>in</strong> Kohnle (Hrsg.), <strong>Die</strong> Leipziger Disputation<br />

von 1519. E<strong>in</strong> theologisches Streitgespräch <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Bedeutung für die frühe<br />

<strong>Reformation</strong>, HerChr.S 25, Leipzig 2019, 9–24.


Freiheit <strong>und</strong> Verantwortung<br />

Luthers reformatorische Gedanken <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Schriften von<br />

1520 <strong>und</strong> ihre Bedeutung f8r die Gegenwart*<br />

Vorca. 500 Jahren, im Jahr 1520, brachte Mart<strong>in</strong> Luther se<strong>in</strong>e großen reformatorischen<br />

Programmschriften heraus. E<strong>in</strong>e davon war dieSchrift Vonder Freiheit<br />

e<strong>in</strong>es Christenmenschen. Freiheit ist eigentlich zu allen Zeiten e<strong>in</strong> relevantes<br />

Thema, <strong>und</strong> so legt es sich nahe, sie rückblickendaus heutiger Perspektive erneut<br />

anzuschauen. »Alle Menschen streben nach Freiheit«, so war <strong>in</strong> der ZEIT onl<strong>in</strong>e<br />

vom März 2018zulesen. »Wenn es etwas gibt, wor<strong>in</strong> sich heute <strong>in</strong> den westlichen<br />

Gesellschaften die meisten Menschen e<strong>in</strong>ig s<strong>in</strong>d, so ist das wohl die Überzeugung,<br />

dass Individualität, Freiheit <strong>und</strong> Selbstbestimmung zu den wichtigsten<br />

Werten gehören.« 1 Zugleich ist uns Freiheit heute fast schon zu e<strong>in</strong>em selbstverständlichen<br />

Gut geworden, so dass man kaum noch darüber nachdenkt, was<br />

Freiheit eigentlich bedeutet. Aber spätestens seit im Internet jeder frei <strong>und</strong> anonym<br />

äußern kann, was er denkt, bis h<strong>in</strong> zu Hasskommentaren <strong>und</strong> verbaler<br />

Hetze, <strong>und</strong> seit die Maßnahmen zur E<strong>in</strong>dämmung der Corona-Pandemie 2020/<br />

2021 <strong>in</strong> die Freiheitsrechte aller e<strong>in</strong>greifen mussten, wird die Frage nach Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Grenzen der <strong>in</strong>dividuellen Freiheit virulent <strong>und</strong> immer dr<strong>in</strong>gender.<br />

Was heißt eigentlich »<strong>in</strong>dividuelle Freiheit« <strong>und</strong> wie weit geht sie? <strong>Die</strong> Ansichten<br />

darüber sche<strong>in</strong>en ause<strong>in</strong>ander zu gehen. Unser moderner, säkularer<br />

Freiheitsbegriff geht zwar auf die Aufklärung zurück <strong>und</strong> speist sich aus dem<br />

Denken des englischen Philosophen Thomas Hobbes (1588–1679), der Freiheit<br />

* Der Beitrag wurde zuerst <strong>in</strong> englischer Sprache veröffentlicht unter dem Titel Freedom<br />

and Responsibility. Luther’s <strong>Reformation</strong>al Th<strong>in</strong>k<strong>in</strong>g <strong>in</strong> His Treatises of 1520 and Their<br />

Significance for Today, <strong>in</strong>: Luka Ili /Mart<strong>in</strong> J. Lohrmann (Hrsg.), Teach<strong>in</strong>g <strong>Reformation</strong>.<br />

Essays <strong>in</strong> Honor of Timothy J. Wengert, Lutheran Quarterly Books, M<strong>in</strong>neapolis 2021, 18–31.<br />

Zugr<strong>und</strong>e lag e<strong>in</strong> Vortrag, gehalten <strong>in</strong> der Bibliothek <strong>und</strong> Medienzentrale der Evangelischen<br />

Kirche der Pfalz <strong>in</strong> Speyer am 3. 3.2020 unter dem Titel Freiheit <strong>und</strong> Verantwortung. Luthers<br />

reformatorische Gedanken <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Hauptschriften von 1520 <strong>und</strong> heute. <strong>Die</strong> hier abgedruckte<br />

deutsche Fassung ist e<strong>in</strong>e leicht überarbeitete Version der englischen.<br />

1<br />

Tim Reiß, Was heißt Freiheit?, <strong>in</strong>: DIE ZEIT Nr. 14/2018, URL: 27. März 2018, https://<br />

www.zeit.de/2018/14/freiheit-werte-westen-geschichte (07.06.2022).


34 Freiheit <strong>und</strong> Verantwortung<br />

als Willkürfreiheit begriff. »Frei ist, wer tun kann, was er will, <strong>und</strong> daran von<br />

anderen nicht geh<strong>in</strong>dert wird. […] Freiheit ist Unabhängigkeit von äußerlichen<br />

Zwängen.« 2 Aber bereits Mart<strong>in</strong> Luther hatte e<strong>in</strong>en Freiheitsbegriff entwickelt,<br />

der hoch moderne Töne anschlug. <strong>Die</strong>ser Freiheitsbegriff allerd<strong>in</strong>gs g<strong>in</strong>g nicht<br />

vom säkularen Menschen aus, sondern begriff den E<strong>in</strong>zelnen als geistliche <strong>und</strong><br />

zugleich weltliche Existenz, e<strong>in</strong>geb<strong>und</strong>en <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Schöpfungsordnung. Luther sah<br />

den Menschen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gestellt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Spannungsverhältnis zwischen Selbstbestimmung<br />

<strong>und</strong> Verantwortung <strong>und</strong> entwickelte se<strong>in</strong>en Freiheitsbegriff aus diesem<br />

Kontext heraus. Verantwortung aber setzt e<strong>in</strong>er als Willkür verstandenen<br />

Freiheit Grenzen. Darüber heute neu nachzudenken, ist nicht abwegig.<br />

Denn mit se<strong>in</strong>er »Entdeckung« e<strong>in</strong>es christlichen Freiheitsbegriffs gab Luther<br />

nicht nur der Theologie, sondern der europäischen Geistesgeschichte überhaupt<br />

e<strong>in</strong>en nachhaltigen Impuls, auf dem später die Aufklärung aufbauen konnte.Um<br />

zu erhellen, wie es dazu kam, dass Luther im Jahr 1520 begann, ausgerechnet<br />

über das Thema Freiheit nachzudenken, s<strong>in</strong>d die historischen Zusammenhänge<br />

heranzuziehen. Wichtig ist, zunächst e<strong>in</strong>en Blick auf 1520als Entscheidungsjahr<br />

der <strong>Reformation</strong> zuwerfen, <strong>und</strong> sodann die Freiheitsschrift <strong>in</strong>den Kontext der<br />

weiteren großen programmatischen Schriften Luthers e<strong>in</strong>zuordnen, <strong>in</strong> denen die<br />

maßgeblichen Themen der <strong>Reformation</strong> bzw. des evangelischen Glaubens verhandelt<br />

wurden. Erst vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> treten die Aussagen Luthers, die<br />

sich unter den Stichworten »Rechtfertigung als Freiheit – Freiheit als Verantwortung«<br />

zusammenfassen lassen, <strong>in</strong> ihrer nachhaltigen Tragweite recht hervor<br />

<strong>und</strong> lassen sich abschließend mit e<strong>in</strong>er kurzen Perspektive auf ihre Wirkung<br />

auch gegenwartsbezogen e<strong>in</strong>ordnen.<br />

1520 als Entscheidungsjahr der <strong>Reformation</strong><br />

Nachdem im Jahr 2017 das <strong>Reformation</strong>sjubiläum mit zahlreichen Aktivitäten<br />

gefeiert wurde, könnte der E<strong>in</strong>druck entstehen, dass dieses Jahr – 1517 – das für<br />

die <strong>Reformation</strong> eigentlich ausschlaggebende Jahr gewesensei. Das hat auch e<strong>in</strong><br />

gewisses Recht. Denn tatsächlich kann man die 95 Thesen Mart<strong>in</strong> Luthers zu<br />

Recht als Initialzündung für den im Anschluss daran sich entfaltenden reformatorischen,<br />

ganz Europa umspannenden Prozess geltend machen. 3 Das darf<br />

aber nicht darüber h<strong>in</strong>wegtäuschen, dass das Jahr 1520 e<strong>in</strong>e weitere besondere<br />

Schnittstelle <strong>in</strong> der Entwicklung der <strong>Reformation</strong> darstellte. In diesem Jahr<br />

nämlich umriss Luther mit gleich vier großen reformatorisch ausgerichteten<br />

Schriften se<strong>in</strong> gesamtes theologisches Programm: e<strong>in</strong> Programm, dessen Inhalte<br />

2<br />

So nach Reiß, ebd.<br />

3<br />

Vgl. Mart<strong>in</strong> Luther, Disputatio pro declaratione virtutis <strong>in</strong>dulgentiarum, <strong>in</strong>: WA 1,<br />

229–238.


1520 als Entscheidungsjahr der <strong>Reformation</strong> 35<br />

er Zeit se<strong>in</strong>es Lebens nicht mehr revidierte, allenfalls variierte <strong>und</strong> je nach<br />

Kontext besonders akzentuierte. Das Jahr 1520 war auch deshalb e<strong>in</strong>e Schnittstelle,<br />

weil sich die Ereignisse r<strong>und</strong> um Luthers Person zuspitzten. Nachdem<br />

der Inhalt der 95 Thesen durch Abschriften, Nachdrucke <strong>und</strong> Übersetzungen<br />

rasche <strong>und</strong> weiträumige Verbreitung erfahrenhatte,hatte der Dom<strong>in</strong>ikanerorden<br />

schon im März 1518 <strong>in</strong> Rom Anklage wegen Ketzerei gegen den aufmüpfigen<br />

Wittenberger Professor erhoben. Luther, der se<strong>in</strong>e Ideen zunächst weiterh<strong>in</strong><br />

vornehmlich im gelehrten, akademischen Milieu zur Diskussion stellte, bee<strong>in</strong>druckte<br />

dies nur wenig, denn auf der Heidelberger Disputation vom April 1518<br />

entfaltete er <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en theologischen Thesen erstmals se<strong>in</strong>e »theologia crucis«,<br />

d. h. e<strong>in</strong>e Kreuzestheologie, die die dem Menschen begegnende NiedrigkeitGottes<br />

im Gekreuzigten <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellte. 4 Gleichzeitig kam der kirchenrechtliche<br />

Prozess gegen Luther <strong>in</strong> Gang. Im Oktober 1518 wurde er zu e<strong>in</strong>em<br />

Verhör durch den päpstlichen Legaten <strong>und</strong> Kard<strong>in</strong>al Thomas de Vio aus Gaeta,<br />

genannt Cajetan, vorgeladen. <strong>Die</strong>ses Verhör fand <strong>in</strong> Augsburg statt, am Rande des<br />

dort tagenden bzw. gerade zu Ende gegangenen Reichstags. Cajetan war der<br />

gelehrteste Dom<strong>in</strong>ikaner se<strong>in</strong>er Zeit, <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Vollmachten waren weitreichend.<br />

E<strong>in</strong> päpstliches Breve vom 23. August 1518 hatte ihn ermächtigt, Luther, der als<br />

»haereticus declaratus« galt, ebenso wie se<strong>in</strong>e Anhänger mit dem Bann zu belegen<br />

<strong>und</strong> ihn unverzüglich zu fassen, gegebenenfalls mit Hilfe weltlicher Gewalt.<br />

Zugleich hatte er die Vollmacht, den Wittenberger aber auch wieder <strong>in</strong> die Kirchengeme<strong>in</strong>schaft<br />

aufzunehmen, falls dieser im Zuge des Verhörs Reue zeigen<br />

würde. <strong>Die</strong> Begegnung zwischen beiden aber verlief ergebnislos: Luther widerrief<br />

se<strong>in</strong>e Lehren nicht <strong>und</strong> bereute auch nicht. 5 Im Gegenteil: Auf der Leipziger<br />

Disputation von 1519, die ihn als Gegner des Ingolstädter Professors Johannes<br />

Eck auftreten ließ, stellte er nun sogar die Struktur der gesamten Kirche<strong>in</strong>Frage.<br />

<strong>Die</strong>s betraf die hierarchische Ämterstruktur ebenso wie den Primat des Papsttums,<br />

die Autorität der Konzilien <strong>und</strong> die Ableitung all dessen aus angeblich<br />

göttlichem Recht. 6 Ke<strong>in</strong> W<strong>und</strong>er, dass Eck die Wiederaufnahme des römischen<br />

Ketzerprozesses – der Causa Lutheri – betrieb, der durch die Kaiserwahl nach<br />

dem TodMaximilians I. Anfang 1519 <strong>in</strong>s Stocken geraten war. Erst im Januar<br />

4<br />

Vgl. dazu GerhardO.Forde,OnBe<strong>in</strong>g aTheologian of the Cross. Reflections on Luther’s<br />

Heidelberg Disputation, 1518, Grand Rapids 1997.<br />

5<br />

Zu Cajetan, vgl. Marcel Nieden,Organum Deitatis. <strong>Die</strong> Christologie des Thomas de Vio<br />

Cajetan, SMRT 62, Leiden 1997, <strong>und</strong> Gerhard Hennig, Cajetan <strong>und</strong> Luther. E<strong>in</strong> historischer<br />

Beitrag zur Begegnung von Thomismus <strong>und</strong> <strong>Reformation</strong>, AzTh.R.2 7, Stuttgart 1966.<br />

6<br />

Vgl. Markus He<strong>in</strong>/Arm<strong>in</strong> Kohnle (Hrsg.), <strong>Die</strong> Leipziger Disputation von 1519. E<strong>in</strong><br />

theologisches Streitgespräch <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Bedeutung für die frühe <strong>Reformation</strong>, HerChr.S 25,<br />

Leipzig 2019; Mickey L. Mattox/Richard J.Ser<strong>in</strong>a/Jonathan Mumme (Hrsg.), Luther at<br />

Leipzig. Mart<strong>in</strong> Luther, the Leipzig debate, and the sixteenth-century <strong>Reformation</strong>s, SMRT<br />

218, Leiden 2019.


36 Freiheit <strong>und</strong> Verantwortung<br />

1520 wurde Papst Leo X. erneut <strong>in</strong>itiativ. Nach Beratungen an der Kurie lag Ende<br />

April 1520 e<strong>in</strong> Entwurf für e<strong>in</strong>e Bulle gegen Luther vor. <strong>Die</strong>s war die sog.<br />

Bannandrohungsbulle Exsurge Dom<strong>in</strong>e, ausgefertigt am 15. Juni 1520. Sie sah<br />

u. a. die Gefangennahme Luthers <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Auslieferung nach Rom vor <strong>und</strong><br />

stellte die Vernichtung se<strong>in</strong>es gesamten Schrifttums <strong>in</strong> Aussicht, falls er <strong>und</strong><br />

se<strong>in</strong>e Anhänger nicht <strong>in</strong>nerhalb von 60 Tagen ihre Positionen widerrufen würden.<br />

7 Jetzt waren die Fronten klar, nicht nur theologisch, sondern auch juristisch,<br />

auch wenn die Exkommunikation Luthers erst mit der Bulle Decet Romanum<br />

Pontificem im Januar 1521 erfolgte. <strong>Die</strong>seZuspitzung des Konflikts mit der Kurie<br />

<strong>in</strong> Rom fiel zusammen mit Luthers Arbeit anse<strong>in</strong>en großen konzeptionellen<br />

Entwürfen e<strong>in</strong>er reformatorischen Theologie. Anders als Melanchthon oder<br />

später Calv<strong>in</strong> fasste er sie nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Dogmatik zusammen, sondern brachte<br />

sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnen Schriften <strong>in</strong> die Öffentlichkeit, die aus der jeweiligen Situation<br />

heraus entstanden <strong>und</strong> meist aktuelle Problematiken aufnahmen. <strong>Die</strong> Nachricht<br />

von dem angedrohten Bannfluch erhielt Luther, während er gerade an se<strong>in</strong>er<br />

Schrift De captivitate Babylonica ecclesiae arbeitete. Wenig später, imOktober<br />

1520, ergab sich e<strong>in</strong> letztes Mal die Gelegenheit zu vermittelnden Gesprächen<br />

zwischen den Fronten. Karl von Miltitz, Notar <strong>und</strong> Kammerjunker an der römischen<br />

Kurie <strong>und</strong> zugleich päpstlicher Nuntius, ließ es sich nicht nehmen, e<strong>in</strong>en<br />

letzten Versuch zu machen, um Luther doch noch mit dem Papst auszusöhnen,<br />

allerd<strong>in</strong>gs vergeblich. 8 Ihre Gespräche – zunächst <strong>in</strong> Liebenwerda, dann noch<br />

7<br />

Zu diesen biographischen Stationen lassen sich e<strong>in</strong>e Fülle von Luther-Biographien<br />

heranziehen. Exemplarisch genannt seien: Mart<strong>in</strong> Brecht, Mart<strong>in</strong> Luther. Se<strong>in</strong> Wegzur<br />

<strong>Reformation</strong>, 1483–1521, Stuttgart 2 1983, Berl<strong>in</strong> 1986, bes. 231–453; Re<strong>in</strong>hard Schwarz,<br />

Luther, <strong>Die</strong> Kirche <strong>in</strong> ihrer Geschichte Lfg. I,3, Gött<strong>in</strong>gen 1986, bes. 56–108, 3., durchges. <strong>und</strong><br />

korr. Aufl. Gött<strong>in</strong>gen 2004; Volker Lepp<strong>in</strong>,Mart<strong>in</strong> Luther, Gestalten des Mittelalters <strong>und</strong> der<br />

Renaissance, Darmstadt 2006, bes. 135–181; He<strong>in</strong>z Schill<strong>in</strong>g,Mart<strong>in</strong> Luther. Rebell <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Zeit des Umbruchs, München 2012, bes. 180–236. Außerdem <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong>.<br />

Zentren – Akteure – Ereignisse, Gött<strong>in</strong>gen 2016, 56–63 <strong>und</strong> dies., Vonder Freiheit e<strong>in</strong>es<br />

Christenmenschen (1520) – Historische <strong>und</strong> theologische Aspekte, <strong>in</strong>: <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>/Henn<strong>in</strong>g<br />

P. Jürgens (Hrsg.), Meilenste<strong>in</strong>e der <strong>Reformation</strong>. Schlüsseldokumente der frühen<br />

Wirksamkeit Mart<strong>in</strong> Luthers, Gütersloh 2014, 122–131. 266–269. Vgl. auch Robert Kolb,<br />

Luther’s Treatise On Christian Freedom and Its Legacy, Lanham, MD 2019.<br />

8<br />

Schon im September 1518 war Miltitz nach Kursachsen gereist, um dem Kurfürsten mit<br />

der goldenen Tugendrose e<strong>in</strong>e hohe päpstliche Auszeichnung zu überbr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> ihn zugleich<br />

dazu zu bewegen, Maßnahmen gegen Luther zu ergreifen. In diesem Zuge kam es im<br />

Januar 1519 auch zu e<strong>in</strong>er Unterredung zwischen Miltitz <strong>und</strong> Luther, um die sich kirchenrechtlich<br />

ausweitende Kontroverse auf diplomatischem Wege beizulegen. Luther erklärte<br />

sich damals bereit, nicht mehr über den Ablass zu schreiben, vorausgesetzt, dass se<strong>in</strong>e<br />

Gegner ihn auch nicht mehr attackieren würden. Vgl. dazu He<strong>in</strong>rich Theodor Flathe, Art.<br />

Karl von Miltitz, <strong>in</strong>: ADB Bd. 21, 1885, 759–760; Hans-Günther Leder, Ausgleich mit dem<br />

Papst?Luthers Haltung <strong>in</strong> den Verhandlungen mit Miltitz 1520, Berl<strong>in</strong> 1969 =Stuttgart 1969;


1520 als Entscheidungsjahr der <strong>Reformation</strong> 37<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Lichtenburg – veranlassten Luther, e<strong>in</strong>en Brief anPapst Leo X. zu<br />

schreiben. Er hatte ihn sowohl auf Late<strong>in</strong> als auch auf Deutsch abgefasst, was<br />

deutlich macht, dass er die nicht akademische Öffentlichkeit gezielt <strong>in</strong> diesen<br />

Austausch e<strong>in</strong>beziehen wollte. In diesem Sendbrief 9 sicherte Luther zu, künftig<br />

schweigen zu wollen, sofern se<strong>in</strong>e Gegner,die ihn <strong>in</strong> Rom der Ketzerei bezichtigt<br />

hatten, ebenfalls schweigen <strong>und</strong> nichts mehr gegen ihn unternehmen würden.<br />

Beigelegt hatte der mit Gefangensetzung Bedrohtese<strong>in</strong>en Traktat Vonder Freiheit<br />

e<strong>in</strong>es Christenmenschen. <strong>Die</strong> hier entfalteten 30 Thesen waren e<strong>in</strong>e Reaktion auf<br />

die Bannandrohungsbulle, die dem Reformator <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Anhängern Fesseln<br />

anlegen <strong>und</strong> ihre Lehre e<strong>in</strong>dämmen wollte. <strong>Die</strong> Thesen postulierten dagegen<br />

Freiheit: Freiheit von kirchenrechtlichen Zwängen <strong>und</strong> Freiheit für Glauben<br />

<strong>und</strong> Leben. Das änderte allerd<strong>in</strong>gs nichts daran, dass die Bannandrohungsbulle<br />

weitere Verbreitung fand, wenn auch nicht <strong>in</strong> allen Regionen des damaligen<br />

Reichs. Luther glaubte, dar<strong>in</strong> den Antichrist am Werke zu sehen, was ihn dazu<br />

provozierte, <strong>in</strong>zwei Streitschriften, ebenfalls aus dem Jahr 1520, das Papsttum<br />

mit dem Antichrist zu identifizieren. 10 Außerdem appellierte er noch im November<br />

1520, kurz vor Ablauf der <strong>in</strong> der Bulle genannten offiziellen Widerrufsfrist,<br />

an e<strong>in</strong> christliches, der Heiligen Schrift verpflichtetes Konzil <strong>und</strong> bat<br />

Kaiser, Fürsten <strong>und</strong> Städte des Reichs um Unterstützung, da er sich bisher nicht<br />

vor unparteiischen Richtern habe verantworten können.<br />

Das Jahr 1520 war also e<strong>in</strong> ausgesprochen turbulentes <strong>und</strong> zugleich theologisch<br />

produktives Jahr. Kirchenrechtlich waren die Wege zur Exkommunikation<br />

Luthers geebnet worden; die Konfrontation brachte Luther dazu, die seit<br />

dem Spätmittelalter herrschenden Antichristvorstellungen auf das Papsttum zu<br />

übertragen, 11 <strong>und</strong> zugleich formulierte er <strong>in</strong> deutschen <strong>und</strong> late<strong>in</strong>ischen Schriften<br />

die gr<strong>und</strong>legenden Lehren der <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> prägnanter <strong>und</strong>e<strong>in</strong>prägsamer<br />

Weise.<br />

Arm<strong>in</strong> Kohnle,Reichstag <strong>und</strong> <strong>Reformation</strong>. Kaiserliche <strong>und</strong> ständische Religionspolitik von<br />

den Anfängen der Causa Lutheri bis zum Nürnberger Religionsfrieden, QFRG 72, Gütersloh<br />

2001, 31–41.<br />

9<br />

Vgl. WA 7, 3–11 <strong>und</strong> 42–49.<br />

10<br />

Vgl. Mart<strong>in</strong> Luther,Adversus execrabilem Antichristi bullam, <strong>in</strong>: WA 6, 597–612, <strong>und</strong><br />

ders., Wider die Bulle des Endchrists, <strong>in</strong>: WA 6, 614–629.<br />

11<br />

Zur Entwicklung von Luthers E<strong>in</strong>schätzung des Papsttums vgl. Scott H. Hendrix,Luther<br />

and the Papacy. Stages <strong>in</strong> a<strong>Reformation</strong> Conflict, Philadelphia 1981.


»Außerdem haben wir de<strong>in</strong>e<br />

BAcher nach Brabant <strong>und</strong> England<br />

geschickt ...«<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> Europa –Ausbreitung, Verfolgung,<br />

Etablierung*<br />

Auch wenn wesentliche Impulse der <strong>Reformation</strong> von Wittenberg ausg<strong>in</strong>gen,<br />

so war diese umfassende Erneuerungsbewegung doch »ke<strong>in</strong> lokal begrenztes<br />

Ereignis«. Auch an anderen Orten Europas entstanden reformatorische Strömungen<br />

mit überregionalerAusstrahlung. Langfristig entfaltete die <strong>Reformation</strong><br />

sogar e<strong>in</strong>e globale Dimension. 1 In diesem Beitrag soll es aber weniger um die<br />

Weltwirkungen der <strong>Reformation</strong> gehen, als vielmehr – etwas bescheidener – um<br />

ihre Wirkung im europäischen Raum. Denn mit Ausnahme der südeuropäischen<br />

Länder <strong>und</strong> Russlands wurde ganz Europa schon früh von der <strong>Reformation</strong> erfasst.<br />

<strong>Die</strong> Rezeption reformatorischen Gedankenguts, das nicht nur von Wittenberg,<br />

sondern auch von Straßburg, Zürich oder Genf ausgehend Europa<br />

eroberte, vollzog sich meist auf der Gr<strong>und</strong>lage bereits vorhandener spätmittelalterlich-reformerischer<br />

Strömungen oder aufbauend auf e<strong>in</strong>er humanistischkirchenkritischen<br />

Basis. Dort, wo reformatorische Impulse auf e<strong>in</strong> solches Substrat<br />

oder F<strong>und</strong>ament stießen, konnte sich die <strong>Reformation</strong> nachhaltigetablieren<br />

* <strong>Die</strong>sem Beitrag liegt e<strong>in</strong> Vortrag zugr<strong>und</strong>e, gehalten <strong>in</strong> der Bibliothek <strong>und</strong> Medienzentrale<br />

der Evangelischen Kirche der Pfalz <strong>in</strong> Speyer am 18. 3.2016. Er wurde für den Abdruck<br />

<strong>in</strong> diesem Band leicht überarbeitet, verläuftaber <strong>in</strong> manchen Passagen parallel zu me<strong>in</strong>er im<br />

selben Jahr publizierten Monographie: <strong>Reformation</strong>. Zentren – Akteure – Ereignisse, Gött<strong>in</strong>gen<br />

2016.<br />

1<br />

Am 31. Oktober des Jahres 2015 wurde <strong>in</strong> Strasbourg das Themenjahr 2016 »<strong>Reformation</strong><br />

<strong>und</strong> die E<strong>in</strong>e Welt« eröffnet. <strong>Die</strong>ses Themenjahr der <strong>Reformation</strong>sdekade rückte, wie<br />

es auf der Website Luther2017 hieß, »die globale Dimension der <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> den Mittelpunkt.<br />

Obwohl Mart<strong>in</strong> Luther nicht die ganze Welt bereiste <strong>und</strong> se<strong>in</strong>e Thesen sicherlich<br />

nicht an jede Kirchentür geschlagen hat, war die <strong>Reformation</strong> ke<strong>in</strong> lokal begrenztes Ereignis.<br />

Im Gegenteil: Wenn auch der entscheidende Impuls von Wittenberg ausg<strong>in</strong>g, so gab es <strong>in</strong><br />

anderen Städten <strong>und</strong> Regionen Europas gleichfalls eigene reformatorische Bewegungen …«.<br />

Vgl. <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> die E<strong>in</strong>e Welt. Themenjahr 2016, URL: http://www.luther2017.de/de/<br />

2017/lutherdekade/themenjahr-2016/ (31.01.2016). Vgl. https://www.reformation-<strong>und</strong>-diee<strong>in</strong>e-welt.de/das-themenjahr/<br />

(12.06.2022).


50 »Außerdem haben wir de<strong>in</strong>e B8cher nach Brabant geschickt ...«<br />

<strong>und</strong> <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit den vorhandenen Strömungen e<strong>in</strong> spezifisches theologisches<br />

Profil ausprägen. 2 <strong>Die</strong>s im E<strong>in</strong>zelnen abzuschreiten würde bedeuten,<br />

jeweils unterschiedliche <strong>Reformation</strong>sgeschichten zu schreiben, was an dieser<br />

Stelle natürlich nicht erfolgen kann. Aber auch wenn sich der europäische Raum<br />

mit se<strong>in</strong>en verschiedenen reformatorischen Ansätzen <strong>und</strong> Ausprägungen nicht<br />

vollständig ausleuchten lässt, so kann doch <strong>in</strong> der Betrachtung entscheidender<br />

Schnittstellen e<strong>in</strong> erster Überblick über die <strong>Reformation</strong>sgeschichte Europas<br />

<strong>in</strong> ihrer Vielfalt <strong>und</strong> ihren regionalen Besonderheiten entstehen. Dazu legt sich<br />

e<strong>in</strong> Zugang unter drei Perspektiven nahe, die zugleich verschiedene Entwicklungsstadien<br />

der <strong>Reformation</strong> ankl<strong>in</strong>gen lassen: Ausbreitung – Verfolgung <strong>und</strong><br />

Aneignung – Etablierung.<br />

<strong>Die</strong> Ausbreitung der <strong>Reformation</strong><br />

Dass die <strong>Reformation</strong> ke<strong>in</strong> »lokal begrenztes Ereignis« war, 3 zeigt sich alle<strong>in</strong><br />

schon daran, dass sich neben Wittenberg auch andere Zentren etablierten, die<br />

entscheidend zur Verbreitung reformatorischen Gedankengutes beitrugen. Zürich,<br />

Straßburg <strong>und</strong> mehr noch Genf entwickelten e<strong>in</strong>e erhebliche Strahlkraft <strong>in</strong><br />

alle Himmelsrichtungen Europas. Hier wirkten mit Huldrych Zw<strong>in</strong>gli <strong>und</strong> später<br />

He<strong>in</strong>richBull<strong>in</strong>ger, mit Mart<strong>in</strong> Bucer <strong>und</strong> Johann Sturm, mit Johannes Calv<strong>in</strong><br />

<strong>und</strong> Theodor Beza herausragende Gelehrte, die alle <strong>in</strong> der e<strong>in</strong>en oder anderen<br />

Weise mit der Theologie Luthers <strong>und</strong> des Wittenberger Reformatorennetzwerks<br />

<strong>in</strong> Berührung gekommen waren. Wenn dies nicht über persönliche Begegnungen<br />

geschah,wie etwa bei Mart<strong>in</strong> Bucer, der als Zuhörer an Luthers Heidelberger<br />

Disputation im April 1518 teilgenommen hatte, 4 dann über die Lektüre von<br />

Luthers reformatorischen Schriften, die z.T.<strong>in</strong>sozahlreichen Auflagen <strong>und</strong><br />

Nachdrucken publiziert wurden, 5 dass e<strong>in</strong> heutiger Autor nur davon träumen<br />

kann. Bestes Beispiel für diese Druckoffensive ist der Sermon von Ablass <strong>und</strong><br />

Gnade, der den Inhalt der für e<strong>in</strong>e Disputation unter Gelehrten konzipierten<br />

95 Thesen für das e<strong>in</strong>fache Volk aufbereitete <strong>und</strong> über den Umfang e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en<br />

Flugschrift nicht h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>g. Der erste Druck erfolgte im März/April 1518<br />

bei Johann Rhau-Grunenberg <strong>in</strong> Wittenberg, dem ersten Drucker, der Luther-<br />

Schriften unter die Presse nahm. In dieser Offiz<strong>in</strong> wurden noch im selben Jahr<br />

(1518) drei weitere Ausgaben hergestellt, die während der Druckvorgänge kle<strong>in</strong>e<br />

2<br />

Vgl. <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>,<strong>Reformation</strong>.Zentren – Akteure – Ereignisse,Gött<strong>in</strong>gen 2016,251–276.<br />

3<br />

Vgl. die Verlautbarung zum Themenjahr 2016, o. Anm. 1.<br />

4<br />

Vgl. <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong> (s. Anm. 2), 53.<br />

5<br />

Vgl. dazu Andrew Pettegree, Brand Luther. 1517, Pr<strong>in</strong>t<strong>in</strong>g and the Mak<strong>in</strong>g of the <strong>Reformation</strong>,<br />

New York 2015.


<strong>Die</strong> Ausbreitung der <strong>Reformation</strong> 51<br />

Verbesserungen erfuhren. <strong>Die</strong>s war die Initialzündung für e<strong>in</strong>e flächendeckende<br />

Verbreitung, die sich über die diversen verbesserten Auflagen <strong>und</strong> Druckorte<br />

nachverfolgen lässt. Ebenfalls für 1518 s<strong>in</strong>d zehn zusätzliche Nachdrucke<br />

nachweisbar, die aus Druckeroffiz<strong>in</strong>en stammen, die <strong>in</strong> Leipzig, Nürnberg,<br />

Augsburg <strong>und</strong> Basel arbeiteten. Fünf weitere Nachdrucke <strong>in</strong>Leipzig, Basel <strong>und</strong><br />

Breslau datieren aus dem Jahr 1519, <strong>und</strong> im Jahr 1520 folgten noch e<strong>in</strong>mal vier,<br />

die von Druckern <strong>in</strong> Leipzig, Augsburg <strong>und</strong> wieder Wittenberg <strong>in</strong>s Werk gesetzt<br />

wurden. H<strong>in</strong>zu kommen e<strong>in</strong>e schon 1518 hergestellte Übersetzung <strong>in</strong>s Niederdeutsche,<br />

gedruckt bei Hans Dorn <strong>in</strong> Braunschweig, <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Übersetzung <strong>in</strong>s<br />

Late<strong>in</strong>ische, die damalige <strong>in</strong>ternationale Hauptverkehrssprache. 6 In den Jahren<br />

1518 <strong>und</strong> 1519 seien – so Andrew Pettegree – 25 late<strong>in</strong>ische <strong>und</strong> 20 deutsche<br />

Schriften Luthers <strong>in</strong> <strong>in</strong>sgesamt 291 Auflagen erschienen. 7 Nicht jede reformatorische<br />

Schrift Luthers hat so schnell e<strong>in</strong>en solch hohen Multiplikations- <strong>und</strong><br />

Verbreitungsgrad erfahren, wobei, <strong>in</strong> langfristiger Perspektive gesehen, die<br />

Schriften Philipp Melanchthons sicherlich geographisch breiter <strong>und</strong>nachhaltiger<br />

wirkten als jene se<strong>in</strong>es Fre<strong>und</strong>es <strong>und</strong> Kollegen. Auch die Institutio Christianae<br />

Religionis Calv<strong>in</strong>s rangiert <strong>in</strong> der Hitliste <strong>in</strong>ternationaler Verbreitung sehr weit<br />

oben. Wichtig für unseren Zusammenhang aber ist zu sehen, wie schnell – gestützt<br />

durch das Medium des Buchdrucks – e<strong>in</strong>e europäische Verbreitung des<br />

reformatorischen Gedankenguts e<strong>in</strong>setzte. Dass diese auch die Grenzen des<br />

damaligen Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation überschritt, belegt e<strong>in</strong><br />

Brief des Basler BuchdruckersJohannes Froben an Luther vom 14. Februar 1519.<br />

Froben berichtete dar<strong>in</strong>, dass er durch den Leipziger Buchhändler Blasius Salomon<br />

mehrere Schriften des Wittenberger Reformatorserhalten<strong>und</strong> sie allesamt<br />

schnell nachgedruckt habe. »Sechsh<strong>und</strong>ert Exemplare haben wir nach Frankreich<br />

geschickt <strong>und</strong> nach Spanien«, so teilte Froben Luther mit, »nun werden sie<br />

zu Paris verkauft <strong>und</strong> von Professoren der Sorbonne gelesen <strong>und</strong> gebilligt […].<br />

Auch hat Calvus, der Buchhändler zu Pavia, e<strong>in</strong> sehr gebildeter <strong>und</strong> der Gelehrsamkeit<br />

zugetaner Mann, e<strong>in</strong> gut Teil solcher Büchle<strong>in</strong> nach Italien h<strong>in</strong>abgeschafft,<br />

um sie <strong>in</strong> allen Städten auszustreuen. […] Außerdem haben wir de<strong>in</strong>e<br />

Bücher«, so richtete er das Wort an Luther, »nach Brabant <strong>und</strong> England geschickt.<br />

[…] Unsere Exemplare s<strong>in</strong>d bis auf zehn alle verkauft; e<strong>in</strong>en glücklicheren<br />

Verkauf haben wir noch niemals bei irgende<strong>in</strong>em Buche erlebt«. 8 Reformatori-<br />

6<br />

Vgl. Claud<strong>in</strong>e Moul<strong>in</strong>, E<strong>in</strong> Sermon von Ablass <strong>und</strong> Gnade (1518) – Materialität: Dynamik<br />

<strong>und</strong> Transformation, <strong>in</strong>: <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>/Henn<strong>in</strong>g P. Jürgens (Hrsg.), Meilenste<strong>in</strong>e der<br />

<strong>Reformation</strong>. Schlüsseldokumente der frühen Wirksamkeit Luthers, Gütersloh 2014, 113–<br />

119. 265f.<br />

7<br />

Vgl. Pettegree, Brand Luther (s. Anm. 3), 23.<br />

8<br />

Johannes Froben an Luther, Basel, 14. Februar 1519, <strong>in</strong>: WA.B 1, Nr. 146, 331–335; das<br />

Zitat S. 332,4–333,37: »Sexcentos <strong>in</strong> Galliam misimus et <strong>in</strong> Hispaniam, venduntur Parisiis,<br />

leguntur etiam aSorbonicis et probantur […] Calvus quoque bibliopola Papiensis, vir eru-


52 »Außerdem haben wir de<strong>in</strong>e B8cher nach Brabant geschickt ...«<br />

sche Ideen waren auf dem Wege, sich zu e<strong>in</strong>em Verkaufsschlager zu entwickeln,<br />

<strong>und</strong> die Drucker wussten dies auch unter ökonomischem Gesichtspunkt zu<br />

nutzen. 9 <strong>Die</strong> Verbreitung blieb ke<strong>in</strong>eswegs auf den deutschen Sprachraum beschränkt.<br />

Der Brief des Basler Buchdruckers Froben belegt, dass bereits vor 1520<br />

e<strong>in</strong>e europäische Rezeption der von Luther <strong>und</strong> Wittenberg ausgehenden <strong>Reformation</strong><br />

begann. <strong>Die</strong>se Entwicklung wurde durch die 1520 erschienenen reformatorischen<br />

Programmschriften Luthers, die Schrift An den christlichen Adel<br />

deutscher Nation, die Abhandlung De captivitate Babylonica ecclesiae <strong>und</strong> vor<br />

allem durch den Traktat Vonder Freiheite<strong>in</strong>es Christenmenschen noch verstärkt. 10<br />

Vorallem die Freiheitsschrift erfuhr durch Übersetzungen <strong>in</strong> verschiedene europäische<br />

Volkssprachen e<strong>in</strong>e hohe Aufmerksamkeit. 11 <strong>Die</strong>ser Trend wurde allerd<strong>in</strong>gs<br />

durch die Veröffentlichung der Bannbulle Decet Pontificem Romanum<br />

vom 3. Januar 1521 <strong>und</strong> des Wormser Edikts aus demselben Jahr modifiziert.<br />

Zwar trugen sie dazu bei, auf den nunmit Kirchenbann <strong>und</strong> Reichsacht belegten<br />

Wittenberger Mönch aufmerksam <strong>und</strong> ihn allseits bekannt zumachen, aber sie<br />

unterbrachen die bis dah<strong>in</strong> überwiegend positive Rezeption der reformatorischen<br />

Ideen Luthers. Denn nun hatten sich sowohl die römische Kirche als auch der<br />

Kaiser, die maßgebliche politische Macht im Reich, von der <strong>Reformation</strong>sbewegung<br />

distanziert <strong>und</strong> rechtliche Schritte gegen deren Urheber, se<strong>in</strong>e Anhänger,<br />

ihre Kirchenkritik <strong>und</strong> alle begonnenen Veränderungen <strong>in</strong> Lehre <strong>und</strong> Praxis<br />

e<strong>in</strong>geleitet. Nun war es nicht mehr möglich, dievon Wittenberg ausgehenden <strong>und</strong><br />

auch andernorts durchgeführten reformatorischen Veränderungen <strong>in</strong> den allgeme<strong>in</strong>en<br />

kirchenkritischen Geist e<strong>in</strong>zuordnen, der sich schon im Spätmittelalter<br />

auf den Reichstagen <strong>in</strong> Form von Gravam<strong>in</strong>a oder sodann <strong>in</strong> den reformerischen<br />

Initiativen des Humanismus geäußert hatte. Denn mit der Bannbulle <strong>und</strong><br />

der mit dem Wormser Edikt verhängten Acht war Luthers Lehre als Häresie<br />

gebrandmarkt <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e scharfe Abgrenzung vollzogen worden. Nun wurden<br />

mancherorts drastische Maßnahmen gegen die <strong>Reformation</strong> <strong>und</strong> ihre jeweiligen<br />

dissimus et Musis sacer, bonam lobellorum partem <strong>in</strong> Italiam deportavit, per omnes civitates<br />

sparsurus […] Praeterea libellos tuos <strong>in</strong> Brabantiam et Angliam misimus. […] Exemplaria<br />

nostra nos usque ad decem vendidimus omnia, haud feliciorem venditionem <strong>in</strong> aliquo libro<br />

sumus unquam experti.« Vgl. auch <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, Luther <strong>und</strong> Europa, <strong>in</strong>: Albrecht Beutel<br />

(Hrsg.), Luther Handbuch, Tüb<strong>in</strong>gen i2017, 240–252, bes. 240.<br />

9<br />

Vgl. Pettegree,Brand Luther (s. Anm. 3), 24: »Luther was atheologian of great <strong>in</strong>sight, a<br />

charismatic leader and preacher, awriter of great passion and skill. But he was also, without<br />

any doubt, the chief motor of the Wittenberg economy. Noth<strong>in</strong>g else could have this small,<br />

peripheral city <strong>in</strong>to the pr<strong>in</strong>t capital of Gutenberg’s homeland; but this, for aro<strong>und</strong> eighty<br />

years after 1517, was Wittenberg’s unlikely fate«.<br />

10<br />

Vgl. WA 6, 381–469; WA 6, 484–573 <strong>und</strong> WA 7, 12–38. 39–73.<br />

11<br />

Vgl. Henn<strong>in</strong>g P. Jürgens, Von der Freiheit e<strong>in</strong>es Christenmenschen (1520) – Zur<br />

Druckgeschichte, <strong>in</strong>: <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>/Jürgens (Hrsg.), Meilenste<strong>in</strong>e (s. Anm. 6), 132–138. 269 f.


Verfolgung <strong>und</strong> Aneignung der <strong>Reformation</strong> 53<br />

Akteure ergriffen. Dazu gehörten Bücherverbote <strong>und</strong> Bücherverbrennungen,<br />

die zwar spektakulär waren, aber die Ausbreitung der reformatorischen Ideen<br />

kaum verh<strong>in</strong>derten. Schon im Anschluss an das Bekanntwerden der Bannandrohungsbulle<br />

Exsurge Dom<strong>in</strong>e, die am 15. Juni 1520 ausgefertigt worden war,<br />

kam es zu solchen Verbrennungen reformatorischer Bücher z. B. <strong>in</strong> der Stadt<br />

Cambridge, die zusammen mit Oxford <strong>und</strong> London für die Verbreitung der <strong>Reformation</strong><br />

<strong>in</strong> England e<strong>in</strong>e wichtige Rolle spielte. Im Oktober 1520 wanderten<br />

ebenfalls im niederländischen Löwen <strong>und</strong> <strong>in</strong> LüttichSchriften Luthers <strong>in</strong>s Feuer.<br />

Als es im Jahre 1521 <strong>in</strong>Thorn <strong>in</strong> Polen zu e<strong>in</strong>er öffentlichen Verbrennung von<br />

Luther-Schriften durch den päpstlichen Legaten kam, reagierten die Bürger allerd<strong>in</strong>gs<br />

mit Ste<strong>in</strong>würfen. Dennoch: Langfristig konnte sich die <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong><br />

Polen nicht behaupten. 12<br />

Verfolgung <strong>und</strong> Aneignung der <strong>Reformation</strong> –<br />

europEische Entwicklungen<br />

Während sich die <strong>Reformation</strong> im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation<br />

unter dem Schutz vieler Landesherren <strong>und</strong> Städte, die sich im Schmalkaldischen<br />

B<strong>und</strong> zur Verteidigung ihrer reformatorischen Interessen zusammengeschlossen<br />

hatten, zunächst nahezu ungeh<strong>in</strong>dert entfalten konnte, verhielt sich dies<br />

<strong>in</strong> Ländern, die unter der Oberhoheit starker, zentral regierender Obrigkeiten<br />

standen, anders. E<strong>in</strong> Blick auf die verschiedenen europäischen Regionen macht<br />

deutlich, wie sehr der Erfolg der <strong>Reformation</strong> e<strong>in</strong>erseits von e<strong>in</strong>er bereits vorhandenen<br />

reformerischen Stimmung <strong>und</strong> andererseits von den politischen Bed<strong>in</strong>gungen<br />

abhängig war.<br />

In den Niederlanden, das zu den habsburgischen Erblanden gehörte, hatte<br />

die Devotio moderna <strong>und</strong> der von Erasmus von Rotterdam beförderte Humanismus<br />

den Wegfür die <strong>Reformation</strong> bereitet, auch wenn sich Erasmus letzten<br />

Endes entschieden von Luther <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er Theologie abgrenzte. 13 Aber der August<strong>in</strong>er-Eremiten-Orden,<br />

dem Luther ursprünglich angehört hatte, vor allem<br />

der Prior des zur sächsischen Kongregation gehörenden August<strong>in</strong>erklosters <strong>in</strong><br />

Antwerpen (Jacobus Praepositus), sorgte dafür, dass ausgewählte Luther-<br />

12<br />

Vgl. <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong> (s. Anm. 2), 257–260. Zur <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> Polen vgl. Janusz<br />

Ma ek, Opera Selecta, Bd. 1: Polen <strong>und</strong> Preußen vom 15. bis zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Bestandsaufnahme<br />

<strong>und</strong> Perspektiven, Toru 2011, 235–371.<br />

13<br />

Das Folgende wie <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, <strong>Reformation</strong> (s. Anm. 2), 251–253. Zu Erasmus <strong>und</strong> se<strong>in</strong>er<br />

Haltung Luther gegenüber vgl. Ernst-Wilhelm Kohls, Luther oder Erasmus. Luthers<br />

Theologie <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Erasmus, 2Bde., Basel 1972 <strong>und</strong> 1978; Volker<br />

Lepp<strong>in</strong>, Luther <strong>und</strong> der Humanismus, Jacob-Burckhardt-Gespräche auf Castelen 35, Basel<br />

2019.


<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> im Bild<br />

Propaganda –Frçmmigkeit –Repr=sentation*<br />

<strong>Die</strong> Frage der Bedeutung der Bilder <strong>und</strong> des Umgangs mit ihnen durchzieht alle<br />

Epochen der Kirchengeschichte. Immerwieder gabesbilderfre<strong>und</strong>liche <strong>und</strong> auch<br />

bilderfe<strong>in</strong>dliche, ikonoklastische Tendenzen. Vonentscheidender <strong>und</strong> nachhaltiger<br />

Bedeutung für die Bilderlehre der Kirche <strong>und</strong>die Haltung der Gläubigen zu<br />

den Bildernwurde das VII. Ökumenische Konzilvon Nizäa 787.Esbeendete den<br />

byzant<strong>in</strong>ischen Bilderstreit. In se<strong>in</strong>em Abschied, dem sogenannten »Horos«,<br />

wurde zur Frage der Bilder Folgendes festgehalten: »Wir beschließen mit aller<br />

Sorgfalt <strong>und</strong> Übere<strong>in</strong>stimmung, daß wie der Typos des ehrwürdigen <strong>und</strong> lebendigmachenden<br />

Kreuzes auch die heiligen Bilder angebracht werden sollen,<br />

mögen sie aus Farbe, aus Ste<strong>in</strong> oder sonste<strong>in</strong>em zweckentsprechenden Material<br />

se<strong>in</strong>, <strong>und</strong> zwar <strong>in</strong> den heiligen Kirchen Gottes, auf den heiligen Gefäßen <strong>und</strong><br />

Gewändern, auf Wänden <strong>und</strong> Tafeln, an Häusern <strong>und</strong> an Wegen, nämlich das Bild<br />

unseres Herrn <strong>und</strong>Gottes<strong>und</strong> Erlösers Jesus Christus, das unserer unbefleckten<br />

Herr<strong>in</strong>, der Gottesgebärer<strong>in</strong> [d. h. Marias],sowie der ehrwürdigen Engel <strong>und</strong> aller<br />

heiligen <strong>und</strong> frommen Menschen. Denn je länger man sie <strong>in</strong> den Bildern anschaut,<br />

desto mehr werden die Betrachter zur Er<strong>in</strong>nerung an die Urbilder <strong>und</strong><br />

zum sehnsüchtigen Verlangen nach ihnen angeregt <strong>und</strong> auch dazu, ihnen ihren<br />

Gruß <strong>und</strong> ihre Verehrung zu widmen, nicht die eigentliche Latreia [d. h. Anbetung,<br />

anbetende Verehrung], die alle<strong>in</strong> der göttlichen Natur zusteht, sondern<br />

daß sie ihnen wie dem Typos des ehrwürdigen <strong>und</strong> lebenspendenden Kreuzes,<br />

wie den heiligen Evangelien <strong>und</strong> den anderen gottesdienstlichen Gegenständen<br />

Weihrauch <strong>und</strong> Lichter zu ihrer Verehrung darbr<strong>in</strong>gen. So war es doch schon bei<br />

den Alten frommeGewohnheit; denn dieEhre, die man dem Bild erweist, geht auf<br />

das Urbild über, <strong>und</strong> wer e<strong>in</strong> Bild verehrt, verehrt die dar<strong>in</strong> dargestellte Hypostase<br />

[d. h. das dar<strong>in</strong> abgebildete Wesen, die wahre Wirklichkeit des Darge-<br />

* <strong>Die</strong>sem Beitrag liegt e<strong>in</strong> Vortrag zugr<strong>und</strong>e, der am 12.3.2015 <strong>in</strong> der Bibliothek <strong>und</strong><br />

Medienzentrale der Evangelischen Kirche der Pfalz <strong>in</strong> Speyer gehalten wurde.


72 <strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> im Bild<br />

stellten]«. 1 Alle diejenigen, die das alttestamentliche Bilderverbot auf die Bilder<br />

<strong>in</strong> der Kirche anwenden, werden sodann verdammt. <strong>Die</strong>se Aussage, die die<br />

Rechtmäßigkeit der Bilderverehrung bestätigte <strong>und</strong> betonte, führte dazu, dass<br />

man die Verwendung von Bildern weit über den kirchlichen Raum h<strong>in</strong>aus ausweitete.<br />

Sowurden sie ausdrücklich auch für den Privatgebrauch vorgesehen,<br />

z. B. im Haus oder <strong>in</strong> Kapellen am Rande der Wege. Auch ste<strong>in</strong>erne Bilder, d. h.<br />

Statuen, wurden freigegeben. <strong>Die</strong>ser Konzilsabschied war für den Umgang mit<br />

Bildern <strong>in</strong> der Kirche wegweisend. Er hat <strong>in</strong>sbesondere das äußere Ersche<strong>in</strong>ungsbild<br />

der östlichen Orthodoxien entscheidend bee<strong>in</strong>flusst, <strong>und</strong> zwar bis<br />

heute. Bilderschmuck<strong>und</strong> e<strong>in</strong> festes Bildprogramm wurden zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegralen<br />

Bestandteil des Lebens der orthodoxen Kirchen. Aber auch die westliche, late<strong>in</strong>ische<br />

Christianitas wurde nachhaltig durch diese Bestimmung geprägt. H<strong>in</strong>zu<br />

kam die systematische Begründung der Bilderlehre, wie sie erstmals durch Johannes<br />

Damascenus (ca. 700–ca. 753) im 8. Jahrh<strong>und</strong>ert vorgenommen wurde.<br />

Johannes von Damaskus ordnete nämlich das Bilderverbot des Alten Testaments<br />

konsequent <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en historischen Zusammenhang e<strong>in</strong>. Er <strong>in</strong>terpretierte unter<br />

e<strong>in</strong>er historischen Perspektive <strong>und</strong> erwies es vor diesem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> als irrelevant<br />

für die Bilderfrage, d. h. als nicht tauglich für e<strong>in</strong> etwaiges Verbot der Bilder<br />

<strong>in</strong> den Kirchen. Für ihn waren Bilder <strong>in</strong> der Kirche gestattet. Zusätzlich betonte er<br />

das Bestehen e<strong>in</strong>er langen Bildertradition im Christentum. So entwickelte er e<strong>in</strong>e<br />

Def<strong>in</strong>ition, die den Zweck des Bildes dar<strong>in</strong> erkennt, etwas Verborgenes offenbar<br />

zu machen. »Das Bild«, so Johannes von Damaskus, »ist nun das Abbild (οοιωα)<br />

<strong>und</strong> das Beispiel (παραδειγα)<strong>und</strong> der Abdruck (εκτύπωα)von etwas, <strong>in</strong>dem es<br />

<strong>in</strong> sich das Abgebildete zeigt«. 2 Es gibt also – se<strong>in</strong>er Def<strong>in</strong>ition zufolge – e<strong>in</strong>e<br />

Ähnlichkeit zwischen Urbild <strong>und</strong> (Ab-)Bild. <strong>Die</strong> Ähnlichkeit zwischen Urbild <strong>und</strong><br />

(Ab-)Bild bezieht sich aber nur auf die äußere Gestalt, nicht etwa auf seelische<br />

Eigenschaften. Das menschliche Auge sieht deshalb nur das, was auch am Urbild<br />

äußerlich wahrnehmbar ist. Aber das Auge des Geistes vermag, durch das Bild<br />

h<strong>in</strong>durch zu dr<strong>in</strong>gen <strong>und</strong> das Urbild mit all se<strong>in</strong>en Eigenschaften zu f<strong>in</strong>den. Das<br />

bedeutet aber auch, dass der Abgebildete im Bild selbst anwesend ist, zwar nicht<br />

substanziell, d. h. wesensmäßig, aber doch geistig <strong>und</strong> nach se<strong>in</strong>er Wirkmög-<br />

1<br />

Vgl. Joannes Dom<strong>in</strong>icus Mansi,Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio XIII,<br />

Arnhem/Leipzig 1923, 377, C–E. <strong>Die</strong> deutsche Übersetzung ist zitiert nach: Carl Andresen<br />

u.a., <strong>Die</strong> christlichen Lehrentwicklungen bis zum Ende des Spätmittelalters, bearb. v. Adolf<br />

Mart<strong>in</strong> Ritter, Neuausg. Gött<strong>in</strong>gen 2011 (= durchges. Wiederaufl. von Handbuch der<br />

Dogmen- <strong>und</strong> Theologiegeschichte, Bd. 1: <strong>Die</strong> Lehrentwicklung im Rahmen der Katholizität,<br />

Gött<strong>in</strong>gen h1999), 315 f.<br />

2<br />

Vgl. Hans GeorgThümmel,Art. Bilder V/1, <strong>in</strong>: TRE Bd. 6, 1980, 532–540; Hans-<strong>Die</strong>ter<br />

Döpmann, <strong>Die</strong> Ostkirchen vom Bilderstreit bis zur Kirchenspaltung von 1054, KGE I/8,<br />

Leipzig 1991, 49–54. Das Zitat <strong>in</strong> Andresen u.a., <strong>Die</strong> christlichen Lehrentwicklungen<br />

(s. Anm. 1), 304.


<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> im Bild 73<br />

lichkeit. Das Bild wird somit zu e<strong>in</strong>em Spiegel des Urbildes, <strong>und</strong> nur <strong>in</strong> dieser<br />

Beziehung zum Urbild gew<strong>in</strong>nt es se<strong>in</strong>e Bedeutung. Eshat h<strong>in</strong>weisende <strong>und</strong><br />

offenbarende Funktion.<br />

Bis <strong>in</strong> die Frühe Neuzeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> verlief die Bildertheologie der römischen<br />

Kirche mit dieser orthodoxen Bildertheologie konform. Noch das Konzil von<br />

Trient, das später die gültige katholische Bilderlehre def<strong>in</strong>ierte, schloss an die<br />

Aussagen des Zweiten Nizänums von 787 <strong>und</strong> die von Johannes Damascenus<br />

entfaltete Position an. Es zielte aber <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Reformorientierung darauf,<br />

Missbräuche abzustellen. 3 In dem Konzilsdekret De <strong>in</strong>vocatione, veneratione et<br />

reliquiis sanctorum, et sacris imag<strong>in</strong>ibus, d.h.dem Dekret über die Anrufung, die<br />

Verehrung <strong>und</strong> die Reliquien der Heiligen <strong>und</strong> über die heiligen Bilder, vom 3. Dezember<br />

1563ist zu lesen: »Ferner soll man die Bilder Christi, der jungfräulichen<br />

Gottesgebärer<strong>in</strong> <strong>und</strong> anderer Heiliger vor allem <strong>in</strong> den Kirchen haben <strong>und</strong> beibehalten<br />

<strong>und</strong> ihnen die schuldige Ehre <strong>und</strong> Verehrung erweisen, nicht weil man<br />

glaubte, <strong>in</strong> ihnen sei irgende<strong>in</strong>e Gottheit oder Kraft, deretwegen sie zu verehren<br />

seien, oder weil man von ihnen irgendetwas erbitten könnte oder weil man<br />

Vertrauen <strong>in</strong> Bilder setzen könnte,wie es e<strong>in</strong>st von Heiden getan wurde, die ihre<br />

Hoffnung auf Götzenbilder setzten […]: sondern weil die Ehre, die ihnen [d. h. den<br />

Bildern] erwiesen wird, sich auf die Urbilder bezieht, die jene darstellen, so daß<br />

wir durchdie Bilder,die wir küssen<strong>und</strong> vor denen wir das Haupt entblößen<strong>und</strong><br />

niederfallen, Christus anbeten <strong>und</strong> die Heiligen, deren Bildnis sie tragen, verehren.<br />

<strong>Die</strong>s wurde von den Beschlüssen der Konzilien, vor allem aber des zweiten<br />

Konzils von Nikaia, gegen die Bilderstürmer bei Strafandrohung festgelegt«. 4<br />

<strong>Die</strong>ser kurze Rückblick ist notwendig, um zu verstehen, wie sehr die <strong>Reformation</strong><br />

e<strong>in</strong>erseits die Frömmigkeitspraxis veränderte <strong>und</strong> wie sie sich andererseits<br />

e<strong>in</strong>es für die alte Frömmigkeitspraxis sehr wichtigen Mediums zur<br />

Propagierung der eigenen Lehre bemächtigte <strong>und</strong> es sodann für eigene Zwecken<br />

e<strong>in</strong>setzte. Denn die <strong>Reformation</strong> entwickelte e<strong>in</strong> völlig neues Verhältnis zum<br />

Bild. Ausschlaggebenddafür wurde diesogenannte Wittenberger Bewegung von<br />

1521/1522, die <strong>in</strong> jene Zeit fiel, <strong>in</strong> der sich Mart<strong>in</strong> Luther nach dem Wormser<br />

Reichstag von 1521 <strong>und</strong> dem für ihn bedrohlichen Edikt von Worms auf der<br />

Wartburg verborgen hielt. Unter dem E<strong>in</strong>fluss Andreas Bodenste<strong>in</strong>s von Karlstadt,<br />

dem e<strong>in</strong>stigen DoktorvaterLuthers, kam es <strong>in</strong> der kle<strong>in</strong>en, kursächsischen<br />

3<br />

Vgl. dazu Christian Hecht,Katholische Bildertheologie der Frühen Neuzeit. Studien zu<br />

Traktaten von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti <strong>und</strong> anderen Autoren, Berl<strong>in</strong> 2012, 11–<br />

13.<br />

4<br />

He<strong>in</strong>rich Denz<strong>in</strong>ger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse <strong>und</strong> kirchlichen Lehrentscheidungen,<br />

hrsg. v. Peter Hünermann, Freiburg Br./Basel/Rom/Wien, 45. Aufl. 2017<br />

[= DH], Nr. 1823.


74 <strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> im Bild<br />

Residenzstadt Wittenberg zu e<strong>in</strong>em Bildersturm. 5 Karlstadt <strong>und</strong> die etwa zeitgleich<br />

auftretenden sogenannten Zwickauer Propheten waren der Me<strong>in</strong>ung, die<br />

<strong>Reformation</strong>, die bisher vorwiegend auf das Wort, d. h. auf die Verkündigung<br />

des Evangeliums gesetzt hatte, sei auf halbem Wege stecken geblieben. Nun, so<br />

me<strong>in</strong>ten sie, müssten Taten folgen, die die reformatorische Lehre <strong>in</strong> die Praxis<br />

umsetzten, vor allem durch die Abschaffung der alten kirchlichen Ordnungen<br />

<strong>und</strong> Zeremonien <strong>und</strong> die E<strong>in</strong>führung neuer, der reformatorischen Lehre adäquaterGebräuche.<br />

<strong>Die</strong>s betraf <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie den Zölibat der Geistlichen, sodann<br />

den Messgottesdienst, aber auch die Bilderverehrung. In der angeheizten Atmosphäre<br />

Anfang 1522 kam es zu regelrecht tumultuarischen Ausschreitungen<br />

<strong>in</strong> Wittenberg. Seitenaltäre <strong>in</strong> den Kirchen wurden abgebrochen, Bilder, Heiligenstatuen<br />

<strong>und</strong> Marienfiguren von den Wänden bzw. Podesten heruntergeholt,<br />

zerschlagen <strong>und</strong> verbrannt. 6 Oft waren die e<strong>in</strong>stigen Bilderstifter die heftigsten<br />

Bilderstürmer. Erhard Schön hat dies auf e<strong>in</strong>em proreformatorischen Flugblatt<br />

dargestellt – e<strong>in</strong> Bild gegen die Bilder <strong>und</strong> deren Verehrung (Abb. 1). Damit<br />

begann das Nachdenken über den Stellenwert der Bilder imevangelischen Bereich.<br />

<strong>Die</strong>se Entwicklung, die später sogar <strong>in</strong> <strong>in</strong>nerprotestantisch konfessionell<br />

unterschiedliche Positionierungen mündete, 7 wäre es wert, an anderer Stelle<br />

weiterverfolgt zu werden. Hier ist lediglich festzuhalten, dass die <strong>Reformation</strong><br />

Heiligen- <strong>und</strong> Bilderverehrung dezidiert ablehnte. Zugleich aber nutzte sie das<br />

Bild, d. h. Holzschnitte <strong>und</strong> Kupferstiche, zur Illustration von Texten oder auch als<br />

selbstständige Gebrauchskunst. Gemälde <strong>und</strong> bildhauerischeReliefs dientenals<br />

Andachtsbilder oder Epitaphien, <strong>und</strong> damit war die <strong>Reformation</strong> gar nicht so weit<br />

von dem altgläubigen Erbe im Umgang mit Bildern entfernt. Nicht zuletzt aber<br />

setzte die <strong>Reformation</strong> Bilder als effektives Kommunikationsmedium zur Verbreitung<br />

<strong>und</strong> Darstellung der reformatorischen Lehre e<strong>in</strong>.<br />

<strong>Die</strong>ses Phänomen, nämlich die Indienstnahme des Bildes für Anliegen der<br />

<strong>Reformation</strong>, wird <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dreischritt genauer betrachtet. Zunächst kommen die<br />

5<br />

Zu Karlstadt vgl. Hermann Barge, Andreas Bodenste<strong>in</strong> von Karlstadt, 2Bde., Leipzig<br />

1905, Nachdr. Nieuwkoop 1968. Zur Wittenberger Bewegung vgl. Nikolaus Müller, <strong>Die</strong><br />

Wittenberger Bewegung 1521 <strong>und</strong> 1522. <strong>Die</strong> Vorgänge <strong>in</strong> <strong>und</strong> um Wittenberg während<br />

Luthers Wartburgaufenthalt. Briefe, Akten u. dgl. <strong>und</strong> Personalien, Leipzig h1911; Natalie<br />

Krentz, Ritualwandel <strong>und</strong> Deutungshoheit. <strong>Die</strong> frühe <strong>Reformation</strong> <strong>in</strong> der Residenzstadt<br />

Wittenberg (1500–1533), SMHR 74, Tüb<strong>in</strong>gen 2014. Vgl. darüber h<strong>in</strong>aus die derzeit ersche<strong>in</strong>ende<br />

Kritische Gesamtausgabe der Schriften <strong>und</strong> Briefe Andreas Bodenste<strong>in</strong>s von<br />

Karlstadt, hrsg. v. Thomas Kaufmann, Bd. 1ff., QFRG 90 ff., Gütersloh 2017 ff.<br />

6<br />

Vgl. Margarete Stirm, <strong>Die</strong> Bilderfrage <strong>in</strong> der <strong>Reformation</strong>, QFRG 45, Gütersloh 1977.<br />

7<br />

Vgl. dazu <strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, »Daß wir Gott <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise verbilden.« <strong>Die</strong> Bilderfrage<br />

zwischen Calv<strong>in</strong>ismus <strong>und</strong> Luthertum, <strong>in</strong>: Andreas Wagner/Volker Hörner/Günter<br />

Geisthardt (Hrsg.), Gott im Wort – Gott im Bild. Bilderlosigkeit als Bed<strong>in</strong>gung des Monotheismus?,<br />

Neukirchen-Vluyn 2005, h2008, 97–111.


Bilder als Medium reformatorischer Propaganda 75<br />

Bilder als Medium der reformatorischen Propaganda zur Sprache, anschließend<br />

ihre Funktion als Predigt- <strong>und</strong> Frömmigkeitsbilder<strong>und</strong> schließlich ihr E<strong>in</strong>satz im<br />

<strong>Die</strong>nste fürstlicher Repräsentation.<br />

Abb. 1: Erhard Schön, Klagrede der armen verfolgten Götzen <strong>und</strong> Tempelbilder (ca. 1530)<br />

Standort: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg<br />

Inventarnummer: H7404, Foto: Monika Runge<br />

Bilder als Medium reformatorischer Propaganda<br />

Nachdem Johannes Gutenberg Mitte des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts die Buchdruckerkunst<br />

mit se<strong>in</strong>er Erf<strong>in</strong>dung beweglicher Lettern technisch auf e<strong>in</strong> neues F<strong>und</strong>ament<br />

gestellt hatte, waren Druckerzeugnisse e<strong>in</strong>facher, schneller <strong>und</strong> billiger zuproduzieren.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Reformation</strong> kannte ke<strong>in</strong>e Berührungsängste mit diesem Medium<br />

<strong>und</strong> setzte es gezielt zur Verbreitung ihrer Inhalte e<strong>in</strong>. 8 Zu den reformatorischen<br />

Druckerzeugnissen gehörten u. a. illustrierte Flugblätter, die seit 1519 den Markt<br />

regelrecht überschwemmten. Flugschriften <strong>und</strong> illustrierte Flugblätter waren<br />

dazu da, evangelisches Gedankengut auf wenigen Seiten an das e<strong>in</strong>fache Volk zu<br />

vermitteln, Anhänger zu gew<strong>in</strong>nen <strong>und</strong> Gegner <strong>in</strong> satirischer Weise bloßzustellen.<br />

Dazu mussten die texthaltigen Erzeugnisse allerd<strong>in</strong>gs vorgelesen werden,<br />

da die Lesefähigkeit der Bevölkerung relativ ger<strong>in</strong>g war. Dass dies e<strong>in</strong>e durchaus<br />

gängige Praxis war, wird aus folgender, eigentlich paradoxen Aufforderung<br />

deutlich, mit der e<strong>in</strong>e reformatorische Flugschrift aus dem Jahre 1524 begann:<br />

»Lieber Leser, kanst Dunit lesen, so such Dir e<strong>in</strong>en jungen Mann, der Dir die-<br />

8<br />

Vgl. dazu Marcel Nieden, <strong>Die</strong> Wittenberger <strong>Reformation</strong> als Medienereignis, <strong>in</strong>: Europäische<br />

Geschichte Onl<strong>in</strong>e (EGO), hrsg. v. Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG),<br />

Ma<strong>in</strong>z 2012–04–23, URL: http://www.ieg-ego.eu/niedenm-2012-de, URN: urn:nbn:de:0159-<br />

2012042305 (26.06.2022).


<strong>Irene</strong> <strong>D<strong>in</strong>gel</strong>, Dr. Dr. h.c., Jahrgang 1956, studierte Evangelische<br />

Theologie <strong>und</strong> Romanistik <strong>in</strong> Heidelberg <strong>und</strong> Paris. Sie ist<br />

Senior-Forschungsprofessor<strong>in</strong> (Kirchen- <strong>und</strong> Dogmengeschichte)<br />

an der Johannes Gutenberg-Universität Ma<strong>in</strong>z, Ordentliches<br />

Mitglied der Akademie der Wissenschaften <strong>und</strong> der Literatur<br />

Ma<strong>in</strong>z, Träger<strong>in</strong> des Landesverdienstordens des Landes Rhe<strong>in</strong>land-Pfalz<br />

<strong>und</strong> der Ehrendoktorwürde der Université de Strasbourg.<br />

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<strong>Die</strong> Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation <strong>in</strong> der<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

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Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck <strong>und</strong> B<strong>in</strong>den: Hubert & Co., Gött<strong>in</strong>gen<br />

ISBN Pr<strong>in</strong>t 978-3-374-07245-3 // eISBN (PDF) 978-3-374-07246-0<br />

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