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Blattwerk Ausgabe No18 Mai und Juni 2023

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nung von Angesicht zu Angesicht, damit die persönliche<br />

Ich-Du- Beziehung <strong>und</strong> das Wir-Erlebnis in der Gemeinschaft<br />

nicht verloren gehen.<br />

Für den Philosophen Levinas ist der Ausgangspunkt der<br />

Ethik das Angesicht des Menschen.<br />

Er sagt: Wer in das Angesicht eines Menschen schaut, kann<br />

keinen Menschen töten.<br />

Das heißt: Wer den Menschen in seinem Wesen wahrnimmt<br />

<strong>und</strong> erkennt, weiß letztlich auch, was er tun kann<br />

<strong>und</strong> lassen muss. Im Blick auf Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft<br />

ist daher von entscheidender Bedeutung, nicht nur über<br />

Bildschirme, Künstliche Intelligenz <strong>und</strong> ChatGPT zu lehren,<br />

zu lernen, zu arbeiten <strong>und</strong> zu kommunizieren, vielmehr in<br />

persönlichen, leibhaftigen Begegnungen.<br />

Auch wenn humanoide Roboter mittels ihrer gigantischen<br />

Informations- <strong>und</strong> Wissensspeicher als Wissensvermittler<br />

dienen können <strong>und</strong> schon in nächster Zeit benutzt werden,<br />

ist die leibhaftige Anwesenheit <strong>und</strong> der kommunikative<br />

Austausch von Angesicht zu Angesicht unverzichtbar.<br />

Leib ist mehr als Körper, umfasst alle Dimensionen des<br />

Menschen, seine Geschichte, Empfindungen,<br />

Emotionen, Begegnungen, Erfahrungen, sein Denken <strong>und</strong><br />

Handeln, sein schöpferisches Tun, seine Ängste, Zweifel<br />

<strong>und</strong> Hoffnungen, seinen Zorn, Hass <strong>und</strong> seine Liebe. All das,<br />

was ein humanoider Roboter nicht hat <strong>und</strong> nicht vermag.<br />

Sara Spiekermann erzählt in ihrem Buch Digitale Ethik vom<br />

Roboter Sophia, der auf einer Tech-Tagung in Berlin von<br />

der damaligen B<strong>und</strong>eskanzlerin Merkel Fragen gestellt<br />

bekam, die er nicht immer verstand, aber auf höfliche,<br />

geradezu poetisch-geistreiche Weise beantwortete.<br />

Wie das? Die Professorin für Wirtschaftswissenschaften<br />

<strong>und</strong> IT-Fachfrau erfuhr später in einem Gespräch, dass der<br />

Entwickler, Dr. David Hanson, seiner Roboterfrau immer<br />

literarische <strong>und</strong> philosophische Texte zu lesen gab. So<br />

eignete sich Sophia ein bestimmtes poetisches, geistreiches<br />

Vokabular an.<br />

Aneignen meint hier keine persönliche Aktivität, sondern<br />

das Übernehmen <strong>und</strong> Speichern von Information, die im<br />

Roboter resonanzlos bleibt. Um Resonanz zu erzeugen,<br />

müsste der Roboter in der Lage sein, das Gelesene sich<br />

anzuverwandeln.<br />

Als der Entwickler Sophia dumm wie ein Hummer nannte,<br />

blieb jede Reaktion aus.<br />

Ein Sprach-Computer wie ChatGPT kann auf Basis gespeicherter<br />

Daten auf Fragen antworten, auch Erzählungen <strong>und</strong><br />

Gedichte schreiben. Sie werden geist- <strong>und</strong> seelenlos sein.<br />

Ein Roboter ist kein leibhaftiges Wesen, hat weder Geist<br />

noch Seele.<br />

Vielleicht hatte ich deshalb als Kind so schreckliche Angst,<br />

als ich einmal abends, allein im Zimmer, einen Fernsehfilm<br />

sah, in dem ein Roboter der Protagonist war. Ich weiß nicht<br />

mehr, ob er gut oder böse war, ich erinnere mich nur, dass<br />

ich nächtelang nicht schlafen konnte <strong>und</strong> Albträume hatte.<br />

In manchen Ländern ist die Verwendung von ChatGPT verboten.<br />

Prinzipiell halte ich nichts von Verboten, es scheint<br />

mir aber notwendig, weil es vielen Menschen an Wissen<br />

BUCHTIPP<br />

Siegm<strong>und</strong> Kleinl<br />

„frei gehen – eine Exodus-Dichtung“<br />

mit einem Essay von Lukas Pallitsch<br />

Edition Marlit<br />

ISBN: 978-3-902931-18-4<br />

Euro 18,70<br />

<strong>und</strong> der Fähigkeit fehlt, damit verantwortlich umzugehen.<br />

Anders gesagt: Es fehlt an Bildung.<br />

Bildung ist für mich in letzter Konsequenz ästhethische<br />

Bildung, Ästhetik <strong>und</strong> Ethik als Kompositum, als Einheit<br />

gesehen. Ich wage die Behauptung: Je ästhetischer, umso<br />

ethischer. Je ethischer, umso ästhetischer.<br />

Ästhetik ist das Gegenteil von Anästhesie, der Empfindungslosigkeit.<br />

Ästhetik kommt von dem griechischen Verb<br />

aisthenein <strong>und</strong> bedeutet wahrnehmen mit allen Sinnen,<br />

mit Geist <strong>und</strong> Seele, leibhaftig. Ein solches Wahrnehmen<br />

ermöglicht, zwischen einem von ChatGPT generierten Text<br />

<strong>und</strong> einem Text eines geistbegabten Menschen zu unterscheiden.<br />

Als ChatGPT einen Text zum Parzival schrieb, stellte ich<br />

als literarisch Gebildeter nicht nur fest, dass es inhaltlich<br />

Unsinn war, ich empfand den Text auch als geist- <strong>und</strong><br />

seelenlos.<br />

Ein ästhethischer Text, in dem der Geist des Dichters leibhaftig<br />

anwesend ist, berührt, inspiriert, belebt mich durch<br />

die Humanenergie, die darin enthalten ist.<br />

Es gibt entweder eine humane, menschliche Zukunft oder<br />

keine. Die Gefahr der Digitalisierung <strong>und</strong> der rasant fortschreitenden<br />

Entwicklung der Künstlichen Intelligenz sehe<br />

ich in der Manipulation, Verdinglichung <strong>und</strong> Verfügbarmachung<br />

des Menschen, wie sie in der Ideologie der Transhumanisten<br />

als mögliche Zukunftsszenarien vor Augen<br />

stehen.<br />

Demgegenüber überwiegt das Positive, wenn die technischen<br />

Entwicklungen die menschlichen Bestrebungen<br />

nach einem glückenden Leben unterstützen <strong>und</strong> Hilfe bieten<br />

für die Lösung von Herausforderungen, Fragen <strong>und</strong><br />

Problemen.<br />

Es geht letztlich nicht darum, die gerufenen Geister wieder<br />

loszuwerden wie in Goethes Ballade Der Zauberlehrling –<br />

das ist weder möglich noch wünschenswert –, sondern sie<br />

in die Prozesse des Lebens so zu integrieren, dass menschliches<br />

Leben <strong>und</strong> das Leben überhaupt Zukunft hat.<br />

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