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Michael Beyer | Martin Hauger | Volker Leppin (Hrsg.): Ausstrahlung und Widerschein (Leseprobe)

Der Theologische Arbeitskreis für Reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) gibt seit über 50 Jahren vor allem in Wittenberg der internationalen Luther- und Reformationsforschung einen Ort des Austauschs zwischen den großen Lutherkongressen. Damit bot er während der 1970er und 1980er Jahre dem Lutherhaus in Wittenberg Schutz vor ideologischer Überfremdung sowie der kirchlich- und theologisch verantworteten Lutherforschung in Ost und West eine Vergleichsebene. In der Reformationsdekade 2008 bis 2017 entstand der später noch weitergeführte Plan, der europäischen Rezeption von reformatorischen Impulsen nachzugehen, die Wittenberg ausgestrahlt hatte und die unter anderen historischen Bedingungen an unterschiedlichen Orten ihre spezifische Wirkung entfalteten. Dieser Band bietet eine Auswahl der entstandenen Beiträge.

Der Theologische Arbeitskreis für Reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) gibt seit über 50 Jahren vor allem in Wittenberg der internationalen Luther- und Reformationsforschung einen Ort des Austauschs zwischen den großen Lutherkongressen. Damit bot er während der 1970er und 1980er Jahre dem Lutherhaus in Wittenberg Schutz vor ideologischer Überfremdung sowie der kirchlich- und theologisch verantworteten Lutherforschung in Ost und West eine Vergleichsebene. In der Reformationsdekade 2008 bis 2017 entstand der später noch weitergeführte Plan, der europäischen Rezeption von reformatorischen Impulsen nachzugehen, die Wittenberg ausgestrahlt hatte und die unter anderen historischen Bedingungen an unterschiedlichen Orten ihre spezifische Wirkung entfalteten. Dieser Band bietet eine Auswahl der entstandenen Beiträge.

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<strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong> | <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong> | <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

AUSSTRAHLUNG UND<br />

WIDERSCHEIN<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Wirkung der Wittenberger<br />

Universität im Europa des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts


Vorwort<br />

Die fata, denen libelli ausgesetzt sind, sind vielfältig. So kann es auch dazu<br />

kommen, dass erst im Jahre 2023 ein Band fertiggestellt wird, der auf Tagungen<br />

basiert, die seit 2008 stattgef<strong>und</strong>en haben. Es handelt sich um die Zusammenkünfte<br />

des Theologischen Arbeitskreises für Reformationsgeschichtliche Forschung<br />

(TARF). Dieser führt – unterbrochen nur von den Jahren der internationalen<br />

Lutherkongresse – seit den frühen siebziger Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

alljährlich eine Gruppe von mit der Reformation befassten Forscherinnen <strong>und</strong><br />

Forschern aus der Kirchengeschichte, der Systematischen Theologie <strong>und</strong> Nachbarfächern<br />

zusammen. Die Tagungsorte lagen bis zur Friedlichen Revolution<br />

1989 vor allem in Wittenberg <strong>und</strong> anderen Luther- <strong>und</strong> Reformationsorten im<br />

Osten Deutschlands. Seither tagt der Kreis deutschlandweit, in Zukunftvielleicht<br />

auch darüber hinaus. Im genannten Zeitraum befassten sich die Tagungen, oft<br />

angeregt durch die jährlich empfohlenen Themen zur Reformationsdekade, mit<br />

<strong>Ausstrahlung</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerschein</strong> der Wittenberger Reformation. Das zugr<strong>und</strong>e liegende<br />

Konzept, das in der Einleitungweiter entfaltet wird, wurde im TARF selbst<br />

<strong>und</strong> – um hier an drei verstorbene langjährige TARF-Mitglieder zu erinnern –<br />

insbesondere mit Siegfried Bräuer († 2018), Helmar Junghans († 2010) <strong>und</strong><br />

Günther Wartenberg († 2007) entwickelt <strong>und</strong> diskutiert. Das Buch nun vorzulegen,<br />

ist deshalb auch ein Beitrag zum Gedächtnis an drei Personen, die ihre<br />

wissenschaftliche Tätigkeit unter den Bedingungen der DDR begonnen hatten<br />

<strong>und</strong> zunächst vor allem durch den TARF stets auch in das gesamtdeutsche <strong>und</strong><br />

internationale wissenschaftliche Gespräch eingeb<strong>und</strong>en waren. Darüber hinaus<br />

steht dieser Sammelband auch für den Dank an alle Teilnehmer aus dem<br />

»Westen«, die in jenen schwierigen Zeiten dem TARF die Treue hielten. Für sie<br />

alle sollen genannt sein <strong>Martin</strong> Brecht († 2021) <strong>und</strong> Bernd Moeller († 2020).<br />

Dass nach mehr als einem Jahrzehnt nur noch ein Teil der Beiträge für eine<br />

Veröffentlichung verfügbar war, dafür aber Arbeiten aus jüngeren <strong>und</strong> auch den<br />

letzten TARF-Tagungen eingebracht werden konnten, gehört zu jenen fata. Umso<br />

dankbarer sind wir denen, die es ermöglicht haben, dass am Ende des langen<br />

Prozesses ein prof<strong>und</strong>er Bandvorgelegt werden kann. Doch schließen wir in den


6 Vorwort<br />

Dank auch diejenigen ein, die auf den Tagungen vorgetragen <strong>und</strong> diskutiert<br />

haben. Zu den besonders angenehmen Seiten des TARFgehörte es immer, dass es<br />

nie einen Publikationszwang gegeben hat. Im Mittelpunkt stand stets das gemeinsame<br />

Diskutieren <strong>und</strong> Nachdenken. Davon legt dieser Band Zeugnis ab. Den<br />

Verfassern <strong>und</strong> Verfasserinnen war es freigestellt, ihre Vorträge nach ihren<br />

Vorstellungen zu bearbeiten, was ihre unterschiedliche Länge erklärt. Die redaktionelle<br />

Bearbeitung lag in den Händen von <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong> (Schönbach/Colditz)<br />

<strong>und</strong><strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong> (Yale/New Haven, CT). Unterstütztwurden sie dabei von<br />

ihrem Mitherausgeber <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong> (Hannover) sowie den wissenschaftlichen<br />

Hilfskräften Paul Bauer, Melissa Brooks-Yarba <strong>und</strong> Samuel Raiser (Tübingen).<br />

Die Herausgeber sind ihnen hierfürsehr dankbar. Ausdrücklich erwähnt werden<br />

muss die Gastfre<strong>und</strong>schaft der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt<br />

<strong>und</strong> ihrer Vorgängerin, der Lutherhalle in Wittenberg, sowie der Stiftung Leucorea<br />

in Wittenberg, dieuns überJahrzehnte hin immer fre<strong>und</strong>lich aufgenommen<br />

haben. Ebenso sei den Institutionen gedankt, die uns Bildrechte überlassen haben,<br />

sowie der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig für die verlegerische Betreuung.<br />

Zu den fata des Bandes gehört schließlich, dass er in einer Situation erscheint,<br />

in der <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong> den Vorsitz des TARF, den er nach dem Todvon<br />

Günther Wartenberg übernahm, in die Hände von Anne Käfer (Münster) gelegt<br />

hat. So markiert das Buch eine Zäsur in der Arbeit des TARF, mit zufriedenem<br />

Rückblick <strong>und</strong> freudiger Schau nach vorne.<br />

Im Frühjahr 2023<br />

Die Herausgeber


Inhalt<br />

Vorwort .................................................. 5<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong>, <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong>, <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Einleitung<br />

<strong>Ausstrahlung</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerschein</strong><br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Wirkung der Wittenberger Universität im Europa<br />

des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts ........................................ 11<br />

Albert de Lange<br />

Wehrhafte evangelische Christen – Waldenser im Widerstand ......... 19<br />

<strong>Martin</strong> Wernisch<br />

Das Verständnis der Obrigkeit imHussitismus <strong>und</strong> in der böhmischen<br />

Reformation ............................................... 47<br />

<strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Katechismen im späten Mittelalter ............................. 63<br />

Florian Wöller<br />

Disputationen als akademische Diskursform im Mittelalter<br />

Ein Essay ................................................. 87<br />

Stefan Michels<br />

Luther(H)us revisited<br />

VonVorläufern, Vorreformatoren, Wegbereitern <strong>und</strong> Wahrheitszeugen .. 107<br />

Günter Frank<br />

Loci theologici<br />

Methodologische, historische <strong>und</strong> systematische Überlegungen zur<br />

Vorgeschichte der neuzeitlichen topischen Dogmatik ................ 135<br />

Tim Lorentzen<br />

Johannes Bugenhagen <strong>und</strong> die Reformation inSkandinavien .......... 173<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong><br />

Die Leisniger Kastenordnung<br />

Das Modell einer sich selbständig finanzierenden Kirchgemeinde ...... 193


8 Inhalt<br />

Armin Kohnle<br />

Luther <strong>und</strong> das Landeskirchentum ............................. 213<br />

Christian Peters<br />

Württembergische Kirchenordnungen im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert ............ 229<br />

Christoph Strohm<br />

Reformation <strong>und</strong> Recht<br />

Gr<strong>und</strong>entscheidungen reformatorischen Kirchenrechts .............. 249<br />

Susanne Schuster<br />

Dialogflugschriften als Transformation des Disputationswesens ....... 277<br />

Ruth Slenczka<br />

Reformatorische Theologie in Bildern<br />

Auseinandersetzungen Lukas Cranachs des Älteren <strong>und</strong> des Jüngeren<br />

mit der Bibel .............................................. 291<br />

Antti Raunio †<br />

Bild <strong>und</strong> Bildlichkeit bei Luther ................................ 309<br />

Jyrki Knuutila<br />

Die Auswirkungen der Wittenberger Reformation auf Finnland<br />

1531 bis 1633 ............................................. 335<br />

Achim Detmers<br />

»Ränge im Theater Gottes«<br />

Calvin <strong>und</strong> Melanchthon als soziale Akteure im reformatorischen Feld .. 353<br />

Peter Opitz<br />

Heinrich Bullingers <strong>und</strong> Johannes Calvins Verständnis der christlichen<br />

Obrigkeit ................................................. 385<br />

Andreas Mühling<br />

Anmerkungen zur reformierten Katechismusbildung ............... 403<br />

Peter Marshall<br />

Kirchenordnungen in England im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert ................. 413


Inhalt 9<br />

<strong>Martin</strong> Rothkegel<br />

Nonkonformistische Wurzeln des modernen Freiheitsbegriffs<br />

Obrigkeitsverständnisse der täuferischen Bewegungen der Frühen<br />

Neuzeit .................................................. 433<br />

Stephen E. Buckwalter<br />

Amt <strong>und</strong> Ämter bei den Täufern der Reformationszeit ............... 465<br />

Peter Walter †<br />

Der Catechismus Romanus<br />

Seine Entstehung <strong>und</strong> seine Stellung im Rahmen der Katechismen des<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>erts ........................................... 479<br />

Ilmari Karimies<br />

Theologia crucis beim frühen Luther ............................ 501<br />

Christine Svinth-Værge Põder<br />

Kreuzestheologie in der Lutherforschung des 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ......... 533<br />

Anne Käfer<br />

Gibt es ein evangelisches Amtsverständnis? ...................... 553<br />

Philipp Stoellger<br />

Protestantischer Bildglaube <strong>und</strong> die Frage nach der Sichtbarkeit des<br />

Evangeliums .............................................. 571<br />

Matthias Scharer<br />

Kommunikative Theologie .................................... 631<br />

Orts- <strong>und</strong> Namensregister .................................... 647<br />

Autoren <strong>und</strong> Herausgeber .................................... 661<br />

Abbildungsnachweis ........................................ 665<br />

Abkürzungshinweis ......................................... 665


Einleitung<br />

<strong>Ausstrahlung</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerschein</strong><br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Wirkung der Wittenberger<br />

Universität im Europa des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong>, <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong>, <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Eine von mehreren Stadtansichten Wittenbergs aus der zweiten Hälfte des 16.<br />

<strong>und</strong> der ersten Hälfte des 17.Jahrh<strong>und</strong>erts trägt auf einem mehrfach gewendeten<br />

Spruchband, das über der gesamten Ansichtvon West nach Ost den Himmel ziert,<br />

die Aufschrift:<br />

»VERA IMAGO CELEBERRIMAE WITEBERGAE URBIS ELECTORALIS INCLITAE<br />

DOMUS SAXONIAE LUCIS FIDEI SALVIFICAE RENOVATAE MATRIS ET PROPA-<br />

GATRICIS«<br />

»GETREUES ABBILD DER WEITBEKANNTEN STADT WITTENBERG DES BERÜHM-<br />

TEN KURFÜRSTLICHEN HAUSES SACHSEN, DER MUTTER DES RETTENDEN, ER-<br />

NEUERTEN GLAUBENSLICHTS UND ORT SEINER AUSBREITUNG«<br />

Am rechten Rand, also im Osten, erstrahlt die Sonnenscheibe in vollem Glanz,<br />

so, als ob sie das, was Wittenberg ausmacht, nämlich die Mutterrolle bei der<br />

Erneuerung als Ausgangspunkt der Verbreitungdes Glaubenslichts, noch einmal<br />

verstärkt <strong>und</strong> in die Welt strahlt. Dabei ist es offenbar der Glanz der Universität<br />

Wittenberg, der sich auf die ganze Stadt überträgt.


12 <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong>, <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong>, <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Mit den Begriffen <strong>Ausstrahlung</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerschein</strong> knüpftder vorliegende Band<br />

metaphorisch an solche geradezu heilsgeschichtlichen Selbstdeutungen Wittenbergs<br />

an, die Begriffe Wahrnehmung <strong>und</strong> Wirkung fassen dies für die hier<br />

vorliegenden Einzelstudien stärker begrifflich. Angesichts der im Vorwort beschriebenen<br />

Entstehung dieses Bandes ist ein geschlossenes Bild von ihm nicht<br />

zu erwarten. Doch halten die Beiträge kirchenhistorische Zusammenhänge fest,<br />

die die <strong>Ausstrahlung</strong> Wittenbergs anhand ihrer spezifischen Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

der Wirkung der von ihr ausgehenden Lehren in europäischen Regionen (einschließlich<br />

von Regionen des Reichs selbst) dokumentieren, <strong>und</strong> bettet diese in<br />

systematisch- <strong>und</strong> praktisch-theologische Perspektiven auf ihre Nachwirkung<br />

<strong>und</strong> Gegenwartsrelevanz ein.<br />

Unter Wahrnehmung wird das Interesse an Wittenberg <strong>und</strong> seiner Reformation<br />

außerhalb Wittenbergs verstanden, das sich zunächst <strong>und</strong> auch nach der<br />

Entstehung eines evangelischen Kirchenwesens in Kursachsen weitgehend auf<br />

die Wittenberger Universität richtete. Wo es sich um AufnahmeoderAblehnung<br />

von Wittenberger Impulsen in Territorien bzw. Regionen oder bei Einzelpersonen<br />

bzw. Gruppen imeuropäischen Rahmen handelt, geht diese Wahrnehmung in<br />

Wirkung über. In einem weiteren Sinn konnte diese ihren Niederschlag in Reformbestrebungen<br />

finden, die innerhalbder altgläubig bleibenden europäischen<br />

Gesellschaft abliefen <strong>und</strong> zugleich ihrerseits an spätmittelalterliche Wurzeln<br />

anknüpften. Solche Wirkung konnte in ein aktives <strong>und</strong> positives (regionen-bzw.<br />

personen- oder gruppenspezifisches) Aufnehmen bzw. Modifizieren münden,<br />

ohne dass es dabei zu spezifisch reformatorischen Veränderungen wie am Ursprungsort<br />

Wittenberg kommen musste. Dabei liegt es auf der Hand, dass Anstöße,<br />

Gedankengut <strong>und</strong> LösungenWittenberger Provenienz beim Verlassen des<br />

unmittelbaren Wittenberger Kulturzusammenhangs regionenspezifische Modifikationen<br />

erfuhren <strong>und</strong> somit vielfach von partiell-regional spezifischer Wirkung<br />

zu sprechen ist.<br />

Sieht man die vielfachen Transformationsvorgänge, die die Reformation<br />

prägten <strong>und</strong> formten, versteht es sich von selbst, dass »<strong>Ausstrahlung</strong> <strong>und</strong> <strong>Widerschein</strong>«<br />

nicht ohne Weiteres mit jenem Ursprungsgestus der aufgehenden<br />

Sonne beschrieben werden kann wie in den Selbststilisierungen des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Gleichwie man dieZuordnung von Spätmittelalter <strong>und</strong>Reformationim<br />

Einzelnenvornimmt, wird eine Deutung der Reformationohne diese historische<br />

Tiefendimension nicht mehr erfolgen können – das gilt auch <strong>und</strong> gerade, wenn<br />

der Blick den deutschen Sprachraum überschreitet.<br />

AlbertdeLange setztsichanhand derFrage nach Widerstand <strong>und</strong>Gewaltmit<br />

der auf Matthias Flacius beruhenden Vorstellung von den Waldensern als »Lutheranern<br />

vor Luther« auseinander <strong>und</strong> zeigt, wie diese sich im16. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

vorwiegend unter dem Einfluss der Schweizer Theologie von Konzepten der Gewaltlosigkeit<br />

lösten <strong>und</strong> zunehmend Widerstand für erlaubt, ja, für nötig hielten.<br />

Im Blickauf diesichdabei vollziehende Transformationist de Langes Beobachtung


Einleitung 13<br />

besondersbemerkenswert,dassdie WaldenserimPiemontwie auch in Frankreich<br />

bereits1483/84 <strong>und</strong>1488militärisch Widerstand geleistethatten, ohne dass dies<br />

dann im Reformationsjahrh<strong>und</strong>ert reflektiert worden wäre. Von hier ausgehend<br />

wird zu überlegen sein, ob <strong>und</strong> inwiefern die mit Magdeburger Bekenntnis <strong>und</strong><br />

Monarchomachen verb<strong>und</strong>enenWiderstandstheorien vordiesemHintergr<strong>und</strong> neu<br />

zu bewerten sind.Nochkomplexer erscheinendie Entwicklungen, wenn manden<br />

dichten Überblick von <strong>Martin</strong> Wernisch über die Stellung der Hussiten zur Obrigkeitvon<br />

denAnfängenbis in das17. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein einbezieht.Geradebei<br />

dieser Fragewirddeutlich, wiestark dieKonzepte einerseits von denzunehmend<br />

auch reformatorischen theologischenEinflüssen abhingen,andererseitsaberauch<br />

Wandlungen durch die realhistorischen Geschehnisse <strong>und</strong> den sich damit ergebenden<br />

jeweiligen Neubewertungen von Obrigkeit unterlagen. Stärker auf die<br />

spirituellen spätmittelalterlichen Wurzeln der Reformation blickt <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

in seiner Darlegungzur spätmittelalterlichenkatechetischenLiteratur.Leitend ist<br />

im Blick auf die Reformation, dass Luther mit den Katechismen von 1529 gegenüber<br />

seinen Anfängen immer stärker gr<strong>und</strong>sätzlich argumentierte <strong>und</strong> damit,<br />

nach der frühen AnknüpfungankasuistischeZügemancher spätmittelalterlicher<br />

Texte, dieseimmer stärkerimSinne derDarlegung dertheologischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

in Katechismusform transformierte. Welch weit entfaltete Debattenkultur esim<br />

Mittelalter gab, ruft Florian Wöller mit seinem Beitrag über Disputationen in<br />

Erinnerung, indem er nicht allein auf die »klassischen« Formen der Universitätsdisputationverweist,<br />

sondernauchdas interessante Phänomen derScherzrede<br />

aufgreift. Zugleich hinterfragt er die gängige Unterscheidung von innerakademischen<br />

Disputationen <strong>und</strong> öffentlichkeitswirksamen Religionsgesprächen.<br />

In der Tat waren ja für die frühe Reformation Disputationen bedeutend, die<br />

den akademischen Rahmenöffneten, nicht zuletzt die Leipziger Disputation von<br />

1519. Den Hintergr<strong>und</strong> für die dort geführten Debatten um Jan Hus <strong>und</strong> dessen<br />

reformatorische Rezeption erhellt Stefan Michels. Ersortiert dieses stark<br />

durchpflügte Forschungsfeld, um im Ergebnis zu betonen, dass von einer Kontinuität<br />

Luthers zu Hus jedenfalls im Modus der Inanspruchnahme zu reden ist,<br />

insofernLuther sich positivauf Hus bezogen hat. Auf andere Weise hebt Günter<br />

Frank Kontinuitätslinien hervor, wenn er die lange Vorgeschichte der loci-Methode<br />

in der mittelalterlichen Debatte über die aristotelische Topik aufzeigt <strong>und</strong><br />

Melanchthon wie auch die altgläubigen<strong>und</strong> katholischenAutoren,die sich dieser<br />

Methode bedienten, in einen entsprechenden Kontext stellt.<br />

Dieser tiefen Verwurzelung im Mittelaltersteht die<strong>Ausstrahlung</strong>Wittenbergs<br />

gegenüber, die Tim Lorentzen anhand der für Skandinavien zentralen Gestalt<br />

Johannes Bugenhagens deutlich macht. Minutiös stellt erdessen Arbeit amAbschnittzur<br />

Fürsorgeinder dänischenKirchenordnung dar<strong>und</strong> machtsodeutlich,<br />

dass eine angemessene Einordnung von Bugenhagens Wirken in Skandinavien<br />

jenseits allgemeiner Schemata eben solcher philologischen Gr<strong>und</strong>lagenarbeit bedarf.<br />

Schon in dieser Studie zeigt sich, dass die rechtsförmige Fassung inKir-


14 <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong>, <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong>, <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

chenordnungenein zentralesElementder Wirkungder Wittenberger Reformation<br />

ist. <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong> betrachtet denLeisniger Ordnungsvorgangvon 1523 nichtnur<br />

unter dem Fürsorgeaspekt, sondern als ein Modell für die Bildung lutherischer<br />

Kirchgemeinden überhaupt, das unter dem direkten Einfluss <strong>Martin</strong> Luthers in<br />

Leisnig zuerster, wenn auch unvollkommener Gestaltung fand. Armin Kohnle<br />

erinnert an die Anfänge des landesherrlichen Kirchenregiments, ordnet sie im<br />

Gespräch mitder reichenLiteratur zu diesem Themaindie TheologieLuthers ein,<br />

fragt aber auch nach der Applizierbarkeit dieser theologischen Deutung in der<br />

Gegenwart. Am Beispiel der württembergischen Reformation zeigt Christian Peters<br />

dann,wie umfassenddieserRechtsgestaltungsprozesswar – <strong>und</strong>wie langeer<br />

sich hinzog:Zum eigentlichen Vollender der württembergischen Kirchenordnung<br />

wurde erst Jakob Andreae. Diese Studien können durch den gr<strong>und</strong>legenden Beitrag<br />

von Christoph Strohm auf den Gesamtrahmen reformatorischen Rechtsverständnisses<br />

bezogen werden. Strohm zeigt die theologische Gr<strong>und</strong>legung des<br />

Rechts beiLutherindessenBezogenheit aufdie Wortverkündigung,der allein die<br />

Qualifikation als göttliches Recht zukommt. Vonhier aus geht er Modifikationen<br />

bei Melanchthon <strong>und</strong> Bucer nach <strong>und</strong> stellt einen Bezug zuCalvin her, umin<br />

seinem Gesamtbef<strong>und</strong> daslutherische wiedas reformierteErbegleichermaßen als<br />

wichtige Beiträge zu einemgegenwärtigen Kirchenrechtsverständnis zu würdigen.<br />

Mit diesen Überlegungen zum Recht wird ein Prozess gewissermaßen von<br />

außen erfasst, der sich auf vielfältige Weise auch als kultureller Aushandlungs<strong>und</strong><br />

Erfahrungsprozess abgespielt hat. Exemplarisch steht hierfür zunächst<br />

Susanne Schusters Studie über Dialogflugschriften, die sie als Transformation<br />

des von Florian Wöller dargestellten spätmittelalterlichen Disputationswesens<br />

(s. o.) einordnet, wodurch ihnen eine zentrale Stellung für den Übergang vom<br />

universitären Wissenskosmos zur breiteren Wirksamkeit im lesefähigen Bürgertum<br />

zukam. Kulturelle Aneignungen bedeuten dabei immer auch eineeigene<br />

Weise der Transformation, wie Ruth Slenczka am Beispiel des älteren <strong>und</strong><br />

jüngeren Cranach deutlich macht, deren intensive Bibellektüre im reformatorischen<br />

Horizont frappierend ist <strong>und</strong> die als Künstler gleichwohl eine eigene<br />

Formsprache entwickelten, die die Bildmotivik mit beeinflusst hat. Kulturelle<br />

Reformation ist so nicht einfach als Anwendung reformatorischer Theologie zu<br />

verstehen,sondern als eine produktive Weiterentwicklung <strong>und</strong> Öffnung weiterer<br />

Dimensionen. Zugleich aber gehören auch diese kulturellen Wirkungen in den<br />

theologischen Horizont reformatorischen Denkens hinein. Das macht die intensive<br />

Studie von Antti Raunio † deutlich. Er erschloss Luthers Bildverständnis<br />

nicht, wie oft üblich, von den Konflikten um Bilderbeseitigungen, sondern von<br />

ihren Gr<strong>und</strong>lagen her <strong>und</strong> verband Luthers Theologie <strong>und</strong> Anthropologie nicht<br />

zuletzt mit der Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Der<br />

finnischen Reformationsforschung verdanken wir neben Raunios <strong>und</strong> dem unten<br />

genannten von Karamies einen weiteren Beitrag: Jyrki Knuutila beschreibt<br />

die finnische Wittenberg-Rezeption aus der Perspektive eines sehr langen Re-


Einleitung 15<br />

formationsjahrh<strong>und</strong>erts, das von den frühen 20er Jahren des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts bis<br />

weit in das 17. Jahrh<strong>und</strong>ert reicht. Berichtet wird über die Anzahl finnischer<br />

Studenten unter mehreren Königen Schweden-Finnlands, wobei deren soziale<br />

Herkunft, spätere Aufgabenbereiche <strong>und</strong> konkretes reformatorisches Handeln<br />

erfasst werden.<br />

Wie oben ausgeführt, gehörte zu den Fragestellungen des TARF-Projektes<br />

auch die nach Spuren Wittenberger Wirkungen in anderen reformatorischen<br />

Lagern.Dass einesolche Herangehensweise möglicherweise zu einfach ist <strong>und</strong> zu<br />

sehr traditionellen Denkmustern verhaftet bleibt, macht Achim Detmers in seinem<br />

Beitrag deutlich, der Calvin <strong>und</strong> Melanchthon weniger unter dogmatischkonfessionellen<br />

Gesichtspunktenbetrachtetals – angelehnt an Pierre Bourdieus<br />

Feldtheorie – im Blick darauf, wie sie sich im reformatorischen Feld positionierten<br />

bzw. darin positioniert wurden. Die konfessionellen Aushandlungsprozesse<br />

des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts erscheinen so als sehr dynamische Vorgänge. In<br />

gewisser Weise könnte man wohl auch Bullinger <strong>und</strong> Calvin in ein solches Feld<br />

einzeichnen, gerade weil Peter Opitz bei ihren Obrigkeitslehren markante Unterschiede<br />

aufzeigen kann: Während Bullinger im Rahmen der sichtbaren Kirche<br />

bürgerliche <strong>und</strong> kirchliche Gemeinde kaum effektiv unterschied, hat Calvin beide<br />

Regimente – man könnte fragen: auch im Sinne Luthers? – stärker unterschieden.<br />

Opitz sieht dieses Erbe durch Modifikationen hindurch in freien Kirchen der<br />

Folgezeit stärker gewahrt als in den offiziellen reformierten Kirchentümern mit<br />

ihrer faktisch engen Bindung an die Obrigkeit. Diese enge Verbindung hat, wie<br />

Andreas Mühling zeigt, auch stark auf die Katechismusbildung eingewirkt. In<br />

Heidelberg wie Zweibrücken stehen sie im Kontext einer Disziplinierung der<br />

Bevölkerung, zugleich aber auch eines starken Ausgleichs mit dem Luthertum<br />

bei gleichzeitig scharfer Abgrenzung vom Katholizismus. Das »Stigma«, ein reformierter<br />

Katechismus zu sein,ist der Heidelberger Katechismus dennoch in der<br />

Frühen Neuzeit <strong>und</strong> wohl auch bis heute nicht losgeworden. In seinem geradezu<br />

spannend zu lesenden Beitrag zu den im offiziellen England des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

fehlenden Kirchenordnungen geht Peter Marshall sowohl auf lutherische <strong>und</strong><br />

reformierte Einflüsse auf die eigentümliche englische, letztlich durch das Königtum<br />

organisierte Ausgestaltung einzelner Ordnungen in verschiedenen<br />

kirchlichen Bereichen ein,die den Anglikanismus bis heute prägen, aber zugleich<br />

in seiner Freiheit beschränken <strong>und</strong> historisch gesehen nicht die notwendigen<br />

Antworten bereithalten ließen.<br />

Die von Opitz angesprochene andere Seite freier Vergemeinschaftung nehmen<br />

<strong>Martin</strong> Rothkegel <strong>und</strong> Stephen Buckwalter in den Blick: Rothkegel führt<br />

in Aufnahme der fein differenzierten Forschung die Vielfalt der täuferischen<br />

Bewegung bis hin zu den Baptisten vor <strong>und</strong> lässt sodie Zentralintentionen der<br />

unterschiedlichen Gruppierungen erkennen. Buckwalter wiederum betont in<br />

aller Vielfalt anhand des Amtsverständnisses der Täufer deren gemeinsame<br />

Verwurzelung in den Theologien Zwinglis <strong>und</strong> Luthers, insbesondere in dessen


16 <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong>, <strong>Martin</strong> <strong>Hauger</strong>, <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Lehre vom allgemeinen Priestertum. Peter Walter † hatte es vermieden, den<br />

Catechismus Romanus einfachaus den reformatorischen Katechismustraditionen<br />

zu erklären – zu deutlich ist die Anknüpfung an die spätmittelalterliche Tradition.<br />

Aber er machte doch deutlich, dass der Catechismus Romanus, wohl nicht<br />

zuletzt deswegen, weil seine Autoren aus Ländernkamen, die nicht unmittelbar<br />

von der Reformation betroffen waren, nicht einfach als antireformatorisches<br />

Kampfprodukt zu verstehen ist, sondern bis in den Aufbau hinein Gemeinsamkeiten<br />

mit dem Heidelberger Katechismus aufweist. Solche Blicke transkonfessioneller<br />

Art vervielfältigen unsere Wahrnehmung des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong><br />

können dazu beitragen, die oben skizzierten Überlegungen zur »Wirkung« der<br />

Reformation noch weiter zu differenzieren.<br />

Speziell der »Kreuzestheologie« widmen sich zwei Beiträge, die noch einmal<br />

die Disputationsthematik aufnehmen. Ilmari Karamies entdeckt in einigen<br />

Thesen der Heidelberger Disputation von 1518 <strong>und</strong> weiteren Texten bis 1521 eine<br />

starke begriffliche Aufnahme aus Bonaventuras mystischen Texten in augustinischer<br />

Tradition durchLuther. Und Christine Svinth-VærgePõder untersucht<br />

die Rezeption von Luthers Kreuzestheologie zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

durch dialektische Theologie <strong>und</strong> Lutherrenaissance sowie das mit der Kreuzestheologie<br />

verb<strong>und</strong>enestarke Interesse der Systematischen Theologie bis zum<br />

Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts anhand ihrer epistemologischen, f<strong>und</strong>amentaltheologischen<br />

<strong>und</strong> praktischen Inanspruchnahmen.<br />

Põders Studie kommt damit den Gr<strong>und</strong>auffassungen des TARFentgegen, zu<br />

denen es auch gehört, dass reformatorische Theologie nicht allein durch historische<br />

Rekonstruktion zu erfassen ist, sondern auch etwas zur gegenwärtigen<br />

Debatte beitragen kann. Das macht auch der Beitrag von Anne Käfer zum reformatorischen<br />

Amtsverständnis an den durch Beschlüsse einzelner Kirchen<br />

immer wieder aktuellen Fragestellungen wie der Bedeutung von Homosexualität<br />

oder biologischem Geschlecht deutlich: Maßstab für die Amtsführung kann<br />

nicht menschlich bef<strong>und</strong>ene Würdigkeit zur Amtsführung sein, sondern allein<br />

der Auftrag, das Evangelium von der Rechtfertigung des Sünders zuverkündigen.<br />

Wie problematisch dienstrechtliche Übergriffe auf die pfarramtliche Lebensführung<br />

sind, zeigt aus ganz anderer Perspektive Philipp Stoellger mit der<br />

Reflexion, ob dergleichen nicht den Pfarrer zu einem lebendigen Bild, gar zu<br />

einem Sakrament des Evangeliums mache. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> solcher problematischen<br />

Züge in der Wanderung protestantischer Bildvorstellung von<br />

klassischen Typen der Bildlichkeit zulebenden Verkörperungen fordert er eine<br />

reformatorisch mündige Bildkritik – freilich keinen Bildersturm. Sein Beitrag<br />

stellt auch eineWürdigung des Bildes als Medium der göttlichen Selbstmitteilung<br />

dar, <strong>und</strong> dies im Rahmen einer Theorie visueller Kommunikation. Eben hieran<br />

kann der abschließende Beitrag von Matthias Scharer anknüpfen, der das von<br />

ihm <strong>und</strong> Bernd-Jochen Hilberath gemeinsam entworfene Konzept einer Kom-


Einleitung 17<br />

munikativen Theologie entfaltet, die konfessionelle <strong>und</strong> auch religiöse Grenzen<br />

überschreitet.<br />

Damit läuft der vorliegende Band in Perspektiven aus, die ein Ende der<br />

Spaltungen aus der Reformationszeit in den Blick nehmen. Wie immer diese<br />

Prozesse sich gestalten, ist es seine Aufgabe, in alle Transformationsprozesse<br />

hinein das Erbe der Wittenberger Reformation in Erinnerung <strong>und</strong> zur Geltungzu<br />

bringen.


Wehrhafte evangelische Christen –<br />

Waldenser im Widerstand 1<br />

Albert de Lange<br />

Was ist mit »wehrhaften Christen« bzw. mit »Widerstand« gemeint? Zunächst<br />

sollten »Notwehr« <strong>und</strong> »Gegenwehr« unterschieden werden. Bei »Notwehr«<br />

handelt es sich um die gewaltsame Verteidigung einer Person gegen Gewalt, die<br />

von einer anderen Person ausgeht. Notwehr darf zum Schutz von eigenem Leib,<br />

Leben <strong>und</strong> Eigentum ausgeübt werden. Das Notwehrrecht leitet sich aus dem<br />

römischen Rechtsgr<strong>und</strong>satz »Vim vi repellere licet« (»Gewalt darf mit Gewalt<br />

erwidert werden«) ab.<br />

Bei »Gegenwehr« handelt es sich dagegen um aktiven, d. h. bewaffneten<br />

Widerstand von Personen, niedrigen Obrigkeiten oder Minderheiten gegen den<br />

Staat. Oft ist bewaffneter Widerstand die ultima ratio, wenn alle Versuche eines<br />

passiven Widerstands fruchtlos geblieben sind. Die Gegenwehr dient der Verteidigung<br />

oder Wiederherstellung der Rechte von Untertanen, die von staatlichen<br />

Organen oder Gesetzen verletzt worden sind.<br />

Die Waldenser wurden seit ihrer Entstehung im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert von Kirche<br />

<strong>und</strong> Staat als »Ketzer« verfolgt. Darauf reagierten sie im Allgemeinen mit passivem<br />

Widerstand. Das änderte sich gr<strong>und</strong>legend, nachdem sie sich 1532 der<br />

Reformation angeschlossen hatten. Nun wählten sie den Wegder Gegenwehr. In<br />

diesem Beitrag soll geklärt werden, warum die Waldenser diese Entscheidung<br />

trafen <strong>und</strong> wie sie diese begründeten.<br />

Der Beitrag ist in vier Teile untergliedert: Erstens: Was stellte man sich in<br />

Deutschland am Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts unter Waldensern vor? Zweitens:<br />

Wo gab es damals überhaupt noch Waldenser?Drittens: Waren die Waldenser vor<br />

1532 noch gewaltlos? Viertens: Wann <strong>und</strong> warum entschieden sie sich für die<br />

Gegenwehr? Eine Bilanz beschließt den Beitrag.<br />

1<br />

Vortrag auf der 37. Tagung des TARF in Wittenberg am 6. September 2013. Der Text<br />

wurde aktualisiert. Ich danke <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong> <strong>und</strong> Gerhard Schwinge für ihre gewissenhafte<br />

sprachliche Bearbeitung meines Textes, Daniele Tron für seine wertvollen inhaltlichen<br />

Hinweise.


20 Albert de Lange<br />

1Was stellte man sich in Deutschland am Anfang des<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>erts unter »Waldensern« vor?<br />

Vermutlich 1174 entschied ein bestimmter Valdesius von Lyon, fortan so zu<br />

leben, wie Jesus es von seinen Aposteln gefordert hatte (Mk 6,7–11): Er gab sein<br />

Geld den Armen <strong>und</strong> zog als Wanderprediger umher. Als der Erzbischof von Lyon<br />

ihm verbot zu predigen, antwortete er ihm wie Petrus den Hohenpriestern: »Man<br />

muss Gott mehr gehorchen als den Menschen« (Apg 5,29) 2 – der locus classicus<br />

des Widerstands gegen kirchliche <strong>und</strong> staatliche Autoritäten. 1184 wurden<br />

Valdesius <strong>und</strong> seine Anhänger in Verona als Ketzer verurteilt, da sie sich als Laien<br />

das Recht anmaßten, wie die Apostel predigen zu dürfen. In diesem Urteil wurden<br />

sie »Arme von Lyon« genannt, 3 also wie andere ketzerische Sekten (z. B. die<br />

Albigenser) nach ihrem Herkunftsort. Bald tauchten auch die Bezeichnungen<br />

»Valdenses« oder »Vaudois« auf. Damit sollten die Laienprediger als Schüler des<br />

Ketzers Valdesius (französ. Valdes oder Vaudes) diskreditiert werden. Die Waldenser<br />

selbst lehnten die Bezeichnungen »Arme von Lyon« oder »Waldenser« ab. 4<br />

Seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert legten die römischen Polemiker <strong>und</strong> Inquisitoren<br />

Listen der errores an, die ihrer Meinung nach typisch für die Sekte der Waldenser<br />

waren.Solche Listen zirkulierten bis in die Neuzeit <strong>und</strong> dientenzur Identifikation<br />

der Waldenser. Zwei davon findet man in der Flugschrift: »Artickel un[d] ursprung<br />

der waldenser: vnd der armen von Lugdun /auch Joannis wicleffen /vnd<br />

Joannis Hussen«, die ohne Angaben zu Autor, Jahr, Druckort bzw. Verleger erschien.<br />

5 Der unbekannte Autor gehörte jedoch allem Anschein nach zur römischen<br />

Kirche. NachVD16 erschien dieFlugschrift1524 6 bei Jobst Gutknecht 7 in<br />

2<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

Das erzählt Stephan von Bourbon, Deseptem donis spiritus sancti. Text u.a. in:<br />

Giovanni Gonnet (<strong>Hrsg</strong>.), Enchiridion fontium Valdensium. Recueil critique des sources<br />

concernant les Vaudois au Moyen a ge 2, De la finduXIIe au début du XIVesiècle (Collana<br />

della Facoltà valdese di teologia 22), Torino 1998, 99–108, hier 100.<br />

Es handelt sich um die Dekretale »Ad abolendam diversarium haeresium pravitatem«.<br />

Text u.a. in: Giovanni Gonnet (<strong>Hrsg</strong>.), Enchiridion fontium Valdensium. Recueil critique<br />

des sources concernant les Vaudois au Moyen a ge 1(Collana della Facoltà valdese di<br />

teologia; 1), Torre Pellice 1958, 50–53, hier 51.<br />

Vgl. Grado G.Merlo:Pauperes spiritu valdesi, in: Susanna Peyronel Rambaldi (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Identità valdesi tra passato epresente. Atti del LV Convegno di studi sulla Riforma esui<br />

movimenti religiosi in Italia, Torre Pellice, 4. ⌦6. settembre 2015 (Collana della Società di<br />

Studi Valdesi 40; BSSV 113 (2016) Nr. 219), Torino 2016, 15–26.<br />

Die Flugschriftist online einsehbar unter .<br />

VD16 A3849: 1524; Thomas Kaufmann, Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu<br />

Buchdruck <strong>und</strong> Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren <strong>und</strong> deren


Wehrhafte evangelische Christen –Waldenser im Widerstand 21<br />

Nürnberg; allerdings dürfte 1523 als Druckjahr wahrscheinlicher sein. 8 Sie<br />

enthält außer dem Titelblatt 13 nicht nummerierte Druckseiten. 9<br />

Die Flugschriftrichtet sich zuerst gegen die Waldenser: nach der »anzeygung<br />

ires ursprungs« (1–3) folgen die »Errores Waldensium« (3–5) <strong>und</strong> die »Errores<br />

pauperum de Lugduno« (5–8). Hierauf folgen die »Errores Johannis wycleff« (8–<br />

11) <strong>und</strong> die »Errores Johannis Hussen Bohemi« (12–13) 10 .Das Heft endet mit<br />

einem kurzen Hinweis auf Petrus von Dres[d]en <strong>und</strong> die Hinrichtungen von Hus<br />

<strong>und</strong> Hieronymus von Prag während des Konstanzer Konzils 1415, bzw. 1416<br />

(13). Es ist klar, dass der Autor die Irrtümer von Jan Hus auf die der Waldenser<br />

zurückführen möchte, auch wenn er keine direkte Verbindung zieht, sondern<br />

eine Verbindung über Wycliff, der ein Schüler der Waldenser gewesen sei. 11 Hus<br />

habe die »artickel Wycleffs«weiter in Böhmen verbreitet <strong>und</strong> öffentlich gepredigt.<br />

Eine solche »Genealogie« der Ketzereien war nicht neu. Im Lauf des<br />

15. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden im Reich mehrere handschriftliche Sammelbände –<br />

meistens in lateinischer Sprache – angelegt, in denen Traktate gegen die Waldenser<br />

<strong>und</strong> Listen ihrer errores kopiert <strong>und</strong> mit Dokumenten zu zeitgenössischen<br />

Ketzereien, wie zu den Hussiten, ergänzt wurden. Solche Sammelbände »demonstrate<br />

how the memory and <strong>und</strong>erstanding ofWaldensianism […] were revitalized<br />

in the fifteenth century for polemical attacks on new heresies.« 12<br />

Die »Artickel un[d] ursprung« von 1523 stehen noch in dieser Tradition. Der<br />

Autor legte einen kleinen Sammelband mit Kurzbeschreibungen der Ketzereien<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

Strategien, Inszenierungs- <strong>und</strong> Ausdrucksformen, Tübingen 2019, 596, Anm. 594,<br />

schlägt 1525 vor.<br />

Kaufmann, a.a.O., 596, hält diese Zuschreibung für »unstrittig«. Zu Gutknecht siehe<br />

Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>erts im deutschen<br />

Sprachgebiet. Auf der Gr<strong>und</strong>lage des gleichnamigen Werks von Josef Benzing (Beiträge<br />

zum Buch- <strong>und</strong> Bibliothekswesen 51), Wiesbaden 2 2015, 665 f.<br />

Laut <strong>Martin</strong> Brecht, Kaufpreis <strong>und</strong> Kaufdaten einiger Reformationsschriften, GutJB<br />

(1972), 169–173, hier 172, wurde es am 9. Oktober in Tübingen 1523 erworben; Valdo<br />

Vinay, Dottrine eorigine dei valdesi, in: BSSV (Juni 1978) Nr. 143, 57–61, hier 57, gibt<br />

Notizen wieder, die an ein noch früheres Erscheinungsdatum denken lassen.<br />

Die Flugschrift erschien im Oktavformat (19x15 cm, 8unpag. Bl.); für das leichtere<br />

Zitieren wird der Textteil von 1bis 13 durchnummeriert.<br />

Vgl. Amy Nelson Burnett, Karlstadt and the origins of the Eucharistic controversy.<br />

Astudy in the circulation of ideas, Oxford 2011, 83.<br />

8: »In sollicher obgemelter /der Waldenser <strong>und</strong> Lugduner ketzerey un[d] /bubenschule/<br />

ist erzogen Joha[n]nes Wycleff in Engelandt /welcher so studieret <strong>und</strong> geleret wardt /hat<br />

er solliche Secten seines höchsten vermögens /auch mit den schul künsten verblümet<br />

unnd gespicket.«<br />

Ein Beispiel ist die Handschrift MSM.ch. f. 51 in der Universitätsbibliothek von<br />

Würzburg; vgl. Reima Välimäki, Heresy in late medieval Germany. The inquisitor Petrus<br />

Zwicker and the Waldensians, Woodbridge 2019, 149 f., 164–167, 278f., Zitat 168.


22 Albert de Lange<br />

<strong>und</strong> Listen ihrer Irrtümer an. Er revitalisierte vor allem dieErinnerungen an die<br />

Waldenser, die es inzwischen in Deutschland nicht mehr gab (außer,wie ich noch<br />

zeigen werde, die zu Unrecht mit den Waldensern identifizierten Böhmischen<br />

Brüder).Esgibt außerdem Sätze, in denen er sich auch gegen neue Ketzereienzu<br />

wehren scheint, aber es bleibt unklar gegen welche. Der konkrete Anlass für die<br />

Veröffentlichung ist nicht ermittelbar.<br />

Wir beschränken uns hier auf die Seiten, die die Waldenser betreffen. 13 In<br />

dieser Hinsicht ist die Flugschriftein Sonderfall. Es gibt kaum deutschsprachige<br />

Schriften nach 1517, in denen noch solche ausführlichen älteren Irrtumslisten<br />

der Waldenser in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. 14 Wir versuchen<br />

zuerst zu bestimmen, welche Quellen der anonyme Autor benutzt hat, <strong>und</strong> fragen<br />

dann, welches Bild er von den Waldensern vermittelt, insbesondere bezüglich<br />

ihres Umgangs mit dem Eid <strong>und</strong> mit staatlicher <strong>und</strong> kirchlicher Ausübung von<br />

Gewalt.<br />

Der anonyme Autor beschreibt zuerst kurz die Entstehung der Waldenser.<br />

Dabei stützt er sich zu Beginn auf eine lateinische Handschrift mit dem Incipit<br />

»Cum dormirent homines« von 1395, 15 die heute Peter Zwicker zugeschrieben<br />

wird, einem Inquisitor, der die Waldenser im Reich zwischen 1390 bis 1404<br />

verfolgte. Zwicker zufolge habe ein reicher Mann namens Petrus während der<br />

Zeit des Papstes Innozenz II. (1130–1143) die Sekte der Waldenser in der Stadt<br />

Walden 16 gegründet. Andere behaupten, dass dieser Petrus aus Lugdun (Lyon)<br />

stammte <strong>und</strong> mit dem »Zunamen« Waldo genannt wurde.Er<strong>und</strong> seine Anhänger<br />

wollten wie die Apostel in freiwilliger Armut leben. Einer seiner Anhänger sei<br />

Johannes von Lugdun 17 gewesen (S. 1).<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

Wir folgen <strong>und</strong> ergänzen Vinay, Dottrine (s. Anm. 8).<br />

Zwischen 1517 <strong>und</strong> 1556, dem Jahr, in welchem Matthias Flacius Illyricus seinen<br />

»Catalogus testium veritatis« veröffentlichte, erschienen auch kaum lateinische Werke in<br />

Deutschland, in denen waldensische Quellen aus dem Mittelalter veröffentlicht wurden.<br />

Zuerst erschien diese Handschrift unter dem Titel: Tractatus contra haeresin Waldensium,<br />

in: Jacob Gretser (<strong>Hrsg</strong>.), Lucae Tudensis episcopi, Scriptores Aliquot Succedanei<br />

Contra Sectam Waldensium, Ingolstadt 1613, 201–276, hier 205. Er schrieb den Traktat<br />

Petrus von Pilichsdorf zu; vgl. Välimäki, Heresy (s. Anm. 12), 64–71.<br />

Meistens wird in den mittelalterlichen Quellen von »a regione Waldis« gesprochen,<br />

womit wohl die Region »Vaud« (Waadtland) gemeint ist.<br />

Peter Zwicker entnahm den Namen Johannes von Lugdun dem Briefwechsel der italienischen<br />

mit den österreichischen Waldensern von 1367. Ersollte nicht identifiziert<br />

werden mit dem katharischen Bischof, den Rainer Sacconi irrtümlich Joannes de Lugduno<br />

nennt (Raineri ordinis Praedicatorum liber contra Waldenses haereticos, in:<br />

Gretser, Lucae Tudensis episcopi, 46–90, hier 70, 72–77); es handelt sich dabei um<br />

Giovanni di Lugio.


Wehrhafte evangelische Christen –Waldenser im Widerstand 23<br />

Der Autor von »Artickel un[d] ursprung« schreibt nun diesem Johannes von<br />

Lugdunum eine Hauptrolle in der weiteren Entwicklungdes Waldensertums zu,<br />

die sich sonstnichtsoinden mittelalterlichen Quellen belegen lässt. Dieser habe,<br />

weil er »nit weniger dann Petrus Waldow« (S. 1) sein wollte, zwei eigene Sekten<br />

gegründet. Die Mitglieder der ersten Sekte bekamen den Namen »Pauperes de<br />

Lugduno«. 18 Diese wollten sich nicht wie die ursprünglichen Waldenser auf ein<br />

Leben in apostolischer Armut beschränken, sondern wie die Apostel auch predigen<br />

(S. 2).<br />

Die zweite Sekte habe Johannes von Lugdunum die »Eva[n]gelischen genennet/vn[d]<br />

damit vil simpler vn[d] ungelerter layen verfüret/vnterricht[et]<br />

vn[d] angehalten/dass sie allain nach dem Ewangelio leben/vnd das schlecht<br />

nach dem geschriben sinn halten solten« (S. 2). Ihr Evangelikalismus (wie wir<br />

heute sagen würden) habe sie zu weiteren Irrtümern geführt, »die sie noch<br />

heutigs tags/…/wiewol nit offentlich/doch haimlich nit unterlassen zu meren <strong>und</strong><br />

auß zu preyten mit Rat ires schulmaisters des teuffels« (S. 3). Es ist unklar, woher<br />

der Autor der »Artickel« die Bezeichnung »Evangelischen« übernommenhat; sie<br />

ist im Mittelalter als Namen für die Waldenser nicht belegt. Es gibt keinen<br />

Hinweis, dass er damit eine Verbindung zwischen den Waldensern <strong>und</strong> Luther<br />

herstellen wollte. Zwar verwendet der Autor bei der Beschreibung beider Sekten<br />

Aussagen aus der Handschrift »De inquisitione hereticorum«, die vermutlich<br />

zwischen 1256 <strong>und</strong> 1271 von dem Franziskaner David von Augsburg verfasst<br />

wurde, aber dieser zielte, als er von zwei Sekten sprach, 19 auf den Unterschied<br />

zwischen den Vollkommenen (den Wanderpredigern) <strong>und</strong> deren (unvollkommenen)<br />

»auditores« innerhalb der Waldenserbewegung 20 <strong>und</strong> meinte nicht zwei<br />

Abspaltungen von den ursprünglichen Waldensern.<br />

Anschließend veröffentlicht der Autor die erste Liste mit 18 »errores« der<br />

Waldenser. Sicherlich verfügte er über eine lateinische Vorlage, dieich aber nicht<br />

auffinden konnte. Viele dieser Irrtümer finden sich, sei es auch in anderer Anordnung<br />

<strong>und</strong> unterschiedlicher Formulierung, wieder in der Liste der etwa 90<br />

18<br />

19<br />

20<br />

Laut Zwicker hat Johannes ihnen diesen Namen gegeben; Gretser (<strong>Hrsg</strong>.), Tractatus<br />

(s. Anm. 15), 205, Marginalie.<br />

Gonnet (<strong>Hrsg</strong>.), Enchiridion 2(s. Anm. 2), 145–172, hier 158; »Duo sunt genera secte<br />

ipsorum«.<br />

A.a. O., 158–160. Die perfecti werden »Pover de Leun« oder »Apostolici« genannt, die<br />

zweite Sekte »imperfecti«. Vgl. zu dieser Zweiteilung Peter Segl, Die Waldenser in<br />

Österreich um 1400. Lehren, Organisationsform, Verbreitung <strong>und</strong> Bekämpfung, in:<br />

Albert de Lange/Kathrin Utz Tremp (<strong>Hrsg</strong>.), Friedrich Reiser <strong>und</strong> die »waldensischhussitische<br />

Internationale«, Akten der Tagung Ötisheim-Schönenberg, 2. bis 4. Oktober<br />

2003 (Waldenserstudien 3), Heidelberg 2006, 161–188, hier 169.


24 Albert de Lange<br />

»errores«des InquisitorsPeter Zwicker 21 <strong>und</strong> in anderen Listen 22 aus den 1390er<br />

Jahren. Die waldensischen Prediger treten als Beichtväter auf <strong>und</strong>sprechen ihre<br />

Anhänger von Sünden frei; obwohl sie als Laien ungelehrt <strong>und</strong> ungeweiht sind,<br />

konsekrieren sie den Leib Christi <strong>und</strong> reichen die Hostie sich selbst <strong>und</strong> den<br />

anderen (S. 3). 23 Error 18 bezieht sich auf die Verweigerung des Eides durch die<br />

Waldenser: »Alle ayde inGerichte seind schedliche sünde. Die weyl Christus<br />

gesagt. Ich sage euch gar nit zu schweren« (S. 5). 24<br />

Die darauffolgende zweite Liste, die 25»errores der pauperum de Lugduno«<br />

<strong>und</strong> der »Evangelischen« enthält (S. 5), ist eine wörtliche Übersetzung der Liste<br />

des David von Augsburg in »De inquisitione haereticorum«. 25 Die ersten beiden<br />

Irrtümer lauten: »Das sie allain seind die christliche Kirche un[d] die waren<br />

junger Christi. Das sie allain als die waren nochfolger der Apostel/haben gewalt<br />

auff zu lösen <strong>und</strong> zu binden die sünde« (S. 5). Als error [18] wird wiederum die<br />

Eidverweigerung aufgeführt: »Alle ayde seind unzimlich un[d] todtsünde/auch<br />

in warhafftigen dingen. Aber vnter ihnen dispensiren sie/das einer schweren<br />

mag/so er damit sein leben retten kan/oder einer andern irer Secten nit verraten/<br />

oder die haimligkait ires unglaubens nit öffenen.« (S. 6). Auf diese Dispensation<br />

komme ich unten zurück. In dieser zweiten Liste wird als error [20] erwähnt:<br />

»Kain übeltheter sol getödtet werden/durch weltlich gerichte.« Diesen Irrtum<br />

findet man ebenfalls fast inallen Irrtumslisten, eher selten ist der Zusatz: »Und<br />

etzlich auß inen sagen/das auch die thiere vnd vische/nit sollen getödt werden«<br />

(S. 6). 26<br />

Kurzum,der Autor der Flugschrift»Artickel un[d] ursprung«greiftauf ältere<br />

Ursprungsgeschichten der Waldenser bzw. zwei Listen der waldensischen »errores«<br />

zurück, die im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert im deutschen Sprachgebiet vielfach abgeschrieben<br />

wurden. Indiesen Listen werden Eidverweigerung <strong>und</strong> Ablehnung<br />

der richterlichen Todesstrafe fast immer aufgeführt. Seltener ist die Ausnah-<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

Eine moderne kritische Edition fehlt. Ignaz von Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte<br />

des Mittelalters, Bd. 2, München 1890, 305–311, deutsche Übersetzung in:<br />

PetraSeifert (<strong>Hrsg</strong>.), Geheime Schriften mittelalterlicher Sekten, Augsburg 1997,371–<br />

377; vgl. Segl, Die Waldenser (s. Anm. 20), 163–169, der an einigen Punkten die Edition<br />

v. Döllingers korrigiert. Välimäki, Heresy (s. Anm. 12), 111, Anm. 29.<br />

So z. B. die Articuli Waldensium aus dem »Processus Petri«. Välimäki, Heresy<br />

(s. Anm. 12), 110, Anm. 23.<br />

Vgl. Segl, Die Waldenser (s. Anm. 20), 166–167.<br />

Vgl. v. Döllinger (s. Anm. 21), 309 (Error 67); Segl, Die Waldenser (s. Anm. 20), 168<br />

(Nr. 68).<br />

Siehe Gonnet (<strong>Hrsg</strong>.), Enchiridion 2(s. Anm. 2), 145–172, hier 154–158.<br />

Anschließend zeigt David von Augsburg noch, wie die Waldenser dieses Verbot, Tiere<br />

<strong>und</strong> Fische zu töten, kreativ umgehen. Vgl. Carlo Papini, Valdo di Lione ei»poveri nello<br />

spirito«. Il primo secolo del movimento valdese (1170–1270), Torino 2001, 434 f.


Wehrhafte evangelische Christen –Waldenser im Widerstand 25<br />

meregelung für die Eidesleistung <strong>und</strong> auch das Verbot, Tiere <strong>und</strong> Fische zu töten.<br />

Dagegen hat der Autor einen üblichen Vorwurf an die Adresse der Waldenser<br />

weggelassen: »Ferner verurteilen <strong>und</strong> verwerfen sie den Apostolischen Herrn<br />

[den Papst], daerKrieger zum Kreuzzug gegen die Sarazenen ausschickt <strong>und</strong><br />

gegen alle möglichen Heiden predigt.« 27<br />

2Wogab es damals »Waldenser«?<br />

Im Laufe des Mittelalters verfolgte die Kirche viele Personen <strong>und</strong> Gruppen als<br />

»Valdenses« oder »Pauperes de Lugduno«. Es handelte sich nicht nur um Laienprediger<br />

(»perfecti«), die auch als Beichtväter auftraten <strong>und</strong> in Keuschheit <strong>und</strong><br />

Armut lebten, sondern auch um die »auditores« oder »credentes«, die die Dienste<br />

dieser Laienprediger bzw. Beichtväter in Anspruch nahmen. Diese Personen <strong>und</strong><br />

Gruppen lebten von der Ostsee bis zum Mittelmeer in der romanischen <strong>und</strong><br />

germanischen Welt. Es ist schwer zu klären, ob <strong>und</strong> inwieweit alle diese »Waldensertümer«<br />

in Kontinuität zu Valdesius sowie auch in Verbindung zu einander<br />

standen. Zwischen 1390 <strong>und</strong> 1404 wurden viele »Waldensertümer« durch die<br />

Inquisition, insbesondere die des Peter Zwicker, ausgelöscht.<br />

Um 1500 sind noch zwei Gruppen von Dissidenten auszumachen, die sich<br />

angeblich der »errores« der Waldenser schuldig machten <strong>und</strong> deshalb als<br />

»Waldenser« diskreditiert wurden. Erstens die Bevölkerung einiger Täler in den<br />

Cottischen Alpen, einem Grenzgebiet zwischen Frankreich <strong>und</strong> Italien. Dort<br />

ist das Waldensertum seit 1297 bezeugt. Die eine Hälfte der Waldenser, möglicherweise<br />

1500 bis 2000 Personen,lebte im Pragelatatal in der Dauphiné, die seit<br />

1349 zu Frankreich gehörte. 28 Die andereHälfte lebte in den benachbarten Tälern<br />

im Piemont, das dem Haus Savoyen unterstand. Die Waldenser bildeten hier<br />

27<br />

28<br />

v. Döllinger, Beiträge (s. Anm. 21), 309 (error 69); Seifert (<strong>Hrsg</strong>.), Geheime Schriften<br />

(s. Anm. 21), 375; vgl. Segl, Die Waldenser (s. Anm. 20), 168.<br />

Grado G. Merlo, Val Pragelato 1488. La crociata contro ivaldesi. Un episodio di una<br />

lunga storia (Monografie edite in occasione del XVII febbraio), Torre Pellice 1988, 33:<br />

1475 gab es 370 Familienoberhäupter im Pragelatal. Der Zahl der Waldenser war um<br />

1500 durch den Kreuzzug von 1488 <strong>und</strong> durch Auswanderung sicherlich reduziert. 1685<br />

bis 1687 lebten dort etwa 7000–8000 Personen, die bis auf wenige Ausnahmen vor 1685<br />

alle Waldenser waren; Daniele Tron, Le migrazioni per cause di religione in alta Val<br />

Chisone fra il 1685 eil1730, in: Raimondo Genre(<strong>Hrsg</strong>.), Vicende religiose dell’alta Val<br />

Chisone (Collana di studi storici dell’Associazione culturale »La Valaddo« 1), Villaretto-<br />

Roure 2005, 153–185, hier 160 f.


Das Verständnis der Obrigkeit im<br />

Hussitismus <strong>und</strong> in der böhmischen<br />

Reformation<br />

<strong>Martin</strong> Wernisch<br />

Gleich am Anfang sei es gesagt: Das Obrigkeitsverständnis der böhmischen<br />

Reformation stellt keinen geschlossenen selbständigen Typ dar, der als eine<br />

Alternative zur europäischen Reformation allgemein gelten könnte.Ergehört in<br />

deren Rahmen. Wie viele andere Möglichkeiten boten sich, wenn die Reformatoren<br />

den Zwang des kanonischen Rechts durchbrechen, aber gleichwohl eine<br />

Rechtsform begründen wollten, um nicht jede Ordnung zu zerrütten? Und das<br />

galt für die meisten von ihnen, auch in Böhmen. Deshalb setzte man auch dort<br />

stark auf die Magistrate.<br />

Aber bei nähererem Hinsehen hatte die Entwicklung injedem Land ihre<br />

eigenen Züge. Sie konnten gerade dort nicht fehlen, wo man ungeduldig schon<br />

h<strong>und</strong>ert Jahre vor Luther den gewohnten Rahmen sprengte. Die Geschichte der<br />

böhmischen Reformation kann eine vielschichtige Problematik anschaulich<br />

machen,bisweilen auch gewohnte Sichtweisen in Frage stellen. Im Rahmeneines<br />

kurzen Beitrages kann das nicht ausführlich dargelegt werden. Deshalb soll ein<br />

gedrängter Überblick über einschlägige Themen geboten <strong>und</strong> wenigstens auf<br />

etliche hervorstechende Ereignisse <strong>und</strong> Konstellationen aufmerksam gemacht<br />

werden.<br />

1Jan Hus <strong>und</strong> die Zeit der hussitischen Kriege<br />

In den Anfängender protoreformatorischen Bewegungschien es auch in Böhmen<br />

möglich, die Landeskirche unter den Patronat des Herrschers zu stellen. Für die<br />

Jahre 1409 bis 1412 kann von einer »Reformunion unter königlichem Schutz«<br />

gesprochen werden. 1 Jan Hus hatte das Format eines echten Reformators, da es<br />

ihm glückte, seine theologische Lehre mit durchschlagender Predigt zu verbinden,<br />

die die verschiedensten Gesellschaftsschichten ansprach. Die weltliche<br />

1<br />

Franti ek mahel, Die hussitische Revolution 2(Schriften der Monumenta Germaniae<br />

Historica 43), Hannover 2002, 832 (als Überschrift eines ganzen Kapitels).


48 <strong>Martin</strong> Wernisch<br />

Obrigkeit erreichte er ebenfalls. Nach der These, die bereits John Wyclif ausbildete,<br />

sollte gerade die Obrigkeit eingreifen, um zu einem geordneten geistlichen<br />

Leben zurückzukehren, falls der Klerusselbstnicht auf weltliche Herrschaft<br />

verzichten wollte. Um Hus mit wenigen Worten zu zitieren <strong>und</strong> somit einen<br />

flüchtigen Eindruck von seiner Theologie zu gewinnen:»Weltlich zu regieren <strong>und</strong><br />

die Steuer einzutreiben, das gebührt vorzugsweise dem Kaiser <strong>und</strong> König […]<br />

nicht dem Papst.« Und: »Das bürgerliche Recht ist ein Recht, das die Menschen<br />

der Sünde wegen erdacht haben, um die Zwangsmacht des Staates zum Schutz<br />

des Lebens<strong>und</strong> der Güter zu wahren, wie das evangelische Recht wiederum zum<br />

Schutz der Gnadengaben führt.« 2 Das der Obrigkeit auferlegte Vorgehen war<br />

riskant, doch es konnte für sie zu guten Ergebnissen führen.Eskonnte zu einer<br />

Läuterungdes Christentums beitragen, den Ruf guter Herrschaftzuerlangen <strong>und</strong><br />

zugleich noch die eigene Stellung zu festigen.<br />

Der böhmische König Wenzel IV. war jedoch kein Friedrich der Weise. Er<br />

verfolgte lediglich seine politischen Interessen, <strong>und</strong> sobald die Reformbewegung<br />

sie durchkreuzte, entzog er Hus seinen Schutz, bezeichnenderweise anlässlich<br />

einer Ablasskampagne. Auf prinzipienfeste Worte in Konstanz, die nah verwandt<br />

jenen späteren in Worms waren, folgte keine Wartburg, sondern der Scheiterhaufen.<br />

Aber die Wirkung von Hussens Botschaft wurde dadurch nicht gebrochen.<br />

Nachdem König Wenzel 1419 gestorben war, stellte die empörte böhmische<br />

Gesellschaft dem Thronfolger Sigism<strong>und</strong> mittels ihrer ständischen Repräsentation<br />

ihre Bedingungen 3 – vor allem diejenige der Freiheit des Gotteswortes. Die<br />

Zulässigkeit päpstlicher Eingriffe in dieinländischen Angelegenheiten sollten die<br />

Stände selbst, die Fragen der Wahrheit <strong>und</strong> des Irrtums die Prager Universität<br />

beurteilen.<br />

Kurz zusammengefasst: Die hussitischen Reformatoren waren, wie andere<br />

auch, zur Annahme eines patriarchalen Gesellschaftsmodells disponiert <strong>und</strong><br />

hätten ihr Vertrauen gern der christlichen Obrigkeit geschenkt. Aber unter den<br />

damaligen Verhältnissen war ihnen das nur sehr bedingt vergönnt. Sie waren<br />

gezwungen, über die weniger willkommene Möglichkeit <strong>und</strong> Notwendigkeit des<br />

Widerstandes nachzudenken – nur noch schneller <strong>und</strong> hastiger, als es die späteren<br />

Reformatoren tun mussten. Fieberhafte Beratungen der Prager Theologen<br />

2<br />

3<br />

De sufficientia legis Christi, ad regendam ecclesiam, positio in Ioannis Hus, et Hieronymi<br />

Pragensis confessorum Christi, historia et monumenta I, Noribergae 1558, fol. XLVIIIa;<br />

mit Berücksichtigung der tschechischen, auf Handschriften gestützten Übersetzung der<br />

Herausgeber in: Franti ek M. Dobiá /Amedeo Molnár (<strong>Hrsg</strong>.), Husova v zbroj do<br />

Kostnice, Praha 1965, 106 f.<br />

Artikulové, podávaní od obce království eského králi Sigm<strong>und</strong>ovi, in: Franti ek PalackK<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Archiv esk III, Praha 1844, 206–208.


Das Verständnis der Obrigkeit im Hussitismus 49<br />

über Bedingungen <strong>und</strong> Regeln eines legitimen Verteidigungskrieges 4 spielten<br />

sich im Schatten einer Drohung ab, die fast umgehend Wirklichkeit wurde. Bereits<br />

1420 wurde offiziell ein Kreuzzug ausgerufen.<br />

Diese Schnelligkeit hatte allerdings eine bemerkenswerte Folge. Die tödliche<br />

Gefährdung von außennötigte die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten,<br />

sich neu zusammenzufügen, <strong>und</strong> zwar gerade in dem Augenblick, in dem ihre<br />

Interessen konfliktreich auseinanderzudriften drohten. 5 In Böhmen entlud sich<br />

nicht zuerst ein isolierter Ritteraufstand, dann ein Bauernkrieg, später eine<br />

Kommune Münsteraner Art <strong>und</strong> schließlich noch ein Fürstenaufstand. In Böhmen<br />

ging es um gleichlaufende <strong>und</strong> miteinander verwobene Prozesse. Die Außenbedrohung<br />

erzwang für eine Weile ein Bündnis zwischen Widerständlern<br />

allerlei Schattierungen, sowohl zwischen den legitimistisch-gemäßigtenals auch<br />

revolutionär-radikalen <strong>und</strong> sogar den ausgesprochenen Extremisten.<br />

Verständlicherweise war das nur zeitweilig möglich. Zuerst schieden die<br />

Träger der übertriebensten Forderungen mit ihrer anarchistischen Utopie aus.<br />

Nach ihren Vorstellungen »wird es in der Welt keine Herrschaft <strong>und</strong> keine Untertänigkeit<br />

geben; eshören alle Zinsen <strong>und</strong> Steuer« 6 sowie »iura paganica et<br />

theutonica« 7 auf. Doch die chiliastischeWelle in der neugegründeten Stadt Tabor<br />

dauerte nur einige Monate, ebenso ein kommunistisches Experiment mit dem<br />

Gemeinbesitz. In einer Lage, in der es nicht mehr um bloßeTheorie bzw. lediglich<br />

um den Kampf gegen die herrschende Ordnung ging, sondern um den praktischen<br />

Aufbau der übernommenen öffentlichen Verwaltung, mussten auch unter<br />

den »hussitischen Linken« die »Realos« über die »F<strong>und</strong>is« die Oberhand gewinnen,<br />

notfalls mit Gewalt. 8<br />

Die spannungsgeladene Kooperation zwischen zwei Flügeln des Hussitentums,<br />

dem mehr konservativen <strong>und</strong>dem mehr radikalen, überlebte zumindest bis<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

Ferdinand Seibt, Hussitica (Zur Struktur einer Revolution), Köln/Wien 2 1990, 16–57<br />

(Analyse); 191–248 (Edition der lat. Texte).<br />

A.a. O.,184 f.: »Deshalb fehlte es ihr [der Hussitenzeit] auch nicht an der Führungsschicht,<br />

die sich h<strong>und</strong>ert Jahre danach den deutschen Bauern versagte, <strong>und</strong> gerade<br />

deshalb vermochten die Hussiten eine Epoche zu gestalten.«<br />

Bludní artikulové, kte íodn kter ch kn ístrany Táborské vedeni byli, in: Archiv esk<br />

III (s. Anm. 3), 221.<br />

Vav ince zBezové kronika husitská, in: Josef Emler/Jan Gebauer/Jaroslav Goll<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Prameny d jin esk ch V, Praha 1893, 398; deutsche Übers. in: Josef Bujnoch<br />

(Übers./Einleitung), Die Hussiten. Die Chronik des Laurentius von B ezová 1414–1421,<br />

Graz/Wien/Köln 1988, 117.<br />

1421 wurde der Taboritenpriester <strong>Martin</strong> Loquis hingerichtet, der vergleichsweise als<br />

»böhmischer Müntzer« bezeichnet werden könnte; so bereits Kalivoda in: Robert Kalivoda<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Husitská epocha aJ.A.Komensk , Praha 1992, 192; 1422 traf den Prager<br />

»Volkstribun« Johannes von Seelau das gleiche Los.


50 <strong>Martin</strong> Wernisch<br />

in die Mitte der 1430erJahre <strong>und</strong> spielte sich in einer komplizierten Landschaft<br />

mannigfacher »communitates« ab. Gerade der Begriff »Gemeinden« bietet einen<br />

Indikator für die damaligen Umwandlungen, der »Baugesetze gesellschaftlicher<br />

Ordnung«. 9 Diese waren nicht einfach umkehrbar. Obwohl die ganze Bewegung<br />

unvermeidlich mit einem Kompromiss endete, kam es zu keinerRestauration der<br />

vorhussitischen Verhältnisse. Der Luxemburger Sigism<strong>und</strong> wurde tatsächlich als<br />

Regent angenommen, unterwarf sich aber einer Wahlkapitulation. Das böhmische<br />

Königreich war jetzt ausdrücklich als Ständestaat strukturiert <strong>und</strong> bildete<br />

unter Teilnahme des Bürgerstandes eine Art konstitutioneller Monarchie.<br />

2Die Gesellschaftstheorie der Hussiten<br />

Im bisherigen Abriss wurde die damalige Begrifflichkeit weitgehend durch gegenwärtige<br />

Terminologie ersetzt. Nach wie vor werden bestimmte Themen der<br />

Epoche diskutiert, darunter zwei Bereiche, die nicht übersprungen werden<br />

sollten. Das mannigfaltige Konglomerat der hussitischen Gruppierungen hatte<br />

immerhin ein gemeinsames Programm, das 1421 durch den Landtag in ein<br />

Gesetz – im Gr<strong>und</strong>e ein Verfassungsgesetz – gekleidet wurde. 10 Zugleich ging es<br />

auch um ein religiös-politisches Programm, das in mancher Hinsicht geradezu<br />

die Bedeutung eines Bekenntnisses erlangte. Die sogenannten »Vier Prager Artikel«<br />

stammten übrigens in einer Urfassung von Hus selbst. 11<br />

Für das Obrigkeitsverständnis sind sie eigentlich alle von Belang, obwohl<br />

teilweise nur indirekt. Die Artikel erwarten vom Magistrat, dass er das eigene<br />

Amt nicht an die Priester abtritt, zugleich aber auch nicht das Gotteswort unterdrückt,<br />

sondern sich ihm unterwirft, aktiv den Gottesdienst mit der allgemeinen<br />

Kommunion unter beiderlei Gestalt schützt <strong>und</strong> öffentliche Sünden<br />

straft. Die Artikel stehen inlogischem Zusammenhang; nichtsdestoweniger besteht<br />

zwischen ihnen eine innere Spannung, die überdies durch Meinungsverschiedenheiten<br />

zwischen den Parteien gesteigert wurde. Im Laufe der Zeit –<br />

<strong>und</strong> rasch genug – traten auch einige gefährliche Implikate zutage, die nach<br />

Korrektiven riefen. So entwickelte sich der Wortlaut der Artikel sogar nach ihrer<br />

Kodifizierung lebhaft weiter. Gerade die Variationsbreite der Akzente durch<br />

9<br />

10<br />

11<br />

Vgl. Seibt, Hussitica (s. Anm. 4), 125–182, bes. 180.<br />

Zápis velikého sn mu áslavského, in: Archiv esk III (s. Anm. 3), 226–230.<br />

Vgl. S. Harrison Thomson (<strong>Hrsg</strong>.), Mistr Jan Hus, Tractatus De ecclesia, Praha 1958,<br />

148 f.; deutsch in: <strong>Michael</strong> <strong>Beyer</strong>/Hans Schneider (Übers.), Über die Kirche, in: Armin<br />

Kohnle/Thomas Krzenck (<strong>Hrsg</strong>.), Johannes Hus Deutsch, Leipzig 2017, 485, 20–35.


Das Verständnis der Obrigkeit im Hussitismus 51<br />

Veränderungen von Reihenfolge <strong>und</strong> Formulierungen ist ein besonders interessanter<br />

Studiengegenstand. 12<br />

Eine bedeutende Transformation der Prager Artikel lässt sich schließlich<br />

noch in den Basler Kompaktaten finden – also in dem Abkommen, das die<br />

Hussiten auf der Gr<strong>und</strong>lage der Artikel mit dem Basler Konzil schlossen. 13 In<br />

dieser Kompromissfassung verloren die hussitischen Gr<strong>und</strong>sätzefast völlig ihren<br />

ursprünglichen Glanz.Doch dessen ungeachtet sicherte sie den Fortbestand der<br />

Kelchnerkirche <strong>und</strong> somit auch des protoreformatorischen geistlichen Erbes.<br />

Denn die Kompaktaten behaupteten für lange Zeit den Status eines Landesgesetzes,<br />

auf das alle Könige schwören mussten.<br />

Solange der Text seine Entwicklungdurchmachte, war es begreiflicherweise<br />

der Einfluss der Priester auf die öffentlichen Angelegenheiten, der als besonders<br />

heikel empf<strong>und</strong>en wurde. Die utraquistische Geistlichkeit erfuhr bald, dass sie<br />

neuen Gefahren standhalten musste, die den früheren entgegengesetzt waren,<br />

um eine Autonomie der Kirche zu bewahren <strong>und</strong> dem Bettlerlos zu entgehen.<br />

Ebenso brachte die Sündenverfolgung ganz eigene Probleme, doch mit der Zeit<br />

setzte sich glücklicherweise eher eine Tendenz zur Umsicht <strong>und</strong> Besonnenheit<br />

durch. Die Sprecher der gefürchteten hussitischen Krieger wurden unerwartetzu<br />

Gegnern der peinlichen Strafen, <strong>und</strong> zwar nicht nur in den Fällen von Ketzerei,<br />

sondern auch bei Diebstählen. 14<br />

Übrigens – <strong>und</strong> damit kommen wir zum anderen Punkt – wurde in der<br />

husschen Urfassung der Nachdruck nicht bloß auf das Strafen gelegt. Im Gegenteil,<br />

hier artikulierte sich das positive Ideal eines harmonischen Zusammenspiels,<br />

in dem ein jeder gewissenhaft seine eigene Aufgabe zu erfüllen<br />

hatte: nicht nur die Herren als die Wahrer der Rechtsordnung <strong>und</strong> Träger der<br />

Zwangsgewalt, sondern auch die treuen Priester <strong>und</strong> das fronende Volk – sie alle<br />

sollten einander dienen. Anders gesagt: das Ideal wurde in der Form einer Drei-<br />

Stände-Lehre beschrieben. Und obwohl diese Lehre dem Wortlaut nach aus den<br />

Prager Artikeln verschwand, blieb sie ansonsten ein beinahe allgegenwärtiges<br />

Gr<strong>und</strong>muster nicht nur der Gesellschaftslehre der Hussiten, sondern geradezu<br />

ihrer Kirchenauffassung. Das Schema gebrauchten z.B.auch die Verfasser des<br />

12<br />

13<br />

14<br />

Eine kurze Skizze bei <strong>Martin</strong> Wernisch, Auswirkungen des Hussitismus, in: <strong>Michael</strong><br />

Benedikt/Reinhold Knoll/Josef Rupitz (<strong>Hrsg</strong>.), Verdrängter Humanismus – verzögerte<br />

Aufklärung, Bd. 1, Teilbd. 1, Philosophie in Österreich (1400–1650), Klausen-Leopoldsdorf/Klausenburg<br />

1996, 413–418.<br />

Franti ek ⌅mahel, Die Basler Kompaktaten mit den Hussiten (1436). Untersuchung <strong>und</strong><br />

Edition, Wiesbaden 2019.<br />

Siehe Franti ek M. Barto (<strong>Hrsg</strong>.), Orationes, quibus Nicolaus de Pelh imov, Taboritarum<br />

episcopus, et Ulricus de Znojmo, orphanorum sacerdos, articulos de peccatis<br />

publicis puniendis et libertate verbi Dei in concilio Basiliensi anno 1433 ineunte defenderunt,<br />

Tábor 1935.


52 <strong>Martin</strong> Wernisch<br />

großen Manifests aus dem Jahre 1431, das für deutsche Leser bestimmt war <strong>und</strong><br />

in der damaligen taboritischen Umgebung entstand. 15 In Bezug auf diesen Text<br />

hat Werner Elert die Vermutung geäußert, die spätere lutherische Dreiständelehre<br />

hätte direkt an die hussitische Vorgängerin angeknüpft. 16 Dieser These<br />

steht allerdings die lange mittelalterliche Vorgeschichte der Dreiständevorstellung<br />

entgegen, an die beide Ausformungen unabhängig voneinander anknüpfen<br />

konnten. 17<br />

Im hussitischen Milieu fand dieser Konsens eine einzige namhafte Ausnahme<br />

in Peter von Cheltschitz, einem ungewöhnlich selbständigen, aber recht<br />

eigenwilligen Denker, der nicht zuletzt deshalb vereinsamte. Zwar gehörte er<br />

nicht zu dem Typ von Dissidenten, die durch das Land streiften <strong>und</strong> verzweifelt<br />

nach Orten suchten, andenen man sie dulden würde. Peter wurde von unterschiedlichen<br />

Parteien respektiert: teils wie ein Prophet, teils wie ein heiliger<br />

Narr. Er tauschte Texte mit den Führern der Prager 18 <strong>und</strong> Taboriten 19 aus, prägte<br />

aber sein eigenes – auch asketisch anspruchsvolles – Programm höchstens<br />

kleinen Konventikeln ein. Nach Peters Meinung musste der treue Christ in<br />

ländlicher Abgeschiedenheit leben <strong>und</strong> physisch arbeiten. Dieses bescheidene<br />

Ergebnis ergab sich allerdings aus einer verhältnismäßig breit angelegten Beweisführung,<br />

die durch die Deutlichkeit ihrer Abgrenzung des weltlichen vom<br />

geistlichen Bereich beeindruckt. Er versuchte sich also mit der Lösung einer<br />

Denkaufgabe, die andere Hussiten ebenfalls zu lösen suchten, aber dabei im<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

Das deutsche Original hat sich im Unterschied zu einer zeitgenössischen lateinischen<br />

Übersetzung nicht erhalten; Franciscus Palacky/Ernestus Birk (<strong>Hrsg</strong>.), Monumenta<br />

conciliorum generalium seculi decimi quinti 1–3, Wien 1857, 153–170.<br />

Vgl. Werner Elert, Morphologie des Luthertums, Bd. 2, Soziallehren <strong>und</strong> Sozialwirkungen<br />

des Luthertums, München 1932, 55.<br />

In übersichtlicher Form vgl. z. B. bei Ferdinand Seibt, Glanz <strong>und</strong> Elend des Mittelalters.<br />

Eine endliche Geschichte, Berlin 1987, Sonderausgabe Berlin 1999, 126–136 (»Die<br />

Dreiständeparole«). Auf die spezifische Entwicklung des Gedankens im böhmischen<br />

Milieu des 14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>erts konzentriert sich die Monographie von Wojciech<br />

Iwa↵czak, Lidé me e, modlitby apráce. T istavy v eském st edov kém my lení (Ludzie<br />

miecza, ludzie modlitwy iludzie pracy 1989) (Edice Ka dodenní ivot), Praha<br />

2011; knapper in deutscher Sprache: mahel, Die hussitische Revolution (s. Anm. 1) 1,<br />

274–297.<br />

Petr Chel ickK, Replika proti Rokycanovi, in: Jaroslav Boubín (<strong>Hrsg</strong>.), Spisy zPaí<br />

ského sborníku, Praha 2008, 51–92; deutsch bei Christian Staffa, Das Gift der<br />

Heiligen Kirche. Eine Polemik um die Macht der Kirche in der Zeit der böhmischen<br />

Reformation. Die Replik von Chel ick an Bischoff Rokycana (Dahlemer Heft 12:<br />

Nachrichten aus böhmischen Dörfern), Berlin 1993.<br />

Petr Chel ickK,Replika proti Mikulá iBiskupcovi, in: JaroslavBoubín (<strong>Hrsg</strong>.), Spisy z<br />

Olomouckého sborníku, Praha 2016, 59–140.


Das Verständnis der Obrigkeit im Hussitismus 53<br />

Ganzen ohne besondere Erfolge blieben. 20 Beim Studium der Zwei-Reiche-Lehre<br />

Peters ist es kaum möglich, nicht an Luther zu denken, <strong>und</strong>das umso mehr, weil<br />

Peter auch über eine ähnliche Sprachgewalt verfügte. An den Stellen, an denen<br />

beide Autoren die Aufgaben der Obrigkeit schildern, die unbarmherzig mit eisernen<br />

Waffen auf Bestien einschlägt, um eine Selbstvernichtung des Menschengeschlechtes<br />

zu verhindern, nähert sich sogar ihr Wortlaut einander an.<br />

Luther kannte das Werk von Peter kaum; am ehesten geht es hier vielmehr um<br />

Kongenialität. Aber auch die inhaltliche Übereinstimmung ist klar begrenzt. Sie<br />

endet im Wesentlichen gleich bei der Feststellung, dass die Obrigkeit zwar eine<br />

helfende göttliche Stiftung sei, doch im Gr<strong>und</strong>e von heidnischer Natur <strong>und</strong><br />

hauptsächlich deswegen vonnöten, weil wahre Christen in jeder Gesellschaft<br />

immer nur eine Minderheit bilden. Peter gewann seine Deutlichkeitumden Preis<br />

einer maximalen Trennung der beiden Bereiche. Er erkanntenicht an, dass sie als<br />

zwei Funktionen einer Gemeinde verstanden werden mussten. Obgleich er einräumte,<br />

dass die Obrigkeit von Gott eingesetzt war <strong>und</strong> zum Guten wirken<br />

musste, waren die Christendennoch Kinder eines ganz anderen Geistes,die sich<br />

nicht an der nur unterstützenden obrigkeitlichen Tätigkeit beteiligen konnten.<br />

Peters Lehren gewannen paradoxerweise erst dann einebreitere Anhängerschaft,<br />

als die utraquistische Kirche inein Stadium größerer Einheitlichkeit eintrat.<br />

Die neugegründete Brüderunität hielt sich abseits <strong>und</strong> versuchte während<br />

der zweiten Hälfte des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts das angedeutete Experiment zu verwirklichen.<br />

21 Auch die Schriften der Leitfigur der ersten Generation, Gregors<br />

des Schneiders, lehnen sich eng an Peters Vorbild an. 22 Gregor leugnete die<br />

Bedeutsamkeit der Obrigkeit nicht. Ganz im Gegenteil scheint es so, als ob Luther<br />

zu Wort kommt, wenn Gregor sagte, dass die obrigkeitliche Gewalt nicht durch<br />

übermäßige Milde geschwächt werden dürfe,weil sonst ihre Funktionsfähigkeit<br />

Schaden nähme. Die Brüder beteuerten von Anbeginn an gegenüber den Herrschaften<br />

die Bereitschaft zur Untertänigkeit. Sie verweigerten weder Abgaben<br />

oder Frondienste. Jedoch verlangten sie, nicht in Kriegshandlungen verstrickt zu<br />

20<br />

21<br />

22<br />

Am umfassendsten bei Petr Chel ickK, in: Jaroslav Boubín (<strong>Hrsg</strong>.), Siet viery (Sbírka<br />

pramen knábo ensk m d jinám 3), Praha 2012; deutsch in: Carl Vogl (Übers.), Petr<br />

Chel ickK, Das Netz des Glaubens, Dachau bei München 1923.<br />

»Religiös-soziale <strong>und</strong> ethisch-kirchliche Anschauungen« der frühen Unität schildert<br />

Erhard Peschke, Kirche <strong>und</strong> Welt in der Theologie der Böhmischen Brüder. VomMittelalter<br />

zur Reformation, Berlin 1981.<br />

Vorallem: Psání omoci sv tské neb omoci me ové, in: Jaroslav Bidlo (<strong>Hrsg</strong>.), Akty<br />

Jednoty bratrské Prameny d jin moravsk cz, Bd. 1, Brno 1915, 504–543; dazu jetzt<br />

Joachim Bahlcke/Jind⌥ich Halama/<strong>Martin</strong> HolK u. a. (Bearb.), Regesten der in den<br />

Handschriftenbänden Acta Unitatis Fratrum I–IV überlieferten Texte (Acta Unitatis<br />

Fratrum. Dokumente zur Geschichte der Böhmischen Brüder im 15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

1), Wiesbaden 2018, 168–174.


54 <strong>Martin</strong> Wernisch<br />

werden. Werihr Geld nahm, der sollte auch für sie kämpfen. Sie selbst wollten<br />

keinen Anteil an der Schwertgewalt haben, denn sie hielten diese analog zu Feuer<br />

<strong>und</strong> Wasser für unverträglich mit dem Gnadengesetz.<br />

3Die Böhmischen Brüder in ihrer Reife- <strong>und</strong> Spätzeit<br />

Das oben Beschriebene gilt freilich für die Anfänge der Unität. Das Experiment<br />

stürzte sie relativ bald in eine Krise, in der sie glücklicherweise die Fähigkeit<br />

ausbildete, zu lernen <strong>und</strong> sich zu entwickeln. 23 Die Unität wandelte sich merklich,<br />

sozusagen in jeder Generation. Das gehört zu ihren interessantesten Zügen.<br />

Sie wurde bisweilen <strong>und</strong> in mancherHinsicht zu einer wirklichen Elite. Deshalb<br />

ließ sich auch die tschechische Geschichtsschreibung dazu verführen, dieser<br />

Minderheit zuweilen eineübermäßige, nicht gerechtfertigte Aufmerksamkeit zu<br />

schenken. Dabei überging sie die problematische Seite ihrer Existenz, die man<br />

nicht zuletzt inihrem Verhältnis zur Landeskirche wahrnehmen könnte. Nicht<br />

einmal jene gelehrige Anpassungsfähigkeit, die sicher ihr Lob verdient, war ganz<br />

ohne Schattenseiten.<br />

Wasdas Obrigkeitsverständnis betrifft, sahen die Brüder allmählich ein,dass<br />

ihre anfängliche Gesinnung eine besondere Form von Egoismusbeinhaltete <strong>und</strong><br />

dass eine Mitwirkung an der öffentlichen Verwaltung durchaus mit dem apostolischen<br />

Wort: »Einer trage des andern Last«, in Übereinstimmung gebracht<br />

werden konnte. 1499 öffnete also eine Brüdersynode endgültig die Reihen der<br />

Unität auch für die Träger der öffentlichen Ämter. Ein späteres »Türkenbüchlein«,<br />

bereits unter dem Einfluss Luthers stehend, wandte denselben Gedanken<br />

ebenfalls auf die Frage des Militärdienstes an: Es sei nicht richtig, andere lediglich<br />

zu bezahlen, damit sie für uns bluten. 24 Am Ende der böhmischen Reformationsepoche<br />

hatte sich die Einstellung der Unität so vollkommen umgekehrt,<br />

dass ihre Leitung ein offizielles Gutachten abgeben konnte: die Herren<br />

sollten »Herren bleiben <strong>und</strong> ihrer Berufung nicht ausweichen«. 25<br />

23<br />

24<br />

25<br />

Synthetisch die ganze Entwicklung zu verarbeiten sucht Jind⌥ich Halama, Sociální<br />

u ení esk ch Brat í1464–1618 (Edice Moderní eská teologie), Brno 2003; deutsch:<br />

Karl-Eugen Langerfeld (Übers./Red.), Die Soziallehre der Böhmischen Brüder 1464–<br />

1618. Zum unerledigten Dialog der böhmischen Reformation mit der lutherischen <strong>und</strong><br />

calvinistischen, Herrnhut 2017.<br />

»Zpráva anau ení k es an mvrn m, jak by se vtchto asích nebezpe n ch p i<br />

Spasení Bo ím íditi, zpravovati avn mr sti m li […]« – in einem Druck aus dem Jahre<br />

1566 erhalten, erstmals bereits 1530 veröffentlicht.<br />

Antonín Gindely (<strong>Hrsg</strong>.), Dekrety Jednoty bratrské (Staré pam ti d jin esk ch), Praha<br />

1865, 246 (zum Jahr 1591).


Katechismen im späten Mittelalter 1<br />

<strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Die Katechismen haben für ein Verständnis des Verhältnisses von Mittelalter <strong>und</strong><br />

Reformation eine eigenartige Schlüsselstellung inne: Zum einen ist es offenk<strong>und</strong>ig,<br />

dass sich das protestantische kollektive Gedächtnis in ganz besonderer<br />

Weise auf den Katechismus Luthers bezieht. Die jahrh<strong>und</strong>ertealte Bildungstradition<br />

in Schule <strong>und</strong> Konfirmandenunterricht hat ihn zu einem hervorgehobenen<br />

Beispiel der kulturellen Vermittlung reformatorischer Überzeugungen werden<br />

lassen. Zum anderen aber sieht Luther selbst sich mit seiner Pflege des Katechismus<br />

in der Tradition seines eigenen Elternhauses: »Ego quidem, quanquam<br />

magnus doctor nondum excessi puerilem doctrinam decalogi et symboli et orationis<br />

dominicae, sed adhuc quotidie illa disco et oro mit meinem Hansen vnd<br />

meinem Lenichen«, 2 heißt esineiner von Veit Dietrich überlieferten Tischrede<br />

aus dem Herbst 1531. Zwar handelt es sich nicht eindeutig um eine Erinnerung<br />

an die eigene Jugend, aber die zeitliche Bestimmung – »adhuc quotidie« –<br />

macht doch deutlich, dass Luther nicht nur an die gegenwärtig praktizierte<br />

Kinderlehre – puerilis doctrina – denkt, 3 sondern auch an die selbst erfahrene.<br />

Luther dürfte, wie es im Mittelalter immer wieder vorausgesetzt wurde, 4 selbst<br />

bei seinen Eltern elementaren Katechismusunterricht erfahren haben. 5<br />

1<br />

2<br />

3<br />

4<br />

Dieser Aufsatz, der aus der Arbeit des TARF hervorgegangen ist, wurde schon einmal<br />

veröffentlicht in: <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>, Transformationen. Studien zu den Wandlungsprozessen<br />

in Theologie <strong>und</strong> Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter <strong>und</strong> Reformation<br />

(Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 86), Tübingen 2015, }2018, 137–158.<br />

WA.TR 1, 30,26–31,2 (Nr. 81).<br />

Zum Begriff »Kinderlehre« für den Katechismus s. WA 30/1,27,26; BSLK 553,37.<br />

S. Peter Göbl, Geschichte der Katechese im Abendlande vom Verfalle des Katechumenats<br />

bis zum Ende des Mittelalters, Kempten 1880, 19–34; Luzian Pfleger, Beiträge zur<br />

Geschichte des katechetischen Unterrichts im Elsass im Mittelalter, Straßburg 1922,<br />

4–7; Egino Weidenhiller, Untersuchungen zur deutschsprachigen katechetischen Literatur<br />

des späten Mittelalters. Nach den Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek,<br />

München 1965, 13 f. jeweils mit zahlreichen Belegen. Neben dem elterlichen Haus


64 <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

Wie sehr freilich Gegenwart <strong>und</strong> Vergangenheit ineinanderwirken, ist an<br />

einem Detail der Tischrede abzulesen: Luther nennt die Stücke in der Reihenfolge,<br />

in der er sie im Großen <strong>und</strong> Kleinen Katechismus anordnete, 6 <strong>und</strong> die im<br />

späten Mittelalter nur außerordentlich selten verwendet wurde. 7 Gemeint ist<br />

5<br />

6<br />

7<br />

kommt auch der Gottesdienst als Vermittlungsinstanz für religiöses Wissen in Frage:<br />

Ferdinand Cohrs, Zur Katechese am Ende des Mittelalters. Zeitschrift für praktische<br />

Theologie 20 (1898), 289–309, 293, weist auf verschiedene Bestimmungen zur öffentlichen<br />

Verlesung der Katechismusstücke im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert hin. Für beides, Eltern wie<br />

gottesdienstliche Verlesung, gilt freilich das allfällige Problem, dass wir hierüber vorwiegend<br />

aus normativen Texten wissen.<br />

Der wohl deutlichste Beleg für das katechetische Gr<strong>und</strong>wissen im Hause Luthers ist das<br />

Gespräch von Hans Luder mit den Gästen bei der Primiz seines Sohnes, die sich nach den<br />

Gründen für seinen Widerstand gegen Luthers Wegins Kloster erk<strong>und</strong>igten: »Ey lieben<br />

herren, wißt jr auch, das geschrieben stehet: Du solt vater <strong>und</strong> muter ehren?Oder kennt<br />

ihr das Gebot Gottes, die Eltern zu ehren nicht?Annescitis mandatum Dei de honorandis<br />

parentibus?«; WA 44,712,4 f.; vgl. WA.TR 1,294,9–12 (Nr. 623).<br />

Gottfried Seebaß (<strong>Hrsg</strong>.)/Albrecht Peters, Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 1:<br />

Die Zehn Gebote. Luthers Vorreden, Göttingen 1990, 40, Anm. 197; Peters verweist<br />

allerdings darauf, dass Luther selbst die Stücke in sehr unterschiedlichen Reihenfolgen<br />

aufführen konnte; vgl. WA 19,75,16; 23,486,29 f.; s. auch die Reihenfolge Dekalog,<br />

Vaterunser, Credo im Brief von Justus Jonas vom 4. Mai 1530; WA.B 5,302,65–68<br />

(Nr. 1560). Zum theologischen Sinn dieser Anordnung s. gr<strong>und</strong>legend Albrecht Peters,<br />

Die Theologie der Katechismen Luthers anhand der Zuordnung ihrer Hauptstücke. LuJ<br />

43 (1976) 7–35.<br />

S. Johannes Meyer, Historischer Kommentar zu Luthers Kleinem Katechismus, Gütersloh<br />

1929, 82, der diese Reihenfolge nur in zwei Quellen nachweisen konnte. Luther<br />

verwendete diese Reihenfolge schon 1520 in der »Kurzen Form«; WA 7,204–229. Darin<br />

folgte ihm möglicherweise schon 1527, also vor Großem <strong>und</strong> Kleinem Katechismus<br />

Kaspar Aquila; Aquilas Katechismus wurde erst 1538 veröffentlicht (VD 16 A250), aber<br />

im Vorwort führt er sie auf Predigten zurück, die er seit 1527 in Saalfeld gehalten hatte;<br />

Johann Michel Reu, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen<br />

Kirche Deutschlands zwischen 1530 <strong>und</strong> 1600. Bd. 1/2. Abt. 2: Texte, Gütersloh<br />

1911, Nachdruck Hildesheim 1976, 173; ebenso die handschriftliche Biographie<br />

Aquilas von Christian Schlegel aus dem Jahre 1737:»Als er nun nach Saalfeld kommen /<br />

hat er anfänglich eine lautere Barbarey /ungezogen /<strong>und</strong> unverständig Volck im Worte<br />

GOttes gef<strong>und</strong>en /<strong>und</strong> als er ihnen angekündiget /erwolte sie den Catechismus lehren<br />

lassen /haben sie nicht gewust /was es sey«; zit. nach: Heinz Endermann (Auswahl/<br />

Komm.), Caspar Aquila, Schriften <strong>und</strong> Lebenszeugnisse des Saalfelder Reformators.<br />

Theologie <strong>und</strong> Frömmigkeit, Bildung <strong>und</strong> Armenfürsorge in der Reformation (Theologische<br />

Texte <strong>und</strong> Studien 14), Hildesheim 2009, 320; zur Reihenfolge <strong>und</strong> ihrer Verwendung<br />

im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert s. die Übersicht bei Christoph Weismann,Die Katechismen<br />

des Johannes Brenz. Bd. 1, Die Entstehungs-, Text- <strong>und</strong> Wirkungsgeschichte, Berlin 1990,<br />

85 f.


Katechismen im späten Mittelalter 65<br />

dabei mit der Kinderlehre beziehungsweise dem Katechismus selbstverständlich<br />

nicht die literarische Gattung, die wir unter diesem Titel kennen, sondern lediglich<br />

die Sammlung der von Luther genannten Stücke. Wenn Luther auf die<br />

Notwendigkeit, diese zu lernen <strong>und</strong> zu memorieren,verweist, steht er nicht allein<br />

in der Tradition seines Elternhauses, sondern in einer langanhaltenden mittelalterlichen<br />

Frömmigkeitskultur. Die Admonitio generalis von 789 hielt die Bischöfe<br />

<strong>und</strong> Priester an, dafür zu sorgen, dass die Gemeinden das Vaterunser<br />

verstünden, 8 <strong>und</strong> eine althochdeutsche Anweisung aus der Zeit Karls des Großen<br />

schrieb vor:<br />

»Höret, ihr allerliebsten Söhne, die ihr den Namen eines Christen angenommen habt,<br />

die Gr<strong>und</strong>regel des Glaubens, die ihr ständig im Herzen angenommen haben sollt!<br />

Denn sie ist das vom Herrn den Menschen offenbarte <strong>und</strong> von seinen Jüngern eingesetzte<br />

Zeugnis für eure Christenheit. Dieser Glaube enthält nur wenige Worte, in die<br />

jedoch sehr große Geheimnisse eingeschlossen sind. Der Heilige Geist diktierte<br />

wahrhaftig den Lehrern der Christenheit, seinen heiligen Aposteln, diese Worte in<br />

einer solchen Kürze, damit alle Christen sie glauben <strong>und</strong> danach handeln, sie verstehen<br />

<strong>und</strong> im Gedächtnis behalten können. Wie könnte sich der einen Christen<br />

nennen, ja, wie kann der ein Christ sein, der diese wenigen Worte des Glaubens, durch<br />

den er gerettet <strong>und</strong> erlöst werden wird, sowie die Worte des heiligen Gebets, das der<br />

Herr selbst als Bitte einsetzte, nicht lernen <strong>und</strong> im Gedächtnis festhalten will?« 9<br />

Damit waren Credo <strong>und</strong> Vaterunser als Gr<strong>und</strong>bestanddessen, was die Bewohner<br />

des karolingischen Reiches auswendig zu beherrschen hatten, festgelegt. Die<br />

Norm, dass religiöses Gr<strong>und</strong>wissen bei allen Gläubigen vorhanden sein müsse,<br />

zog sich durchdas Mittelalter durch. So konnte etwa Wilhelm von Ockham 1335/<br />

36 im Tractatus contra Ioannem als selbstverständlich voraussetzen, dass die<br />

Christen <strong>und</strong> Christinnen die Glaubenssätze des apostolischen Bekenntnisses<br />

8<br />

9<br />

MGH. Capit. 1,59,25–27.<br />

Hans Joachim v. Gernentz (<strong>Hrsg</strong>./Übertr.), Althochdeutsche Literatur. Vonder »Benediktinerregel«<br />

zum »Ezzolied«. Eine Auswahl, Berlin 1979, 42 f.: »Hloset it, chindo liupostun,<br />

rihtida thera galaupa, the ir in herzin kahuctlicho hapen sculut, ir den christianun<br />

namun intfangan eigut, thaz ist ch<strong>und</strong>ida iuuerera christianheiti, fona demo<br />

truthine in man gaplasan, fona sin selpes iungiron kasezzit. thera galaupa gauuisso fohiu<br />

uuort sint, uzan drato michilu garuni dar inne sint piuangan. Uuiho atum gauuisso dem<br />

meistrun thera christanheiti dem uuihom potom sinem theisu uuort tihtota suslihera<br />

churtnassi za diu daz allem christanem za galaupian ist ia auh simplun za pigehan, thaz<br />

mathin alle farstantan ia in gahuhti gahapen. In huueo chuidit sih ther man christanan,<br />

ther theisu fohun uuort thera galaupa, thera er gaheilit scal sin ia dera er ganesan scal, ia<br />

auh thei uuort thes frono gapetes, thei der thrutin selpo za pete gesazta, uuero mag er<br />

christiani sin, ther dei lirnen niuuili noh in sinera gahukti hapen?«


66 <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong><br />

wüssten. Freilich rekurrierte er damit nicht so sehr auf eine bestimmte Texttradition,denn<br />

er fügte hierzunichtetwa Vaterunser <strong>und</strong> Dekalog hinzu, sondern<br />

andere dogmatische Sätze wie Corpus Christi continetur in sacramento altaris<br />

<strong>und</strong> Ähnliches. 10 Das religiöse Wissen der mittelalterlichen Christenheit gruppierte<br />

sich also auf unterschiedliche Weise um die Glaubenssätze des Credos. Das<br />

Erlernen dieser christlichen Elementarkenntnisse war im eigentlichen Sinne<br />

»Katechismus«. So definiert der erstmals in den achtziger Jahren des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

erschienene <strong>und</strong> vielfach aufgelegte Vocabularius praedicantium des<br />

Johannes Melber: »Cathecismus: vnderweisung in den gr<strong>und</strong>tlichen stucken des<br />

glaubens scilicet pater noster credo septem sacramenta.« 11<br />

Über diese Gr<strong>und</strong>bedeutung hinaus wurde aber schon vor der Reformation<br />

das Wort »Katechismus« auch für ein Buch entsprechenden Inhalts verwendet.<br />

Die lange Zeit vorherrschende Auffassung, dass es sich bei diesem Buchtitel um<br />

eine reformatorische Neuerung handelte, 12 hat vor einiger Zeit Gerhard Bellinger<br />

korrigiert. Er verwies darauf, dass 1504 in portugiesischer Sprache der Cathecismo<br />

Pequeno da doctrina einstruiçam que os christianos ham de creer eobrar<br />

von Diogo Ortiz de Vilhegas (1457–1519) 13 erschien. 14 Damit ist freilich über<br />

die Idee des Katechismus noch nicht viel gesagt. Will man ihr im späten Mit-<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

Hilary S.Offler (<strong>Hrsg</strong>.), Guillelmi de Ockham Opera Politica. Bd. 3, Manchester 1956,<br />

47, 22–33.<br />

[Johannes Melber] vocabularius |predicantium, Augsburg: Sorg 1489, s.v. (unpaginiert);<br />

hierauf verweist bereits Johannes Geffcken, Der Bildercatechismus des funfzehnten<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> die catechetischen Hauptstücke in dieser Zeit bis auf Luther I,<br />

Die zehn Gebote, mit 12 Bildtafeln nach Cod. Heidelb. 438, Leipzig 1855, 18.<br />

Üblicherweise gilt als erster Beleg der Katechismus von Andreas Althamer, Catechismus.<br />

|Das ist Vnterrricht zum |Christlichen Glauben /wie |man die jugent leren<br />

vnd |ziehen sol /infrag weyß |vnd antwort ge=| stelt. |, Nürnberg: Friedrich Peypus<br />

1528 (VD 16 R3816); s. hierzu etwa Alfred Läpple,Katechismen im Wandel der Zeit, in:<br />

Der Katechismus von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ausstellungskatalog (Bischöfliches<br />

Zentralarchiv <strong>und</strong> Bischöfliche Zentralbibliothek Regensburg. Kataloge <strong>und</strong><br />

Schriften 1), München/Zürich 1987, 14–31, 15.<br />

Zu ihm: GerhardJ.Bellinger, Art. Ortiz de Vilhegas, in: LThK ~7, 1158. Zum Gebrauch<br />

des Wortes »Catechismus« als Buchtitel s. den gründlichen Überblick bei <strong>Michael</strong> Sievernich,<br />

Gesetz oder Weisheit. Zum theologischen Prinzip der Katechismen <strong>Martin</strong><br />

Luthers <strong>und</strong> Petrus Canisius’, in: Rainer Berndt (<strong>Hrsg</strong>.), Petrus Canisius SJ (1521–<br />

1597). Humanist <strong>und</strong> Europäer (Erudiri Sapientia 1), Berlin 2000, 300–422, 403.<br />

GerhardJ.Bellinger, Art. Katechismus, in: LThK ~5, 1311–1315, 1313; vgl. ders., Der<br />

Catechismus Romanus, seine Geschichte <strong>und</strong> bleibende Bedeutung für Theologie <strong>und</strong><br />

Kirche, in: Matthias Buschkühl (<strong>Hrsg</strong>.), Katechismus der Welt – Weltkatechismus.<br />

500 Jahre Geschichte des Katechismus. Ausstellungskatalog, Eichstätt 1993, 41–64, 42.<br />

Der Text ist jetzt ediert bei Elsa Maria Branco da Silva (<strong>Hrsg</strong>.), Ocathecismo pequeno<br />

de D. Diogo Ortiz (Obras clássicas da lieratura portuguesa 115), Lissabon 2001.


Katechismen im späten Mittelalter 67<br />

telalter nachgehen, so wird man mindestens zwei Zugangsweisen zu unterscheiden<br />

haben. 15 Es gibt eine Fülle von katechetischen Texten, 16 deren Inhalt<br />

Egino Weidenhiller, dem wir diebislang gründlichste neuere Untersuchung zum<br />

Thema verdanken, als »Trias von Glaube,Gebet <strong>und</strong> gewissen sittlichen Normen,<br />

in unserer Zeit [d. h. im späten Mittelalter; V.L.] bereits größtenteils die Zehn<br />

Gebote« zusammengefasst hat. 17 Mögliche Stücke, die dies leisten konnten,<br />

waren demnach 18 :<br />

1. Glaubensbekenntnis<br />

2. Vaterunser<br />

3. Die Zehn Gebote<br />

4. Die sieben Hauptsünden<br />

5. Die sieben Sakramente<br />

Mit ihnen beschäftigten sich einerseits Texte, die, kenntlich an der lateinischen<br />

Sprache, für Kleriker verfasst waren <strong>und</strong> ihnen entweder ihr eigenes Gr<strong>und</strong>wissen<br />

sichern oder Anhaltspunkte für die Leitung der Gemeinden geben sollten.<br />

Andererseits gibt es seit dem 14. Jahrh<strong>und</strong>ert zahlreiche volkssprachliche<br />

Texte, welche im weitesten Sinn dem von BerndtHamm »Frömmigkeitstheologie«<br />

genannten Schrifttum zuzurechnen sind. 19 Als bedeutendster Autor dieser<br />

Gruppe kann Johannes Gerson genannt werden, zumal von ihm eine geradezu<br />

programmatische Aussage über die Abfassung von katechetischer Literatur<br />

überliefert ist: In einem Schreiben an Pierre d’Ailly regte er am 1. April 1400 an:<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

Seit der Gr<strong>und</strong>legung der neueren katholischen Reformationsgeschichtsschreibung<br />

durch Joseph Lortz <strong>und</strong> Erwin Iserloh findet sich eine Geringschätzung dieser enormen<br />

Bemühungen des Mittelalters gerade bei römisch-katholischen Autoren; s. etwa Guy<br />

Bedouelle, Das Entstehen des Katechismus. Internationale katholische Zeitschrift<br />

Communio 12 (1983), 25–40, 30, der meint, die katholische Kirche habe geradezu »auf<br />

den Donnerschlag der lutherischen Reformation« gewartet, um wieder katechetische<br />

Literatur zu entwickeln. Die Fülle der vorhandenen katechetischen Texte des späten<br />

Mittelalters spricht eine deutlich andere Sprache.<br />

Einen Überblick über die seinerzeit bekannten, als Katechismen einzuordnenden<br />

spätmittelalterlichen Texte bietet Meyer,Historischer Kommentar (s. Anm. 7), 73–75 –<br />

immerhin mehr als 50 Titel. Eine umfangreiche Auflistung allein der in der Bayrischen<br />

Staatsbibliothek enthaltenen Einzelauslegungen katechetischer Stücke bietet Weidenhiller,<br />

Untersuchungen (s. Anm. 4), 213–243.<br />

A.a. O., 16.<br />

A.a. O., 17–24.<br />

Berndt Hamm, Frömmigkeitstheologie am Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts. Studien zu<br />

Johannes von Paltz <strong>und</strong> seinem Umkreis (BHTh 65), Tübingen 1982; ders., Was ist<br />

Frömmigkeitstheologie? Überlegungen zum 14. bis 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Hans-Jörg<br />

Nieden/Marcel Nieden (<strong>Hrsg</strong>.), Praxis pietatis. FestschriftWolfgang Sommer, Stuttgart<br />

1999, 9–45.


Disputationen als akademische<br />

Diskursform im Mittelalter<br />

Ein Essay<br />

Florian Wöller<br />

Dem Wort »Disputation« haftet etwas Altertümliches an. Vordem inneren Auge<br />

eines Menschen des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts ruft esvielleicht eine gesetzte <strong>und</strong> bestenfalls<br />

gelehrte Diskussion hervor, die nach einem Muster verläuft, das nur<br />

Insidern bekannt ist. »Disputation« klingt vermutlich nach schematischer Debatte,<br />

nach regelgeleitetem, eingeengtem Diskurs, nach verstaubter Gelehrsamkeit<br />

<strong>und</strong> jedenfalls nicht nach einer irgendwie freien Denkart, die mit der<br />

menschlichen Vernunft <strong>und</strong> ihrer Darstellungskraft, wie die Aufklärung gesagt<br />

hätte, rechnet. Klar scheint also zu sein, dass Disputationen vormodern sind.<br />

Durch Statistiken lässt sich diese Vermutung leicht untermauern, 1 <strong>und</strong> kaum<br />

überraschend ist das erste Wort des Brockhausunter dem Lemma»Disputation«<br />

eine so unpräzise wie eindeutige Zeitangabe: »früher« 2 .<br />

Angesichts dieses Bef<strong>und</strong>s lässt sich freilich leicht vergessen, dass Disputationen<br />

bis weit ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein nicht nur eine große sprachliche<br />

Präsenz hatten, sondern, jedenfalls im akademischen Betrieb, auch eine ganz<br />

entscheidende Bedeutung. Noch im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert notierte Carl von Linné,<br />

der berühmte Schöpferder modernen biologischen Taxonomie <strong>und</strong>, was vielleicht<br />

weniger bekannt ist, Verfasser einer Theodizee, deren Programm er selbst<br />

»theologia experimentalis« nannte, die folgende Anekdote:<br />

Buskagrius, Gräzistikprofessor in Uppsala, ein gelehrter Mann, zitiert in einer Disputation<br />

einen Autor unrichtig. Der Opponent behauptet, dass die Worte anders<br />

standen. Es kam zu hitzigem Wortgefecht. Der Professor sagt in der Hitze: wenn es<br />

1<br />

2<br />

Vgl. etwa die Wortverlaufskurve für »Disputation«, erstellt durch das Digitale Wörterbuch<br />

der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/r/plot/?view=1&corpus=dta%2Bd<br />

wds&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=10&prune=0&win<br />

dow=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1600%3A1999&q1=Disputation,<br />

Stand: 13. 7. 2021.<br />

Brockhaus Enzyklopädie Online, Art. Disputation, http://brockhaus.de/ecs/enzy/arti<br />

cle/disputation, Stand: 13. 7. 2021.


88 Florian Wöller<br />

nicht so steht, bitte ich Gott, nie mehr auf das Katheder zu kommen. Nach Hause<br />

gekommen, sieht er, dass er unrichtig zitiert hat, wird schwermütig, stirbt nach zwei<br />

Jahren <strong>und</strong> kommt nie mehr auf das Katheder. 3<br />

Es ist die Geschichte einer Emeritierung via disputationis, wenn man so will,<br />

einer Disputationsemeritierung mit Todesfolge, <strong>und</strong> für Linné ein Fall von<br />

Missachtung des zweiten Gebots des Dekalogs. Im unmittelbaren Kontext der<br />

Anekdote hängt hier natürlich alles am falschen Schwur des gelehrten Gräzisten.<br />

Dass er ihn aber im Kontext einer Disputation leistet, sagt etwas über Disputationen,<br />

jene Präsentationen akademischer Gelehrsamkeit, im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

aus. Äußerungen, die während einer Disputation vorgetragen wurden,<br />

waren, wie Austin gesagt hätte, perlokutionäre Akte. Oder, wie man vielleicht<br />

etwas weniger gelehrt sagen könnte, Disputationen waren performative, dezisive<br />

Akte, die oftmals Entscheidungen generierten, sogar noch nach zwei Jahren.<br />

Nun ist das 18. Jahrh<strong>und</strong>ert weder mein Forschungsgebiet noch unser<br />

Thema. Linnés Episode mag uns aber darauf einstimmen, um welche Fragen es<br />

im Folgenden anhand mittelalterlicher Disputationen gehen soll: Wie generierten<br />

Disputationen welche Entscheidungen? Welche Instanzen waren dabei<br />

maßgeblich, <strong>und</strong>welche Folgen konntenDisputationen zeitigen?Zur Bearbeitung<br />

dieser freilich in einem Aufsatz nur anzureißenden Fragen begeben wir uns also<br />

an die mittelalterlichen Universitäten. Eingangs wird es um einen groben<br />

Überblick über das Disputationswesen als Diskursform im Mittelaltergehen. Im<br />

zweiten Teil werde ich zwei Gattungen der Promotionsdisputation etwas näher<br />

beleuchten, <strong>und</strong> am Ende des Vortrags soll es noch um sogenannte akademische<br />

Scherzreden im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert gehen. Auch diese waren ein Teil des Disputationswesens.<br />

Gerade in einem reformationshistorischen Band ist aber eine Vorbemerkung<br />

terminologischer <strong>und</strong> klassifikatorischer Art angezeigt. Denn häufig steht im<br />

Hintergr<strong>und</strong> von Ausführungen zu Disputationen eine wichtige Gr<strong>und</strong>unterscheidung,<br />

nämlich diejenige zwischen Disputation einerseits <strong>und</strong> Religionsgespräch<br />

andererseits. Wenn ich richtig sehe, geht sie auf Hubert Jedin zurück,<br />

der sie 1958 ins Gespräch gebracht hat. 4 Demnach waren Disputationen solche<br />

Diskussionen, die in akademischen Foren nur von Fachleuten einer Disziplin,<br />

also zum Beispiel von Theologen, über bestimmte fachlicheProblemeabgehalten<br />

wurden,während es sich bei Religionsgesprächen um Verhandlungendrehte, an<br />

3<br />

4<br />

K. Barr (<strong>Hrsg</strong>./Komm.), Carl von Linné, Nemesis divina, Stockholm 1923, 96; meine<br />

Übersetzung. Zum Kontext vgl. M. J. Petry (Einl./Übers.), Carl von Linné, Nemesis<br />

divina, Dordrecht 2001, 25–79, 410–411 (Kommentar zu unserer Stelle).<br />

Hubert Jedin, An welchen Gegensätzen sind die vortridentinischen Religionsgespräche<br />

zwischen Katholiken <strong>und</strong> Protestanten gescheitert?Theologie <strong>und</strong> Glaube 48 (1958), 50–<br />

55.


Disputationen als akademische Diskursform im Mittelalter 89<br />

denen neben Theologen auch Juristen teilnahmen, um sich über die Gesamtheit<br />

der vorhandenen Gegensätze klar zu werden <strong>und</strong> die Standpunkte anzunähern.<br />

Jedin bezieht die Unterscheidung, die er nicht als eine quellensprachliche<br />

missverstanden wissen möchte, in erster Linie auf Vorgänge im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Da die Unterscheidung aber keineswegs bloß historisch, sondern innerhalb der<br />

Geschichte der Disputation im lateinischen Abendland auch als topisch, also als<br />

unabhängig von konkreten historischen Zusammenhängen, zu verstehen ist,<br />

lässt sie sich ebenso gut auf Vorreformatorisches beziehen – was in der Forschung<br />

auch geschehen ist. 5<br />

Hier ist nun nicht der Ort, die Debatten um Jedins Unterscheidung im Einzelnen<br />

nachzuvollziehen. Die folgende Begrifflichkeit scheint heute aber allgemein<br />

geteilt zu werden: Disputationen waren innerakademische Diskussionen,<br />

die mit zuvor verteilten Rollen geführt wurden <strong>und</strong> der diskursiven Erkenntnisgenerierung<br />

mit Blick auf eine bestimmte, imVorfeld festgelegte Frage oder<br />

Problemlage dienten. Die Rollen, auf die ich noch eingehen werde, waren sozusagen<br />

Gelegenheitsrollen, das heißt, sie konnten in anderen Disputationen neu<br />

verteilt werden. Religionsgespräche fanden hingegen imaußerakademischen<br />

Bereich statt <strong>und</strong> wurden mit festen inhaltlich bestimmten Rollen geführt, die<br />

gerade nicht ad hoc eingenommen werden konnten, sondern etwa von einem<br />

religiösen Bekenntnis abhingen. Vor allem aber wurde in Religionsgesprächen<br />

Wahrheit nicht diskursiv entwickelt, sondern determinativ bestimmt. Es ging<br />

nicht wie in Disputationen um ein Urteil aufgr<strong>und</strong> von Argumenten für oder<br />

gegen eine Proposition, sondern um einen entscheidenden Richterspruch, der der<br />

einen Seite die rechte, der anderen aber die falsche Lehre attestierte.<br />

Es ist immer wieder zu lesen, dass im Unterschied zu Religionsgesprächen<br />

Disputationen im Wesentlichen der Ein- <strong>und</strong> Ausübung dialektischer Argumentationskunst<br />

dienten <strong>und</strong> dass ihre eigentliche Bedeutung auf den akademischen<br />

Bereich, näherhin auf den Erkenntnisgewinn bezogen blieb. 6 In<br />

diesem Sinne wären Disputationen inder Tat gelehrte, hochspezialisierte Diskussionen<br />

mit einer höchst beschränkten Wirkung auf die Welt jenseits des<br />

Hörsaals. Religionsgespräche wären dann für die »Gesellschaft« auf gewisse<br />

Weise relevanter gewesen, weil sie die in ihnen determinierte Wahrheit performativ<br />

unter Beweis stellten, mit weitreichenden Folgen für die am Gespräch<br />

beteiligten Parteien. Ein gutes Beispiel dafür wären dann aus Religionsgesprächen<br />

resultierende Ketzerverurteilungen, die im selben Akt vollzogen wurden.<br />

5<br />

6<br />

Etwa bei Otto Scheib, Die innerchristlichen Religionsgespräche im Abendland, Bd. 1–3<br />

(Wolfenbütteler Forschungen 122), Wiesbaden 2009.<br />

Jan-Hendryk de Boer/Marian Füssel/Maximilian Schuh (<strong>Hrsg</strong>.), Disputation, quaestio<br />

disputata, in: Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.–16. Jahrh<strong>und</strong>ert. Ein interdisziplinäres<br />

Quellen- <strong>und</strong> Methodenhandbuch, Stuttgart 2018, 221–254, hier: 221.


90 Florian Wöller<br />

Etwa Bücherverbrennungen wären in diesen Fällen der Erweis der Performativität<br />

von Religionsgesprächen, weitere Beispiele ließen sich leicht finden.<br />

Ich halte diese Unterscheidung – rein innerakademische <strong>und</strong> konstative<br />

Disputationen hier, »gesellschaftlich« relevantes <strong>und</strong> performatives Religionsgespräch<br />

da – für ein Missverständnis, das jedenfallswenighilfreich ist, um die<br />

Vielfalt nicht nur mittelalterlicher, sondern auch reformatorischer <strong>und</strong> frühneuzeitlicher<br />

Disputationen zu erfassen.Dafür mag ein letztes Mal Linnés Notiz<br />

über den Gräzisten aus Uppsala Zeuge sein. Dessen letztendlicher Todfällt wohl<br />

unter Linnés theologia experimentalis, seine Emeritierung kann aber sehr wohl<br />

als direkte Folge der Disputation bezeichnet werden. Und damit tritt auch der<br />

performative Charakter der Disputation zutage.<br />

1Gr<strong>und</strong>formen akademischer Disputationen im<br />

Mittelalter<br />

Natürlich sind Disputationen älter als das Mittelalter, oder präziser gesagt: gelehrte<br />

Diskussionen sind älter als das, was man gemeinhin das »Mittelalter«<br />

nennt. Die meisten Geschichten des gelehrten Dialogs beziehen sich zunächst auf<br />

Sokrates,Plato <strong>und</strong> Aristoteles, dann gewiss auch auf Cicero, wahrscheinlich auf<br />

die Dialoge Jesu <strong>und</strong> Pauli, auf Augustin <strong>und</strong> Boethius, <strong>und</strong>vielleicht auch noch<br />

auf Disputationen imfrühen arabischen Mittelalter. Den mit diesen Stichwörtern<br />

benannten Zusammenhängen wird zumeist eine »Debattenkultur«, eine<br />

»Kultur des Dialogs« beziehungsweise »der Disputation« unterstellt, die im lateinischen<br />

Westen mit dem Ende der Spätantike <strong>und</strong> dem Aufstieg des Christentums<br />

langsam aber sicher abbricht: »the end of dialogue«, wie ein 2008 erschienener<br />

Band zu diesem Thema betitelt ist. 7 Erst in der Renaissance lebt die<br />

Kultur des Dialogs wieder auf.<br />

Dieses jedem Mediävisten allzu vertraute Schema bestreitet freilich nicht,<br />

dass Disputationen eine beachtliche mittelalterliche Realität hatten, aber dieses<br />

Schema besteht doch darauf, Disputationen im Mittelalter auf kleine, relativ<br />

elitäre Kreise, auf den monastischen <strong>und</strong>akademischen Bereichzubeschränken.<br />

Sicher scheintindieser Perspektive, dass Disputationen ohne größere Folgen für<br />

die mittelalterliche »Kultur« <strong>und</strong> »Gesellschaft« blieben. Aber auch für den Bereich<br />

der Gelehrsamkeit ist häufig, wie zum Beispiel im entsprechenden Artikel<br />

des Historischen Wörterbuchs der Rhetorik, von »Fixierungen«, »Normierungen«<br />

<strong>und</strong> »Verfestigungen« die Rede:<br />

7<br />

Simon Goldhill (<strong>Hrsg</strong>.), The End of dialogue in antiquity, Cambridge 2008.


Disputationen als akademische Diskursform im Mittelalter 91<br />

»Durch die Disputation sind die allgemeinen Normen gelehrter mittelalterlicher<br />

Kommunikation im wesentlichen geschaffen, ausgebildet <strong>und</strong> gefestigt worden. Indem<br />

sie auch die formale Gestalt schriftlich kodifizierter Texte […] prägten, wurden<br />

sie zu beinahe unumstößlichen Strukturprinzipien wissenschaftlicher Darstellung.« 8<br />

Demnach sind wir mit unserem Thema also im Herzen »gelehrter mittelalterlicher<br />

Kommunikation« angelangt, wenngleich diese als nun nicht nachgerade<br />

vergnügungssteuerpflichtig erscheint. Ein Teil der hier angesprochenen, wiederum:<br />

missverständlichen, Perspektive erklärt sich aus einem Teufelskreis, der<br />

in unseren Quellen begründet liegt. Die übergroße Zahl der Nachrichten von<br />

Disputationen liegt ja in literarisch fixierter Form vor, die als häufig mehrstufige<br />

Überarbeitungen des eigentlichen Vorgangs nur in verhältnismäßig wenigen<br />

Fällen dessen Dynamik wiedergeben <strong>und</strong> daher in der Tat einen ziemlich statischen,<br />

schematischen <strong>und</strong> inhaltlich hochspezialisierten Eindruck hinterlassen.<br />

Was indieser literarischen Form unter Disputationen verstanden wird, hat zudem<br />

noch eine gewisse Nähe zu anderen Textgattungen, etwa zu Kommentaren,<br />

Summen oder einzelnen Traktaten, denen allen gemein ist, dass sie nach der<br />

quaestiones-Technik verfahren: einer eingangs gestellten Frage folgen Argumente<br />

pro <strong>und</strong> contra, bevor die Frage selbst beantwortet wird, <strong>und</strong> schließlich<br />

die zuvor aufgeworfenen Argumente,die ihrerseits gegen die Antwort sprechen,<br />

wiederum beantwortet werden. Dass diese Gr<strong>und</strong>struktur scholastischer Texte<br />

zahlreiche Varianten kennt <strong>und</strong> über die Jahrh<strong>und</strong>erte betrachtet auch vielfach<br />

abgewandelt wurde,ist bekannt. Doch trägt dieReduktion von Disputationen auf<br />

quaestiones eher zum Missverstehen als zum Verstehen mittelalterlicher Disputationspraktiken<br />

bei. 9<br />

Bleiben wir also lieber bei denjenigen Texten, die auf tatsächlich oder vermutlich<br />

abgehaltene Disputationen imengen Sinne zurückgehen, also auf bestimmte<br />

Anlässe im Schul- <strong>und</strong> Universitätsbetrieb. Aus diesen Texten sowie aus<br />

den entsprechenden Statuten des Lehrbetriebs, soweit sie überliefert sind, ergibt<br />

sich die folgende Klassifikation mittelalterlicher Disputationen. 10<br />

Erstens die quaestio disputata. Gerade im Unterschied zum Kommentar<br />

entwickelte sich diese Gr<strong>und</strong>form der akademischen Disputation als freie, von<br />

einem Referenztext unabhängige Form der Untersuchung wissenschaftlicher<br />

Probleme. Wir kennen sie seit Abaelard <strong>und</strong> aus den ältesten Universitätsstatuten,<br />

also aus Montpellier 1220<strong>und</strong> Paris um 1230, wo Magisterzum Abhalten<br />

8<br />

9<br />

10<br />

Hanspeter Marti, Art. Disputation, HWRh 2(1994), 866–880, hier: 873–874.<br />

Vgl. zu diesem Zusammenhang Olga Weijers, Insearch of the truth. Ahistory of disputation<br />

techniques from antiquity to early modern times, Turnhout 2013, 78–82.<br />

Gr<strong>und</strong>legend zu unserem Thema ist Olga Weijers, Terminologies des universités au XIII e<br />

siècle (Lessico intellettuale europeo 39), Rom 1987, bes. 283–384, sowie neuerdings<br />

Weijers, InSearch <strong>und</strong> de Boer, Disputation.


92 Florian Wöller<br />

solcher Disputationen verpflichtet wurden. 11 In der Regel bestand eine quaestio<br />

disputata aus zwei Sitzungen. Während der ersten disputierten opponens <strong>und</strong><br />

respondens, während es in der zweiten Sitzung dem Magister oblag, seine determinatio<br />

zu präsentieren <strong>und</strong> die gegensätzlichen Argumente zu widerlegen.<br />

Im dialektischen Unterricht an den Artistenfakultäten wurden die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

des Disputierens, die den seit circa 1130 bekannten SophistischenWiderlegungen<br />

des Aristoteles entnommen waren, vermittelt <strong>und</strong> eingeübt. Aus diesem Zusammenhang<br />

sind auch sogenannte »Sophismata« bekannt, Übungsdisputationen,<br />

die trickreiche Fehlschlüsse enthielten oder auf Paradoxa basierten, die<br />

unlösbar waren. Vielleicht liegt in solchen weit verbreiteten <strong>und</strong> teilweise auch<br />

überlieferten Praktiken des übungsweisen Disputierens (das für heutige Experten<br />

freilich ein nie versiegender Quell der Forscherlust bleibt) ein Gr<strong>und</strong> für<br />

das angestaubte Image mittelalterlicher Disputationen. 12<br />

Die zweite Gattung, die sich direkt aus den Quellen ergibt, ist die disputatio<br />

ordinaria <strong>und</strong> ihr Gegenstück, die disputatio privata. Ordentliche Disputationen,<br />

wenn diese Übersetzunggestattet ist, waren Anlässe, für deren Veranstaltung seit<br />

Mitte des 13. Jahrh<strong>und</strong>erts vielerorts eigene Tage eingerichtet waren.Ansolchen<br />

dies disputabiles ruhte der übrige Lehrbetrieb, die universitäre Öffentlichkeit<br />

hörte dem Magister <strong>und</strong> seinen Schülern beim Disputieren zu, <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

wurden nicht selten schon Mitschriften angefertigt, die die Magister anschließend<br />

zur Publikation vorbereiteten. 13 Einige der bekanntesten Werke des Thomas<br />

von Aquin gehen auf disputationes ordinariae zurück – <strong>und</strong> auch für diese Literatur<br />

gilt, dass sie nur in seltenen Fällen einen Eindruck von der eigentlichen<br />

Praxis des Disputierensvermittelt. Ähnlich wie die disputatio de quolibet, auf die<br />

ich noch eingehen werde, scheint die Bedeutung der ordinaria in der Theologie<br />

des vierzehnten Jahrh<strong>und</strong>erts deutlich abgenommen zu haben – übrigens an-<br />

11<br />

12<br />

13<br />

Als Überblick über den frühen Universitätsbetrieb in Frankreich vgl. Jacques Verger,<br />

The first French universities and the institutionalization of learning. Faculties, curricula,<br />

degrees, in: John H. Engen, Learning institutionalized. Teaching in the medieval university,<br />

Notre Dame, IN 2000, 5–19 <strong>und</strong> die dort gebotene Literatur.<br />

Zur (auch vormittelalterlichen) Geschichte negativer Reaktionen auf Sophismata vgl.<br />

Brian Lawn, The rise and decline of the scholastic »Quaestio Disputata« (Education and<br />

Society in the Middle Ages and Renaissance 2), Leiden 1993, 103–126.<br />

Vgl. Bernardo C. Bazàn, Les questions disputées, principalement dans les facultés de<br />

théologie, in: Ders. u.a. (<strong>Hrsg</strong>.), Les questions disputées et les questions quodlibétiques<br />

dans les facultés de théologie, de droit et de médecine (Typologie des sources du moyen<br />

âge occidental 44–45), Turnhout 1985, 14–149, hier: 70–76 (zu Disputationstagen) <strong>und</strong><br />

129–136 (zu Mitschriften).


Disputationen als akademische Diskursform im Mittelalter 93<br />

ders als in den artes, wo sie weiterhin zentraler <strong>und</strong> prominenter Bestandteil des<br />

akademischen Betriebs blieb. 14<br />

Die disputatio privata war, wie gesagt, das Gegenstück zur ordinaria. Wir<br />

wissen von einigen Studienhäusern der Orden, dass sie dort regelmäßig stattfanden,<br />

aber gerade unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aus dem Oxford des<br />

14. Jahrh<strong>und</strong>erts etwa ist die disputatio apud Augustinenses bekannt, die nur<br />

Studentenoffenstand <strong>und</strong> anscheinend ähnlich wie die Übungsdisputationen der<br />

Artisten dem Training diente. Soweit mir bekannt, sind disputationes privatae<br />

allerdings nicht schriftlich überliefert. 15<br />

2Quodlibeta <strong>und</strong> Principia bzw. Inceptiones<br />

Kommen wir nun zur vielleicht bekanntesten <strong>und</strong> für die Theologie des<br />

13. Jahrh<strong>und</strong>erts sicherlich bedeutendsten Gattung, zur disputatio de quolibet,<br />

die ähnlich wie die ordinaria an eigens dafür vorgesehenen Tagen in der Quadragesima<br />

<strong>und</strong> in der Adventszeit abgehalten wurde. Während man sagen kann,<br />

dass bei den bisher genannten Gelegenheiten Magister <strong>und</strong> Schüler gleichermaßen<br />

gefordert waren, erwecken die publizierten Quodlibetales den Eindruck,<br />

dass hier eher der Magister imVordergr<strong>und</strong> stand. In dieser Literaturgattung<br />

nimmt die magistrale Determination jedenfalls den größten Raum ein. Das Besondere<br />

am Quodlibet war ja, dass während der ersten Sitzung die Anwesenden<br />

dem Magistereinebeliebige Frage vorlegen konnten, welche dieser dann in<br />

der zweiten Sitzung einer Antwort zuführte. Anders aber als es die aus diesen<br />

Anlässen resultierenden Schriften suggerieren, scheinen die magistralen Determinationen<br />

eher knapp ausgefallen zu sein. Der markante Unterschied zwischen<br />

der kurzen Determination in den quodlibetalen Disputationen selbst <strong>und</strong><br />

den langen Ausführungen des Magisters in der nachträglichenLiteratur mag uns<br />

aber zumindest das methodische Gr<strong>und</strong>problem in Erinnerung rufen: zu den<br />

Disputationen selbst »stoßen« wir nur in seltenen Fällen durch diedicke Schicht<br />

der literarischen Bearbeitung hindurch.<br />

Ihren Höhepunkt erlebte die Disputatio de quolibet in der zweiten Hälfte<br />

des 13. <strong>und</strong> in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts. Ein gutes Beispielfür<br />

ihre Bedeutung ist die sich über Jahrzehnte hinziehende Auseinandersetzung<br />

zwischen Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaines, Aegidius von Rom <strong>und</strong><br />

weiteren wahrscheinlich weniger bekannten Größen der Pariser Universität.<br />

Ungefähr zwischen 1280 <strong>und</strong> 1320 disputierten diese theologischen Magister<br />

14<br />

15<br />

Vgl. William J. Courtenay, Postscript. The demise of quodlibetal literature, in: Christopher<br />

Schabel, Theological quodlibeta in the middle ages. Bd. 2, The fourteenth century<br />

(Brill’s Companions to the Christian Tradition 7), Leiden 2007, 693–699.<br />

Bazàn, Les questions (s. Anm. 13), 57 u. ö.


Luther(H)us revisited<br />

VonVorläufern, Vorreformatoren, Wegbereitern<br />

<strong>und</strong> Wahrheitszeugen<br />

Stefan Michels<br />

1Venezianische Brisen –Das Problem <strong>und</strong> seine<br />

theologische Brisanz<br />

Ende Oktober 1517 träumte es den weisen Kurfürsten Friedrich schwer. So<br />

schwer, dass er gleich dreiteilig träumte. 1 Die spätere Datierung des berühmten<br />

kurfürstlichen Traumes auf die Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1517 weist<br />

wohl in eine eindeutig inszenatorisch-dramatisierende Funktionalisierung dieser<br />

Erzählung, steht sie, so suggeriert es das legendarische Datum, als, wie Benz<br />

es formulierte, »oraculum ex eventu« 2 in einer Art prophetischer Tradition. 3<br />

1<br />

2<br />

3<br />

Vgl. gr<strong>und</strong>legend Hans Volz, Der Traum Kurfürst Friedrichs des Weisen vom 30./<br />

31. Oktober 1517, GutJb 45 (1970), 174–211; vgl. als neuere Zusammenfassung des<br />

Problems <strong>Martin</strong>a Schattkowsky, Der Traum Friedrichs des Weisen vom 30./31. Oktober<br />

1517,in: Armin Kohnle (<strong>Hrsg</strong>.), Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen. Politik,<br />

Kultur <strong>und</strong> Reformation (Quellen <strong>und</strong> Forschungen zur sächsischen Geschichte 40),<br />

Stuttgart 2015, 413–423; zur Gliederung des Traumes vgl. HeikoA.Oberman, Hus <strong>und</strong><br />

Luther. Der Antichrist <strong>und</strong> die zweite reformatorische Entdeckung, in: Ferdinand Seibt<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen (Veröffentlichungen des<br />

Collegium Carolinum 85), München 1997, 319–346, bes. 334.<br />

Ernst Benz, Der Traum Kurfürst Friedrichs des Weisen, in: Karlmann Beyschlag<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Humanitas – Christianitas, FS Walther von Loewenich, Witten 1968, 134–149,<br />

139, allerdings verb<strong>und</strong>en mit dem falschen Urteil, Luther habe diese prophetische<br />

Verbindung »nirgendwo« erwähnt, a. a. O., 145.<br />

Zur heilsgeschichtlichen Bedeutung Luthers vgl. Wolfgang Sommer, Politik, Theologie<br />

<strong>und</strong> Frömmigkeit im Luthertum der frühen Neuzeit – Ausgewählte Aufsätze (FKDG 74),<br />

Göttingen 1999, 157–159; vgl. gr<strong>und</strong>legend Robert Kolb, <strong>Martin</strong> Luther as prophet,<br />

teacher, hero. Images of the Reformer 1520–1620, Grand Rapids 1999; vgl. auch, unter<br />

etwas anderer Perspektive, die v. a. Luthers Theologie des Handelns Gottes in der Geschichte<br />

fokussiert, Heiko A.Oberman, <strong>Martin</strong> Luther: Vorläufer der Reformation, in:<br />

EberhardJüngel u.a. (<strong>Hrsg</strong>.), Verifikationen, FS Gerhard Ebeling, Tübingen 1982, 91–


108 Stefan Michels<br />

Offensichtlich passend zu dieser Deutung als Teil einer großangelegten Monumentalisierungskampagne<br />

4 Luthers im Umfeld des ersten Reformationsjubiläums<br />

im Jahr 1617 ist, 5 dass sich der erste Teil des Traumes damit befasst, wie der<br />

weise Kurfürst einem Mönch den Anschrieb einiger Thesen an die Tür der<br />

Schlosskirche gestattete. Mit einer überlangen Feder schrieb der Mönch seine<br />

Thesen an die Tür, während das andere Ende der Feder die Tiara des römischen<br />

Papstes zum Wanken brachte. Dass er von diesem Traumteil aufwachte, machte<br />

den Kurfürsten zornig, 6 was ihn nicht daran hinderte, erneut einzuschlafen <strong>und</strong><br />

weiter zu träumen. Im zweiten Teil seines Traumes beschäftigte den Weisen<br />

offenbar die Aufforderung des Papstes an die Reichsstände, also auch an ihn, dem<br />

Treiben dieses Mönches Einhalt zu gebieten. Als es im dritten Teil daran geht,<br />

dass die Reichsstände der päpstlichen Aufforderung Folge leisteten <strong>und</strong> sie<br />

versuchten, die übergroße Schreibfeder des Mönches zu zerbrechen, gelingt ihnen<br />

das nicht. Der überraschte Kurfürst fragte den mysteriösen Mönch in seinem<br />

Traum, warumseine Feder »so zähe <strong>und</strong> feste sei«, woraufhin der Mönchschlicht<br />

antwortete, »sie wäre von einer alten h<strong>und</strong>ertjährigen Böhmischen Gans«. 7<br />

Nun sollen die folgenden Ausführungen keineswegs einen ornithologischen<br />

Erk<strong>und</strong>ungsgang durch den Bereich des gefiederten Nutzviehs sein, sondern<br />

fragen vielmehr nach einem sich v. a. nach 1548 immer stärker herausbildenden<br />

evangelischen Selbstbewusstsein, gespeist aus den Quellen einer wieder aufgespürten<br />

Kontinuität in der Geschichte des Christentums von Jerusalem über Prag<br />

nach Wittenberg. Bereits während der ersten Orientierungsversuche der Wittenberger<br />

in der Geschichte der Kirche wurde schnell klar, dass es zur Legitimierung<br />

des eigenen Standes vonnöten sein würde, die Spuren der gewonnenen<br />

theologischen Erkenntnisse in einer Art »Vorgeschichte« der eigenen Bemühungen<br />

zu suchen. Die Figur des böhmischen Reformtheologen Jan Hus<br />

(ca. 1370–1415) spielte dabei von Beginn an die tragende Schlüsselrolle. 8 Nicht<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

119; vgl. ders., Luther: die Macht der Prophetie, in: Ders., Die Wirkung der Reformation.<br />

Probleme <strong>und</strong> Perspektiven (IEG.V 80), Stuttgart 1987, 46–52.<br />

Vgl. zu diesem Theorem der neueren Kirchengeschichtsforschung <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>, Von<br />

charismatischer Leitung zur Institutionalisierung. Die Bedeutung der Monumentalisierung<br />

Luthers im Gesamtgeschehen der Reformation, in: Ders., Transformationen. Studien<br />

zu den Wandlungsprozessen in Theologie <strong>und</strong> Frömmigkeit zwischen Spätmittelalter<br />

<strong>und</strong> Reformation (SHR 86), Tübingen 2015, 519–530.<br />

Vgl. <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>, Identitätsstiftende Erinnerung. Das Reformationsjubiläum 1617,in:<br />

Ders., Reformatorische Gestaltungen. Theologie <strong>und</strong> Kirchenpolitik in Spätmittelalter<br />

<strong>und</strong> Früher Neuzeit (AKThG 43), Leipzig 2016, 331–353.<br />

Vgl. Volz, Der Traum (s. Anm. 1), 178.<br />

Vgl. Volz, Der Traum (s. Anm. 1), 179, Zitat ebd.<br />

Vgl. HeikoA.Oberman, Hus and Luther. Prophets of aradical Reformation, in: Rodney L.<br />

Petersen/Calvin Augustine Pater (<strong>Hrsg</strong>.), The contentious triangle. Church, state and


Luther(H)us revisited 109<br />

allein deswegen, weil er, neben der Publikation der sog. Theologia Deutsch durch<br />

<strong>Martin</strong> Luther 1516 <strong>und</strong> 1518, 9 der vielen anderen Druckausgaben von für die<br />

frühe Reformation in Anspruch genommenen »Vorläufern« der eigenen Sache,<br />

die erste historische Bezugsgröße einer sich neu findenden evangelischen Ekklesiologie<br />

<strong>und</strong> Geschichtssicht wurde, sondern auch, weil der theologische wie<br />

existenziale Rückbezug Luthers auf Hus als dessen transformierender Applikation<br />

so etwas wie eine hermeneutische Folie bot, auf die es sich aufbauen ließ.<br />

1556 z. B. veröffentlichte der streitbare Theologe Matthias Flacius Illyricus, geschult<br />

an der strikten topologischen Loci-Methode des venezianischen Humanisten<br />

Giovanni Battista Egnazio, 10 seinen Catalogus testium veritatis 11 ,indem er<br />

r<strong>und</strong> 400 testes veritatis versammelte, die allesamt eines gemeinsam hatten: sie<br />

9<br />

10<br />

11<br />

university, FS George Hunston Williams (SCES 51), Kirksville 1999, 135–166; vgl.<br />

Thomas Kaufmann, Jan Hus <strong>und</strong> die frühe Reformation, in: <strong>Martin</strong> Kessler/<strong>Martin</strong><br />

Wallraff (<strong>Hrsg</strong>.), Biblische Theologie <strong>und</strong> historisches Denken. Wissenschaftliche<br />

Studien aus Anlass zur 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend (Studien<br />

zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, N.F. 5), Basel 2008, 62–109, dort auch<br />

weitere Literatur.<br />

Vgl. Lydia Wegener, Der ›Frankfurter‹: ›Theologia Deutsch‹.Spielräume <strong>und</strong> Grenzen des<br />

Sagbaren (Frühe Neuzeit 201), Berlin/Boston 2016, besonders die Abschnitte zu den<br />

jeweiligen Vorreden Luthers 394 f., 411–415.<br />

Vgl. LukaIlic, Peregrinatio academica and Life Pilgrimage of Matthias Flacius Illyricus.<br />

From Labin to Wittenberg, in: Irene Dingel u.a. (<strong>Hrsg</strong>.), Matthias Flacius Illyricus.<br />

Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption (VIEG, Suppl.<br />

125), Göttingen 2019, 11–20, 14; vgl. zum methodisch-hermeneutischen Hintergr<strong>und</strong><br />

des historischen Denkens des Flacius Harald Bollbuck, Die Geburt protestantischer<br />

Geschichtsschreibung aus theologischer Topik. Zur historischen Methode der Magdeburger<br />

Zenturien, in: Günter Frank/Stephan Meier-Oeser (<strong>Hrsg</strong>.), Hermeneutik, Methodenlehre,<br />

Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit (Melanchthon-Schriften<br />

der Stadt Bretten 11), Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 123–146.<br />

Vgl. Matthias Flacius Illyricus,Catalogus testium veritatis, qui ante nostrum aetatem<br />

reclamarunt Papae, Basel [Oporinus] 1556; eine zweite, deutlich erweiterte Auflage<br />

erschien 1562 in Straßburg: ders., Catalogus testium veritatis, qui ante nostram aetatem<br />

Pontifici Romani, eiusque erroribus reclamarunt, Straßburg [Messerschmidt] 1562; vgl.<br />

<strong>Martin</strong>a Hartmann, Humanismus <strong>und</strong> Kirchenkritik. Matthias Flacius Illyricus als<br />

Erforscher des Mittelalters (BGQMA 19), Stuttgart 2001, bes. 141–198; vgl. Harald<br />

Bollbuck, Wahrheitszeugnis, Gottes Auftrag <strong>und</strong> Zeitkritik. Die Kirchengeschichte der<br />

Magdeburger Zenturien (Wolfenbütteler Forschungen 138), Wiesbaden 2014, bes. 88–<br />

98; vgl. Luka Ilic, Theologian of sin and grace. The process of radicalization in the<br />

theology of Matthias Flacius Illyricus (VIEG 225), Göttingen u. a. 2014, bes. 120–123;<br />

vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, Matthias Flacius Illyricus <strong>und</strong> die Konzeption der<br />

Zeugenschaft imCatalogus testium veritatis, in: Irene Dingel u. a. (<strong>Hrsg</strong>.), Matthias<br />

Flacius Illyricus (s. Anm. 10), 159–174.


110 Stefan Michels<br />

besaßen den Mut <strong>und</strong> die theologische Eignung, den Antichrist, so die programmatische<br />

Kriteriologie des Flacius, 12 nicht allein als im Papsttum zu Rom<br />

sitzend zu entlarven, sondern auch aktiv zubekämpfen. Im Ernstnehmen der<br />

realen Gegenwart des Antichrist, was mehr ist als das Postulat einer bloßen<br />

»Vorstellung« oder »Idee« dieser Christus <strong>und</strong> seine Wahrheit bekämpfenden<br />

Macht, zeigt sich Flacius <strong>und</strong>, nach seinem Dafürhalten, das gesamte Luthertum<br />

bewusstineiner Tradition, die über Luther bis auf Jan Hus <strong>und</strong> z. T. weiter reicht.<br />

Denn gerade Hus war es wichtig, das, wie Oberman es bezeichnet, »evangelische<br />

Pastorat«, 13 den ewigzeitlichen Auftrag aufrechter Christenmenschen, den Antichrist<br />

zu entlarven, einzuschärfen. Denn nur derjenige, der sich dieses Postulat<br />

in seinem Christenleben aneignet, sei dafür geeignet, die Kathedra sowohl des<br />

Mose als auch des Petrus für sich zu besetzen, 14 also in allumfassendem Sinn<br />

rechtmäßig zu lehren <strong>und</strong> zu leben.<br />

Diese endzeitliche Entlarvung des Antichrist gehört aufs Engste in das<br />

Muster ekklesiologischer Ausdeutungen, wie es bereits über John Wyclif auf Jan<br />

Hus <strong>und</strong> von dort aus transformiert weiter auf die Wittenberger Theologie des<br />

frühen 16. Jahrh<strong>und</strong>erts gekommen war. Als solches verursachte das Phänomen<br />

auch erst die theologische Traktierung De ecclesia <strong>und</strong> weist bereits aus sich<br />

heraus auf den Modus der späteren Aneignung durch die Reformation inWittenberg:Die<br />

Sicherstellung des Erweises der Kontinuität in der wahren Kirche in<br />

Abgrenzung von der Depravation der falschen, 15 deren größtes Ziel als congregatio<br />

Antichristi eswar, die wahre Kirche in ihrer Entfaltung zuhindern. Diesen<br />

Aufweis greifbar <strong>und</strong> fassbar werden zu lassen, beruht auf extrinsischem<br />

Druck zur Apologie einerseits, auf intrinsischer Motivation zur legitimierenden<br />

Absicherung nach innen andererseits. In der Verschränkung dieser beiden<br />

Perspektiven liegt der Anfang einer dezidiert von Luther beeinflussten, von<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Vgl. Flacius, Catalogus (s. Anm. 11), praef., unpaginiert.<br />

Oberman, Hus <strong>und</strong> Luther (s. Anm. 1), 326.<br />

Vgl. Samuel Harrison Thomson (<strong>Hrsg</strong>.), Jan Hus, Tractatus de Ecclesia (Spisy Komenského<br />

Evangelické Fakulty Bohoslovecké, ada A, 22), Prag 1958, Kap. 18 F, 161:<br />

»Vere ergo sedet in kathedra Moysi vel Petri qui in auctoritate scripture et bene vivit et<br />

bene docet, qui nichil extranei ad legem addit nec de kathedra questum et faustum<br />

querit.«<br />

Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele, Die Kontinuität der Kirche. Oppositionelle Konzeptionen<br />

im Hoch- <strong>und</strong> Spätmittelalter, in: Andreas Speer (<strong>Hrsg</strong>.), Das Sein der Dauer<br />

(Miscellanea mediaevalia 34), Berlin u.a. 2008, 398–413, 412; vgl. gr<strong>und</strong>legend Wolf-<br />

Friedrich Schäufele, »Defecit Ecclesia«. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung<br />

des Mittelalters (VIEG 213), Mainz 2006; vgl. zur reformationszeitlichen<br />

Aneignung depravativer Modelle Jan Löhdefink, Zeiten des Teufels. Teufelsvorstellungen<br />

<strong>und</strong> Geschichtszeit in frühreformatorischen Flugschriften (1520–<br />

1526) (BHTh 182), Tübingen 2016, bes. 110–113.


Luther(H)us revisited 111<br />

Melanchthon systematisierten <strong>und</strong> von Flacius zum festen Masternarrative erhobenen<br />

reformatorischen Geschichtsmethodik, 16 deren wichtigstes Erkennungsmerkmal<br />

der theologisch verifizierendeRückbezug auf »tote Fre<strong>und</strong>e« mit<br />

dem Ziel einer transformierenden Aneignung theologischer Lehrinhalte wie<br />

beeindruckender, diesen Lehrinhalten konsequent folgender Lebensvollzüge<br />

ist. 17 Der Venezianer Flacius, dessen Geburtsort Albona zum Regierungsbezirk<br />

der Serenissima zählte, sorgt hier für den nötigen Durchzug, für venezianische<br />

Brisen in der nachinterimistischen Geschichtsschreibung. Zuvor hatte bereits<br />

Melanchthon basal seit 1539, im Übrigen auch in einem Traktat De ecclesia,<br />

vertiefendabetwa 1542 große Mühen aufgebracht, um Luthers unsystematische<br />

Geschichtssicht stärker auf den Aspekt der Lehrkontinuität hin zu konturieren,<br />

auch auf dem Hintergr<strong>und</strong> der religionspolitischen Ereignisse <strong>und</strong> Konstellationen<br />

in der ekklesiologischen Dekade zwischen 1530 <strong>und</strong> 1540. Luthers<br />

theologische Verliebtheit im Hinblick auf Hus <strong>und</strong> dessen Traktat De ecclesia<br />

bilden aber den Anfang eines der einflussreichsten evangelischen Masternarrative<br />

überhaupt, der im Theorem der Wahrheitszeugen gipfeln sollte, um nicht<br />

etwa im 17. anseinen eigenen Gr<strong>und</strong>lagen zu implodieren, 18 sondern einen<br />

weiteren Höhepunkt im 19., 19 <strong>und</strong> weitere Früchte im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert 20 zu zeitigen.<br />

An einer neueren Verhältnisbestimmung von Hus <strong>und</strong> Luther hängt somit<br />

auch ein gutes Stück historische Arbeit an der eigenen, der evangelischen<br />

Identität, denn sie führt zurück auf die Anfänge der Reformation inWittenberg<br />

<strong>und</strong> wirft zugleich die aus kirchenhistorischer Sicht ungleich wichtigere Frage<br />

auf, inwiefern der Einfluss vorreformatorischer Figuren <strong>und</strong> Theologien am Ende<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

Wolf-Friedrich Schäufele, Die Selbsthistorisierung der Reformation mittels der Konzeption<br />

evangelischer Wahrheitszeugen, ZKG 128 (2017), 156–170, 158, fasst diesen<br />

methodischen Neuaufbruch als »Selbsthistorisierung der Reformation«.<br />

Vgl. die Beiträge in Günter Frank (<strong>Hrsg</strong>.), Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen<br />

von Vorreformatoren (Melanchthon-Schriften der Stadt Bretten 8), Stuttgart-Bad<br />

Cannstatt 2004; vgl. auch Schäufele, Die Selbsthistorisierung (s. Anm. 16); vgl. ders.,<br />

Wegbereiter der Reformation? ›Vorreformatorische‹ religiöse Bewegungen <strong>und</strong> ihre<br />

Anhänger im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Irene Dingel/Andrea Hofmann (<strong>Hrsg</strong>.), Entfaltung<br />

<strong>und</strong> zeitgenössische Wirkung der Reformation im europäischen Kontext (SVRG 216),<br />

Gütersloh 2015, 137–153.<br />

So Matthias Pohlig, Zwischen Gelehrsamkeit <strong>und</strong> konfessioneller Identitätsstiftung.<br />

Lutherische Kirchen- <strong>und</strong> Universalgeschichtsschreibung 1546–1617 (Spätmittelalter<br />

<strong>und</strong> Reformation, N.R. 37), Tübingen 2007, 338–341; vgl. dagegen Schäufele, Die<br />

Selbsthistorisierung (s. Anm. 16), 167–169.<br />

Vgl. Carl Ullmann, Reformatoren vor der Reformation. Vornehmlich in Deutschland<br />

<strong>und</strong> den Niederlanden, 2Bde., Gotha 1866.<br />

Vgl. Heiko A.Oberman, Forerunners of the Reformation. The shape of late medieval<br />

thought illustrated by key documents, New York 1966; vgl. Gustav Adolf Benrath,<br />

Wegbereiter der Reformation (Klassiker des Protestantismus 1), Bremen 1967.


112 Stefan Michels<br />

wirklich einschlägig war <strong>und</strong> wie diese Einflugschneise historisch-kritisch angemessen<br />

zu beschreiben ist.<br />

2Der Teufel trägtTiara<br />

Ein wichtiger, wenngleich im Kosmos der Vorläufer-Diskussion oft vernachlässigter<br />

Aspekt, ist die ekklesiologische Zuspitzung des Wittenberger Reformprogramms<br />

bis zur <strong>und</strong> auf der Leipziger Disputation im Sommer 1519. Mit der<br />

sich seit 1517 immer mehr verdichtenden Kritik an Strukturen der Kirchenleitung,<br />

speziell mit Fokus auf dem Papstamt, war die Autoritätenfrage in der Kirche<br />

erneut 21 <strong>und</strong> neu gestellt. 22 Luthers theologische Gegner wussten <strong>und</strong> erkannten<br />

das früh. So nimmt es nicht w<strong>und</strong>er, dass sowohl das sog. »Väterliche Verhör«<br />

Cajetans 1518 als auch die literarische Auseinandersetzung zwischen Luther<br />

<strong>und</strong> zunächst Tetzel, dann Johannes Eck bis zum Aufeinandertreffen der beiden<br />

Kontrahenten in Leipzig 1519 v.a. durch diese Frage strukturiert <strong>und</strong> geprägt<br />

war. 23 An der Frage nach der rechten Autorität in der Kirche hingen vieleandere<br />

Bereiche, wie die Buß- <strong>und</strong> Ablasstheologie, die Frage nach dem freien Willen,<br />

aber auch die Kleruskritik im Allgemeinen. Vorallem aber die Frage nach Anspruch<br />

<strong>und</strong> theologischer Begründung des Papstprimates 24 verlieh der gesamten<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

Vgl. die instruktiven Hinweise auf die Vorgeschichte reformatorischer Kritik bei Wolf-<br />

Friedrich Schäufele, Die Kirchenkritik des Hoch- <strong>und</strong> Spätmittelalters <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />

für die Reformation, in: Irene Dingel u. a. (<strong>Hrsg</strong>.), Initia Reformationis. Wittenberg<br />

<strong>und</strong> die frühe Reformation (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation<br />

<strong>und</strong> der Lutherischen Orthodoxie 33), Leipzig 2017, 67–82.<br />

Vgl. <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>, Papst, Konzil <strong>und</strong> Kirchenväter. Die Autoritätenfrage in der Leipziger<br />

Disputation, in: Markus Hein/Armin Kohnle (<strong>Hrsg</strong>.), Die Leipziger Disputation<br />

1519 (HerChr, Sonderbd. 18), Leipzig 2011, 117–124; vgl. <strong>Volker</strong> <strong>Leppin</strong>,Die Genese des<br />

reformatorischen Schriftprinzips. Beobachtungen zu Luthers Auseinandersetzung mit<br />

Johannes Eck bis zur Leipziger Disputation, in: Ders.(<strong>Hrsg</strong>.), Reformatorische Theologie<br />

<strong>und</strong> Autoritäten. Studien zur Genese des Schriftprinzips beim jungen Luther (SHR 85),<br />

Tübingen 2015, 97–139.<br />

Vgl. Kurt-Victor Selge, Der Wegzur Leipziger Disputation zwischen Luther <strong>und</strong> Eck im<br />

Jahr 1519, in: Bernd Moeller/Gerd Ruhbach (<strong>Hrsg</strong>.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte,<br />

FS Hans Freiherr von Campenhausen, Tübingen 1973, 169–210; vgl.<br />

auch Johann Karl Seidemann, Die Leipziger Disputation im Jahre 1519. Aus bisher<br />

unbenutzten Quellen historisch dargestellt <strong>und</strong> durch Urk<strong>und</strong>en erläutert, Dresden/<br />

Leipzig 1843.<br />

Vgl. Folkert Rickers, Das Petrusbild Luthers. Ein Beitrag zu seiner Auseinandersetzung<br />

mit dem Papsttum, Diss., Heidelberg 1967.


Loci theologici<br />

Methodologische, historische <strong>und</strong> systematische<br />

Überlegungen zur Vorgeschichte der neuzeitlichen<br />

topischen Dogmatik<br />

Günter Frank<br />

Im Blick auf die »Loci« der Theologie, die Melanchthon richtungsweisend für<br />

die protestantische Dogmatik entwickelt hatte, fallen zwei Beobachtungen auf,<br />

die hinsichtlich seiner Loci-Theologie selten, wenn überhaupt berücksichtigt<br />

werden. Einerseits steht sie im Kontext einer gerade in der Frühen Neuzeit<br />

Karriere machenden Disziplin, die konfessionsübergreifend festzustellen ist. Vor<br />

allem sind es der Wittenberger Humanist <strong>und</strong> Reformator Philipp Melanchthon<br />

(1497–1560) 1 <strong>und</strong> der spanische DominikanerMelchior Cano (1509–1560) 2 ,die<br />

als Inauguratoren dieser an der Topik orientierten theologischen Methode der<br />

Loci communes in der Vergangenheit Beachtung gef<strong>und</strong>en haben. Unter den<br />

Wittenberger Theologen sind hier im Anschluss an Melanchthon etwa die einflussreichen<br />

Traktate von <strong>Martin</strong> Chemnitz (1522–1586) »Loci theologici«, die<br />

1<br />

2<br />

Eine umfangreiche bibliographische Übersicht über Melanchthons Loci-communes-<br />

Traktate, ergänzt mit ihren Kritikern, findet sich schon bei dem Nürnberger Pfarrer<br />

Georg Theodor Strobel († 1786), der selbst mit 1870 Bänden, vor allem Erstausgaben des<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>erts, eine der umfangreichsten Sammlungen von Melanchthoniana besaß;<br />

Georg Theodor Strobel (<strong>Hrsg</strong>.), Versuch einer Litterär Geschichte von Philipp Melanchthons<br />

LOCIS THEOLOGICIS als dem ersten Evangelischen Lehrbuche, Altdorf/Nürnberg<br />

1776. In der Zwischenzeit ist eine umfangreiche Studie zur Tradition der topischen<br />

Dogmatik erschienen: Günter Frank, Topik als Methode der Dogmatik. Antike – Mittelalter<br />

– Frühe Neuzeit (TBT 179), Berlin 2017.<br />

Eine gr<strong>und</strong>legende Darstellung <strong>und</strong> Würdigung der theologischen Methodenlehre Canos<br />

mit ausführlicher Literatur findet sich in der Habilitationsschriftvon BernhardKörner,<br />

Melchior Cano, De locis theologicis. Ein Beitrag zur theologischen Erkenntnislehre, Graz<br />

1994; vgl. darüber hinaus: Elmar Klinger, Ekklesiologie der Neuzeit. Gr<strong>und</strong>legung bei<br />

Melchior Cano <strong>und</strong> Entwicklung bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil, Freiburg<br />

i.Br. 1978; Peter Walter, Philipp Melanchthon <strong>und</strong> Melchior Cano. Zur theologischen<br />

Erkenntnis- <strong>und</strong> Methodenlehre im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Günter Frank/Kees Meerhoff<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Melanchthon <strong>und</strong> Europa, Bd. 2: Westeuropa (Melanchthonschriften der Stadt<br />

Bretten 6,2), Stuttgart 2002, 67–84, bes. 70–76.


136 Günter Frank<br />

posthum von Polycarp Leyser 1591 inFrankfurt herausgegeben wurden, 3 oder<br />

die neunbändigen »Locorum Theologicorum« 4 von Johann Gerhard (1582–1637),<br />

in Jena zwischen 1610 bis 1622 publiziert, sowie das einflussreiche, bereits in<br />

anti-melanchthonischer Absicht verfasste »Compendium Locorum Theologicorum«<br />

von LeonhardHutter (1563–1616) 5 zu nennen, das bereits im Jahr 1613 in<br />

einer deutschen Übersetzung erschienen war <strong>und</strong> bis in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hinein als theologischesLehrbuch an den Universitäten Verwendung fand. 6 Unter<br />

den reformierten Gelehrten ragen heraus die bislang zu wenig beachteten »Loci<br />

communes« des Norditalieners <strong>und</strong> später in Oxford lehrenden Theologieprofessors<br />

Pietro Martire Vermigli (1499–1562), die posthum 1576 inLondon publiziert<br />

<strong>und</strong> bereits 1583 hier ins Englische übersetzt wurden <strong>und</strong> die bis 1656<br />

neben diesen beiden noch 12 weitere Auflagen erreichen sollten. 7 Beachtung<br />

gef<strong>und</strong>en haben jüngst auch die »Loci communes« von Wolfgang Muskulus. 8<br />

Auch auf römischer Seite hatten »Loci-communes«-Traktate seit dem<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>ert dogmatische Konjunktur. So hatte diese Tradition schon der<br />

Ingolstädter Theologe Johannes Eck (1486–1543) mit seinem »Enchiridion locorum<br />

communium« aus dem Jahr 1525 9 eröffnet, das seit der Bemerkung<br />

3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

<strong>Martin</strong> Chemnitz, Loci theologici reverendi et clarissimi viri D. <strong>Martin</strong>i Chemnitii […]<br />

quibus et loci communes Philippi Melanchthonis perspicue explicantur, Editio Nomine<br />

Haeredvm, Opera Et// studio Polycarpi Leyseri D.// Successoris ipsius, Francoforti Ad<br />

Moenvm 1591; VD16 C2197.<br />

Johann Gerhard, Locorum Theologicorum Cum Pro Adstruenda Veritate, TumPro destruenda<br />

qvorumvis contradicentium falsitate per Theses nervose, solide &copiose explicatorum<br />

tomus.<br />

Vgl. auch die Neuausgabe: Johann Anselm Steiger (<strong>Hrsg</strong>./Komm.), Compendium locorum<br />

theologicorum ex scripturis sacris et libro concordiae: lateinisch – deutsch –<br />

englisch. Mit einem Nachwort sowie einer Bibliographie sämtlicher Drucke des Compendium<br />

versehen (Doctrina et pietas, Abt. 2, Varia 3), Stuttgart-Bad Cannstatt 2006.<br />

Noch der Jenenser Theologieprofessor Karl August (von) Hase (1800–1890) hatte sein<br />

Hauptwerk der lutherischen Dogmatik »Hutterus redivivus« (1829; 1887) genannt.<br />

Vgl. hierzu insgesamt Carl Heinz Ratschow, Lutherische Dogmatik zwischen Reformation<br />

<strong>und</strong> Aufklärung, 2Bde., Gütersloh 1964–1966.<br />

Vgl. die bibliographische Übersicht bei John Patrick Donnelly/Robert M. Kingdon,<br />

Abibliography of the works of Peter Martyr Vermigli. With aregister of Vermigli’s<br />

correspondence (SCES 13), Kirksville, MO 1990, 98–126; Christoph Strohm, Petrus<br />

Martyr Vermiglis Loci Communes <strong>und</strong> Calvins Institutio, in: Emidio Campi (<strong>Hrsg</strong>.), Peter<br />

Martyr Vermigli. Humanism, republicanism, Reformation (THR 365), Genève 2002, 77–<br />

104.<br />

Herman J. Selderhuis, Die Loci Communes des Wolfgang Musculus. Reformierte Dogmatik<br />

anno 1560, BPfKG 69 (2002), 9–26.<br />

Johannes Eck, Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes<br />

ecclesiae, Landshut 1525; vgl. hierzu die Neuausgabe von Pierre Fraenkel (<strong>Hrsg</strong>.),


Loci theologici 137<br />

Huldrych Zwinglis in einem Brief anVadian vom 22. April 1526, Eck habe mit<br />

seinen »Loci« Melanchthon nachgeahmt, 10 gemeinhin als Erwiderung auf Melanchthons<br />

frühe »Loci communes« gilt, 11 dessen nachhaltigen Einfluss immerhin<br />

die stattliche Anzahl von 121 Auflagen belegt. 12 Als kritische Auseinandersetzung<br />

mit der »Loci-communes«-Theologie wurden von Melanchthon 13<br />

höchstpersönlich die »Topicorum Theologicorum libri duo« des Pariser Benediktiners<br />

Joachim Perionius (Périon, 1499–1559) angesehen, die zwischen 1549<br />

<strong>und</strong> 1559 in Paris in drei Ausgaben erschienen waren <strong>und</strong> die insofern einen<br />

terminologischen Höhepunkt dieser Traktattradition darstellen, als sie schon<br />

im Titel programmatisch eine »Theologische Topik« versprechen. 14 Wenig bekannt<br />

<strong>und</strong> untersuchtsind darüberhinaus die »Locorum communium religionis<br />

Christianae partitiones« des Kölner Humanisten <strong>und</strong> Kontroverstheologen Arnold<br />

von Wesel (gest. 30. 10. 1534) 15 ,die allerdings erst posthum im Jahr 1564 im<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

Johannes Eck, Enchiridion locorum communium adversus Lutherum et alios hostes<br />

ecclesiae. (1525–1543) (CCath 34), Münster 1979.<br />

»Eccius quosdam locos explicuit communes, ut arbitror Melanchthonem imitatus […]«;<br />

CR 95, 574.<br />

In der gegenwärtigen Forschung wird diese These jedoch modifiziert, Ecks »Enchiridion«<br />

durchaus als ein eigenständiger Entwurf gewürdigt, der kontroverstheologischen Zwecken<br />

der katholischen Theologie diente. Vgl. hierzu die Hinweise bei Fraenkel (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Enchiridion (s. Anm. 9), 7*–16*; Nelson H. Minnich, Onthe origins of Eck’s »Enchiridion«,<br />

in: Erwin Iserloh (<strong>Hrsg</strong>.), Johannes Eck (1486–1543) im Streit der Jahrh<strong>und</strong>erte.<br />

Internationales Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum<br />

aus Anlaß des 500. Geburtstages des Johannes Eck vom 13. bis 16. November<br />

1986 in Ingolstadt <strong>und</strong> Eichstätt (RST 127), Münster 1988, 37–73.<br />

Erwin Iserloh (<strong>Hrsg</strong>.), Katholische Theologen der Reformationszeit, Bd. 3(KLK 46),<br />

Münster 1986, 17.<br />

So Melanchthon in seinem Widmungsschreiben an Anna, die Ehefrau seines Fre<strong>und</strong>es<br />

Joachim Camerarius, in seiner deutschen Ausgabe der »Loci Theologici«, die 1553 als<br />

»Heuptartikel Christlicher Lere« publiziert worden war. Vgl. hierzu die Neuedition Ralf<br />

Jenett/Johannes Schilling (<strong>Hrsg</strong>.), Philipp Melanchthon, Heubtartikel Christlicher<br />

Lere. Melanchthons deutsche Fassung seiner LOCI THEOLOGICI, nach dem Autograph<br />

<strong>und</strong> dem Originaldruck von 1553, Leipzig 2002, hier 78.<br />

Joachim Peronius, Ioachimi Perionii Benedictini Cormoeriaceni Theologi Parisiensis<br />

Topicorum Theologicorum libri duo, Quorum in posteriore de iis omnibus agitur, quae<br />

hodie ab haereticis defenduntur, Parisiis 1549. Zu Joachim Perionius (Périon) vgl. Johann<br />

Heinrich Zedler, Universallexikon, Bd. 27, Leipzig 1741, 437 f.; Christian<br />

Gottlieb Jöcher, Allgemeines Gelehrtenlexikon, Bd. 3, Leipzig 1751, Neudruck Hildesheim<br />

1961, 1391f.<br />

Arnold von Wesel wird in der Literatur unterschiedlich benannt. Sein richtiger Name ist<br />

wohl Arnold Haldrein. Es finden sich auch die Namensnennungen von Halderen (nach<br />

dem Geburtsort des Vaters) oder auch Haldrenius. Nach seinem Geburtsort Wesel am


138 Günter Frank<br />

Druck vorlagen. 16 Ihren Höhepunkt erreichte die »Loci-communes«-Tradition<br />

unter römischen Theologen zweifellosinMelchior Canos berühmtem Traktat »De<br />

locis theologicis«, der 1563 posthum in Salamanca veröffentlicht wurde. Sein<br />

Einfluss – dies ist häufig herausgestellt worden – kann kaum überschätzt werden.<br />

Zweifelloshat dieser Traktat dieMethodenlehre der katholischenDogmatik<br />

über 400 Jahre geprägt.<br />

Ohne es bereits an dieser Stelle näher darlegen zu müssen, ist klar, dass die<br />

unterschiedlichen »Loci«-Traktate konfessionsspezifische Dogmatiken darstellen.<br />

Diese Beobachtung der konfessionsübergreifenden Karriere von »Locitheologici«-Traktaten<br />

wirft dann aber die Frage auf, weshalb sich diese dogmatischen<br />

Entwürfe so weit inhaltlich unterscheiden, dass sie geradezu konfessionsspezifisch<br />

werden, obwohl ihnen gemeinsam ist, dass sie im Kontext der<br />

aristotelisch, ciceronianisch-boethianischen Topik entwickelt sind. Dieses Problem<br />

wirftalso die Frage nach einem genaueren Verständnis dessen auf, was die<br />

Topik als dogmatische Methode ist <strong>und</strong> was sie leisten kann.<br />

Vordem Hintergr<strong>und</strong> einer breiten Diskussion über die eigentümlichen Loci<br />

der Theologie im Mittelalter – <strong>und</strong>das ist die zweite Beobachtung – wurde bisher<br />

jedoch zu wenig beachtet, dass die»Loci-theologici«-Traktate <strong>und</strong> damit die Topik<br />

als dogmatische Methode keine Erfindungen Melanchthons oder auch Canos<br />

sind. Charles H. Lohr hatte deshalb in einem bisher leider zuwenig beachteten<br />

Beitrag die Vorstellung nahegelegt, dass die frühneuzeitlichen »Loci-theologici«-<br />

Traktate nicht am Anfang, sondern vielmehr am Ende einer breiten Diskussion<br />

standen. 17 Vordem Hintergr<strong>und</strong> dieser beiden Beobachtungen – die konfessionsspezifischen<br />

Dogmatiken der Frühen Neuzeit im Kontext der Topik <strong>und</strong> die<br />

Vorgeschichte der Topik als dogmatischer Methode – soll in einem ersten Abschnitt<br />

kurz die methodologische Fragediskutiert werden,was Topik ist <strong>und</strong> was<br />

sie als wissenschaftliche Methode für die Dogmatik zuleisten vermag. In einem<br />

zweiten Abschnitt wird die mittelalterliche Tradition der Loci-Theologie vorgestellt.<br />

In einem dritten Teil werden schließlich die systematischen Konturen der<br />

konfessionsübergreifenden topischen Dogmatiken der Frühen Neuzeit entfaltet,<br />

wie sie aus der Topik als wissenschaftlicher Methode der Theologie resultieren.<br />

16<br />

17<br />

Rhein finden sich dann auch die Versionen von Wesel oder – in Humanistentradition<br />

latinisiert – Vesaliensis; vgl. Barbara Henze, Art. Haldrein (Halderen, Haldrenius)<br />

v. Wesel, in: LThK 3 4(1995), 1154 f.<br />

LOCORVM COMMVNIVM RELIGIONIS CHRISTIANE Partitiones. Primum adoctissimo<br />

viro Arnold aVVesaliensi, Deinde ab aliis quibusdam studiosis, paucissimis quibusdam<br />

immutatis, collectae, Lovanii 1564.<br />

Carles H. Lohr, Modelle für die Überlieferung theologischer Doktrin. VonThomas von<br />

Aquin bis Melchior Cano, in: Werner Löser/KarlLehmann/Matthias Lutz-Bachmann<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Dogmengeschichte <strong>und</strong> katholische Theologie, Würzburg 1985, 148–167, hier:<br />

148 f.


Loci theologici 139<br />

1Topik als dogmatische Methode<br />

Wasalso ist die Topik<strong>und</strong> was leisten die in ihr behandelten»topoi« (loci)?Ihren<br />

Ursprung besitzt diese Fragestellung in der Topik des Aristoteles. Dennoch:<br />

obwohl die »topoi« in der aristotelischen Topik <strong>und</strong> Rhetorik vielfach Verwendung<br />

fanden, 18 hat Aristoteles nirgends definiert, was ein »topos« (locus) nun genau<br />

ist. 19 Cicero meinte ihn so zu verstehen, als habe er »topoi« als »sedes« verstanden,<br />

aus denen Argumente gewonnen würden (sedes argumentorum). 20 In<br />

diesem Sinn ist ein »topos« also ein Ort, an dem man Argumente finden kann.<br />

Und in diesem Sinn hatte Cicero bekanntlich seine Topik als eine Kunst der<br />

Findung (von Argumenten) bezeichnet (inventio). Hier steht also nicht ein syllogistisches<br />

Beweisverfahren im Vordergr<strong>und</strong>, sondern die Topik will einem<br />

Redner für eine jede beliebige Rede, vornehmlich die Gerichtsrede, die treffenden<br />

Argumente bereitstellen. Neben dieser ciceronischen Deutung der Topik stellte<br />

Boethius, in dessen Bearbeitung die ciceronischen Topiken dem Mittelalter <strong>und</strong><br />

der Frühen Neuzeit überliefert wurden, eine andere Deutung vor. Nach ihm sind<br />

»topoi« Urteile von höchster Allgemeinheit, »maximae propositiones« (Maximen).<br />

21 Handelt es sich bei den Loci als »sedes argumentorum« also um Stichworte,<br />

Begriffe, Prämissen o. Ä., so sind die Loci in der boethianischen Tradition<br />

allgemeine Urteile oder Sätze, die bereits eine logische Form topischer Argumentation<br />

implizieren, aus der dann spezielle Schlüsse gezogen werden können.<br />

22<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

Oliver Primavesi, Art. Topik, in: HWP 10 (1988), 1263–1269.<br />

Aristoteles, Ars rhetorica A2,1358a10–17; vgl. hierzu Gerhard Otte, Theologische<br />

<strong>und</strong> juristische Topik im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, in: Jan Schröder (<strong>Hrsg</strong>.), Entwicklung der<br />

Methodenlehre in Rechtswissenschaft<strong>und</strong> Philosophie vom 16. bis zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

(Contubernium 46), Stuttgart 1998, 17–26, hier 25; Hellmut Flashar, Aristoteles, in:<br />

Ders. (<strong>Hrsg</strong>.), Die Philosophie der Antike, Bd. 3, Ältere Akademie. Aristoteles – Peripatos<br />

(Gr<strong>und</strong>riss der Geschichte der Philosophie 3), Basel/Stuttgart 1983, 326–329; hier 327.<br />

Cicero,Topica II, 7: »[…]sic enim appellatae ab Aristotele sunt eae quasi sedes, equibus<br />

argumenta promuntur.«<br />

Boethius, In Topica Ciceronis I,1051 CD: »[…]Supremas igitur ac maximas propositiones<br />

vocamus, quae et universales sunt, et ita notae atque manifestae, ut probatione non<br />

egeant, eaque potius quae in dubitatione sunt probent«; vgl. auch ders., De differentiis<br />

topicis II,1186 A.<br />

A.a. O.: »Maximas igitur, id est universales ac notissimas propositiones, ex quibus syllogismorum<br />

conclusio descendit, in Topicis ab Aristotele conscriptis locos appellatos esse<br />

conspeximus; quod enim maximae sunt id est universales propositiones, reliquas in se<br />

velut loci corpora complectuntur; quod vero notissimae atque manifestae sunt, fidem<br />

quaestionibus praestant, eoque modo amabiguarum rerum continent probationes«; vgl.<br />

hierzu auch die Hinweise bei Jan Pinborg, Logik <strong>und</strong> Semantik im Mittelalter. Ein<br />

Überblick (Problemata 10), Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, 22. Zur Interpretation der


140 Günter Frank<br />

Im Blick auf die aristotelische Perspektive der Topik ist wichtig zu bedenken,<br />

was genau Aristoteles als den Ausgangspunkt eines topischen Verfahrens<br />

bezeichnete, <strong>und</strong> zwar das νδοξον, d.h.eine wissenschaftlich nicht eigentlich<br />

begründbare Überzeugung. Aristoteles hatte in dem einleitenden Kapitel seines<br />

ersten Buches der Topik die Unterscheidung getroffen zwischen dem apodeiktischen<br />

Syllogismus der Wissenschaft, dem dialektischen der Topik <strong>und</strong> dem<br />

bloßen Wahrscheinlichkeitsschluss (eristischer Syllogismus). Hier unterschied<br />

er:<br />

»Ein Schluss ist also eine Rede, in der bei bestimmten Annahmen etwas anderes als<br />

das Vorausgesetzte auf Gr<strong>und</strong> des Vorausgesetzten mit Notwendigkeit folgt. Es ist nun<br />

eine Demonstration (Apodeixis), wenn der Schluss aus wahren <strong>und</strong> ersten Sätzen<br />

gewonnen wird oder aus solchen, deren Erkenntnis aus wahren <strong>und</strong> ersten Sätzen<br />

entspringt. Dagegen ist ein dialektischer Schluss als solcher, der aus wahrscheinlichen<br />

Sätzen gezogen wird […]« –<br />

um dann den Gr<strong>und</strong> ihrer Evidenz zu präzisieren:<br />

»Wahre <strong>und</strong> erste Sätze sind solche, die nicht erst durch anderes, sondern durch sich<br />

selbst glaubhaft sind. Denn bei den obersten Gr<strong>und</strong>sätzen der Wissenschaften darf<br />

man nicht erst nach dem Warum fragen, sondern jeder dieser Sätze muss durch sich<br />

selbst glaubhaftsein. Wahrscheinliche Sätze aber sind diejenigen, die allen oder den<br />

Meisten oder den Weisen wahr scheinen, <strong>und</strong> auch von den Weisen wieder entweder<br />

Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten <strong>und</strong> Angesehensten.« 23<br />

Gegenüber dem Eindruck, bei einem dialektischen Syllogismus der Topik könnte<br />

es sich um einen defizienten Modus eines wissenschaftlichen Beweisverfahrens<br />

handeln, sofern dessen zentraler Begriff das Wahrscheinliche ist (νδοξον), ist<br />

darauf hinzuweisen, dass es sich nach Aristoteles bei dem dialektischen Syllogismus<br />

um eine universale Methode handelt, die sogar – wie er im zweiten<br />

Kapitel der Topik ergänzt – von Bedeutung ist für das eigentliche apodeiktische<br />

Verfahrender Wissenschaft, weil deren »Prinzipiendas erste von allem sind« <strong>und</strong><br />

man<br />

23<br />

»loci« bei Theophrast, Alexander von Aphrodisias, Themistios <strong>und</strong> unter byzantinischen<br />

Gelehrten vgl. a. a. O., 21–24.<br />

Aristoteles, Topik I,1,100a–b18.


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Cover: Zacharias Bähring, Leipzig<br />

Coverbild: Stadtansicht Wittenbergs 16./17. Jahrh<strong>und</strong>ert, Stiftung Luthergedenkstätten<br />

in Sachsen-Anhalt<br />

Satz: 3w+p, Rimpar<br />

Druck <strong>und</strong> Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07255-2 // eISBN (PDF) 978-3-374-07256-9<br />

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