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Glossar - Goerls

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Frauen, die das Sagen haben<br />

„Ü b e r l e b e n aus 100 Mosaiksteinchen“<br />

Geschichte ist gekennzeichnet<br />

durch Daten, Fakten und Ereignisse.<br />

Zeitzeugen zu interviewen, heißt,<br />

eine Parallelgeschichte zur offiziellen<br />

Geschichte der Geschichtsschreiber<br />

zu erzählen und bekannt<br />

zu machen.<br />

In einer Zeit, in der sich Experten<br />

vermehren und permanent Widersprüchliches<br />

für gutes Geld von sich<br />

geben, finden wir es richtig und<br />

wichtig, ein Zeichen zu setzen und<br />

jene Menschen zu Wort kommen zu<br />

lassen, die historische Ereignisse<br />

selbst miterlebt haben.<br />

Ihre Aussagen haben keinen<br />

Anspruch auf ‚Wissenschaftlichkeit’<br />

und ein herzliches Dankeschön ist<br />

ihr ‚Lohn’ für ihre zur Verfügung<br />

gestellte Zeit.<br />

„Heute wird es schwierig,<br />

die Wirklichkeit<br />

zu erzählen,<br />

weil sie nebelhaft, wirr,<br />

chaotisch, unentzifferbar<br />

geworden ist.<br />

Darum glaube ich,<br />

dass man heute nur noch<br />

erzählen kann,<br />

wenn man „ich“ sagt.“<br />

Vroni im Interview<br />

mit Frau Simonsohn<br />

44 |<br />

Görls<br />

Natalia Ginzburg<br />

Anlässlich der Veranstaltung „Rock gegen<br />

Rechts“ in Darmstadt, organisiert vom StadtschülerInnenrat,<br />

dem Projekt „Gesicht Zeigen!“,<br />

dem Stadtjugendring und der DGB-Jugend,<br />

hörte sich die Görls-Redaktion, vertreten durch<br />

Oriella Bazzica und Veronika Hilmer, den Vortrag<br />

von Trude Simonsohn, Theresienstadt- und<br />

Auschwitzüberlebende und Philip Benz, Antifaschist,<br />

Kommunist und KZ-Häftling in Osthofen,<br />

an. Für die Veranstaltung war auch Irmgard<br />

Heydorn, ehemalige Widerstandskämpferin<br />

gegen das NS-Regime eingeplant, die jedoch<br />

nicht referieren konnte. Die Vorträge waren<br />

sehr interessant und mitreißend. Anschließend<br />

durften alle Anwesenden, überwiegend Jugendliche<br />

und Studierende, Fragen stellen. Danach<br />

ergriffen wir unsere Chance: Wir stellten uns<br />

bei Frau Simonsohn vor und fragten, ob wir mit<br />

ihr ein Interview für die Görls-Zeitung durchführen<br />

könnten. Sie stimmte zu und so trafen<br />

wir uns in Frankfurt zum Gespräch.<br />

K I N D H E I T U N D S C H U L Z E I T<br />

Sie haben erzählt, dass Sie ein Einzelkind sind.<br />

Haben Sie sich dadurch benachteiligt gefühlt?<br />

Meine Eltern haben immer dafür gesorgt, dass ich mit<br />

Kindern zusammen bin und dann war auch die zionistische<br />

Jugendbewegung wunderbar für mich. Die hat<br />

mich geprägt und mir zum Teil auch das Leben gerettet.<br />

Diese Freundschaften sind, wie man so sagt, bis<br />

zum Tod gegangen. Und die, die überlebt haben, sind<br />

unverändert stark geblieben.<br />

Wir haben gelesen, dass Sie sehr sportlich waren.<br />

Welche Sportarten haben Sie gerne betrieben?<br />

Viele! Mit 4 Jahren bin ich geschwommen, mit 5-6 Jahren<br />

Eis gelaufen, dann Ski gefahren, mit 10 habe ich<br />

Tennis gespielt und wurde Turnierspielerin. In Leichtathletik<br />

erhielt ich das silberne Sportabzeichen. Nur<br />

zum Reiten kam es nicht. Mein Vater war ein passionierter<br />

Reiter, und als es uns noch gut ging, hatten wir<br />

sogar ein Pferd, aber ich hatte Angst davor. Als ich reiten<br />

wollte, ging es unserer Familie wirtschaftlich nicht<br />

mehr gut und wir hatten kein Pferd mehr. So bin ich nie<br />

zum Reiten gekommen.<br />

Welche weiteren Hobbies hatten Sie?<br />

Ich habe Klavier gespielt, aber nicht besonders gut. Ich<br />

habe sehr gerne Musik gehört – klassische Musik, aber<br />

auch Schlager. Und ich habe Bilder von Filmschauspielern<br />

und Filmschauspielerinnen gesammelt.<br />

In welchem Alter haben Sie angefangen, politisch<br />

zu denken und was war der Auslöser dafür?<br />

Mit 16 Jahren! Ich kann schwer sagen, was es ausgelöst<br />

hat. Ich war mir<br />

Boykottposten der SA<br />

vor dem Kaufhaus<br />

Wohlwert.<br />

Heilbronn, 1933<br />

immer bewusst, einer Minderheit anzugehören, die in<br />

vielen Ländern verfolgt wurde. Ich dachte, das ganze<br />

Elend hätte ein Ende, wenn wir, das jüdische Volk, ein<br />

eigenes Land hätten. Also, ich habe eigentlich immer<br />

politisch gedacht, weil ich ja Zionistin war.<br />

In der Tschechoslowakei, wo ich mit meinen Eltern<br />

aufwuchs, ging es uns sehr gut – das Gefühl habe ich<br />

immer gehabt. Wir lebten in einer Demokratie, in einer<br />

multikulturellen Gesellschaft, innerhalb welcher man<br />

sich gegenseitig anerkannt hat.<br />

Sind Sie zweisprachig aufgewachsen?<br />

Ja, meine Mutter hat außer Tschechisch auch Deutsch<br />

gesprochen. Und mein Vater hat viele Sprachen gesprochen.<br />

Bevor die Tschechoslowakei 1918 gegründet<br />

wurde, gehörte sie zur k.u.k. Monarchie, der österreichisch-ungarischen<br />

Monarchie. Zu dieser Zeit haben<br />

alle Deutsch in der Schule gelernt. Das war für die meisten<br />

Leute der bürgerlichen Gesellschaft normal. Zu<br />

meiner Schulzeit haben wir noch viele andere Sprachen<br />

gelernt.<br />

War die Sprache in den Behörden deutsch?<br />

Beides. Es wurden beide Sprachen gesprochen. Ja, von<br />

der Tschechoslowakei weiß man sehr wenig. Die deutsche<br />

Minderheit hat sich bitter beschwert, benachteiligt<br />

zu sein. Wenn man sich das mal vorstellt: Es gab bei<br />

uns ein deutsches Gymnasium, eine deutsche Handelsschule,<br />

eine deutsche Handelsakademie und was noch<br />

alles.<br />

Und trotzdem haben die Deutschen gedacht,<br />

das wäre nicht ausreichend?<br />

Ja, wenn Sie deutsche Vertriebene fragen, werden Sie<br />

das hören.<br />

Kommen wir zum 15. März 1939: Nach Einmarsch<br />

der deutschen Truppen waren die Nürnberger<br />

Gesetze für alle Juden in Böhmen und Mähren<br />

gültig. Wie Sie erzählten, wollte am darauffolgenden<br />

Tag keiner Ihrer deutschen Mitschüler<br />

mit Ihnen etwas zu tun haben und Sie wurden<br />

einfach ignoriert. Was ist Ihnen da durch den<br />

Kopf gegangen?<br />

Nicht nur meine Mitschüler, kein Deutscher, egal ob<br />

jung oder alt, hat mich mehr gekannt. Ich war wie<br />

nicht mehr vorhanden. Ich war sehr enttäuscht. Ich<br />

habe mir gedacht, wie ist das möglich, dass man von<br />

einem Tag auf den anderen nicht mehr als derselbe<br />

Mensch wahrgenommen wird? Sogar eine sehr gute<br />

Freundin von mir, obwohl sie auch viele andere jüdische<br />

Freundschaften pflegte und ich öfter im Ferienhaus<br />

der Eltern eingeladen war, entwickelte sich zu<br />

einer überzeugten Nationalsozialistin und brach unsere<br />

Freundschaft ab.<br />

Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass meine<br />

Freunde mich plötzlich nicht mehr kennen, nur<br />

weil sich irgendwelche Gesetze geändert haben.<br />

Das können sich meine Zuhörer in den Schulen, die<br />

mich als Zeitzeugin einladen, auch nicht vorstellen und<br />

ich finde ihre Entrüstung sehr positiv.<br />

Wurden in der Zeitung die Parole „Rede nicht

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