Inspiration Nr. 02 2023
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Wegweiser Arbengrat<br />
Thema Rubrik<br />
Entschuldigen Sie bitte, dass Sie zu Beginn dieser Geschichte<br />
zwischen dünnen Wellblechwänden auf einer rosaroten Brille<br />
Platz nehmen müssen. Was sein muss, muss sein. Unter Ihnen<br />
plätschert eine Dauerspülung aus Gletscherwasser und<br />
die Türe steht sperrangelweit offen. Dieses stille Örtchen, ungefähr<br />
3220 Meter hoch und zwanzig Schritte entfernt vom Arbenbiwak<br />
gelegen, gehört zu den aussichtsreichsten Klohäuschen<br />
der Alpen. Der direkte Blick in die Matterhorn-Nordwand<br />
ist viel zu attraktiv, als dass Sie die Türe verschliessen möchten.<br />
Aber das muss Ihnen keineswegs peinlich sein. «Wenn<br />
die Tür weit offensteht», erklärte der ehemalige Hüttenchef<br />
Alfons Biner einmal, «dann ist besetzt.»<br />
Schnell freunden sich die Besucher des nicht bewirtschafteten<br />
Arbenbiwaks mit dem Hüsli- und Hausbrauch<br />
an. Ankommen ist angesagt, denn unmittelbar hinter dem<br />
alpinen Stützpunkt thront unser 4063 Meter hohes Ziel für<br />
morgen, das formschöne Obergabelhorn. Die Südwand, etwa<br />
700 Meter hoch und aus glänzendem Gneis, leuchtet, flankiert<br />
von seinen perfekten Graten, verheissungsvoll zu uns<br />
herunter. Wir haben den linken Grat, den Westsüdwestgrat<br />
im Sinn, der in der Alpinliteratur als Arbengrat fast schon<br />
sagenhaft schöne Erwähnungen fand. «Kompaktester Fels»<br />
im Wallis und «schönste Aussicht» steht da zu lesen. Zu<br />
Recht? Wir sind gespannt.<br />
«Wenn die Tür<br />
weit offensteht, dann<br />
ist besetzt.»<br />
‹1› Logenplatz: Das Arbenbiwak<br />
thront aussichtsreich<br />
zwischen Matterhorn-<br />
Nordwand und Obergabelhorn-Südwand.<br />
‹2› Der Zustieg zum Obergabelhorn<br />
aus Zermatt ist<br />
zwar lange, dafür attraktiv.<br />
‹3› Gegen Ende helfen Ketten<br />
über die vom Gletscher<br />
geschliffenen Felsen zum<br />
Arbenbiwak.<br />
‹1›<br />
‹2›<br />
Ein Geschenk der Holländer<br />
So still wie heute an diesem Juni-Tag ist es an diesem Örtchen<br />
nicht immer. Das Hüttenbuch und so mancher Bericht<br />
im Internet verraten, dass die 15 Schlafplätze an manchem<br />
Sommertag doppelt belegt sind. So gut besucht wie am Tag<br />
seiner feierlichen Eröffnung war es vermutlich nie wieder.<br />
200 Gäste weihten am 9. Juli 1977 das Arbenbiwak ein, das<br />
liebevoll und klassisch aus Bruchsteinmauern gefertigt wurde.<br />
Weniger klassisch seine Historie: Es war ein Geschenk<br />
von der Königlich Niederländischen Alpenvereinigung an den<br />
SAC Zermatt. In den Niederlanden liegt ein Fünftel unter dem<br />
Meeresspiegel – doch die Bergleidenschaft kennt keine Höhenbeschränkung.<br />
30 freiwillige Holländer schaufelten in der<br />
Arbengandegge über drei Wochen alleine an den Zustiegen<br />
und arbeiteten den Schweizer Handwerkern zu. «Holländerkehre»<br />
wurde eine der Spitzkehren getauft. Um das fertige<br />
Bauprojekt zu würdigen, wurden Medienvertreter mit dem<br />
Hubschrauber heraufgeflogen.<br />
Zu Fuss steigen wir von Zermatt herauf. Die 1700 Höhenmeter<br />
bis zum Biwak scheinen für uns fast genauso schnell<br />
zu verfliegen wie für die Holländer im Helikopter. Nicht, weil<br />
wir schnell unterwegs wären. Sondern weil es unentwegt etwas<br />
zu sehen gibt! Rechts flitzen Trailläufer an uns vorbei,<br />
links bimmeln in der Blumenwiese Kuhglocken. Die urchigen<br />
Bergbauernhöfe in Zmutt zeichnen ein Idyll von einer Schweizer<br />
Bergkulisse – und linkerhand begleitet uns auf Schritt und<br />
Tritt prominent das Matterhorn. Ist es aus der Ferne nicht<br />
am schönsten anzusehen? Hinter jeder Kuppe verändert es<br />
fliessend seine Form. Langsam dreht sich die Berühmtheit<br />
wie ein Stück Kuchen auf dem Tortenteller. Und bald wandert<br />
auch das Obergabelhorn in unser Blickfeld.<br />
Aus dem Häuschen:<br />
Sogar am stillen Örtchen ist<br />
die Aussicht schön.<br />
An der Baumgrenze fallen die Sonnenstrahlen durch die letzten<br />
Lärchen. Wenige Schritte weiter schon rauscht ein mächtiger<br />
Wasserfall über Klippen. Die imposante Moräne, die<br />
Arbengandegge, zieht sich dann doch spürbar in die Länge.<br />
Sie erinnert daran, wie vergänglich das Eis an den Viertausendern<br />
ist – und wie hoch gesteckt unser Ziel ist. Ein Klettersteig,<br />
der nach dem Rückgang des Arbengletschers von<br />
Wege-Verantwortlichen des SAC mehrmals adaptiert worden<br />
ist, bildet das steile Finale zum Biwak.<br />
Kaffee am Logenplatz<br />
Weil die Sonne noch hoch am Himmel steht, machen wir Arbeitsteilung:<br />
Andi kundschaftet den morgigen Zustieg aus,<br />
der mir von meiner Klettertour durch die Südwand noch bekannt<br />
ist, und ich brühe in der top ausgestatteten Kochnische<br />
am Gasherd Wasser. So schlürfen wir am späten Nachmittag<br />
einsam und gemeinsam auf der Hüttenbank unseren Instant-Kaffee,<br />
der mit dem Monte-Rosa-Panorama mindestens<br />
‹3›<br />
16<br />
17