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RA 12/2023 - Entscheidung des Monats

Das OLG Frankfurt a.M. prüft die Strafbarkeit eines Strafgefangenen, der sich gewaltsam gegen eine formell rechtswidrige Maßnahme der JVA gewehrt hat.

Das OLG Frankfurt a.M. prüft die Strafbarkeit eines Strafgefangenen, der sich gewaltsam gegen eine formell rechtswidrige Maßnahme der JVA gewehrt hat.

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geprüftwird<br />

Für Studierende & Referendare<br />

• JU<strong>RA</strong><br />

j1 INTENSIV<br />

<strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

Rechtsprechungs-Auswertung<br />

ENTSCHEIDUNG DES MONATS<br />

1 ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />

Rechtswidrige Diensthandlung bei §§ 32, 113 StGB


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Stand: November <strong>2023</strong>


662 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

ST<strong>RA</strong>FRECHT<br />

LEITSÄTZE<br />

1. Wenn ein Gefangener einen<br />

tätlichen Angriff auf Vollstreckungsbeamte<br />

begeht, die auf<br />

Anordnung eines unzuständigen<br />

Beamten gehandelt haben, kann<br />

die Strafbarkeit nach<br />

§§ 113, 114 StGB entfallen, aber<br />

gleichwohl eine Strafbarkeit nach<br />

§ 223 StGB gegeben sein.<br />

2. Wenn ein Strafgefangener entgegen<br />

§§ 50 Abs. 2 Nr. 5, 51<br />

Abs. 1 HStVollzG in einen<br />

besonders gesicherten Haftraum<br />

verbracht wird, ohne dass dies<br />

vom Anstaltsleiter oder seinem<br />

Vertreter angeordnet<br />

wurde oder Gefahr im Verzug<br />

vorliegt, fehlt es an der Rechtmäßigkeit<br />

der Diensthandlung<br />

im Sinne von § 113 Abs. 3 Satz 1<br />

StGB.<br />

3. Wenn sich ein Strafgefangener<br />

gegen eine solche formell rechtswidrige<br />

Diensthandlung wehrt,<br />

kann zwar ein gegen ihn gerichteter<br />

rechtswidriger Angriff im<br />

Sinne von § 32 StGB vorliegen,<br />

Notwehr aber nicht „geboten“ sein.<br />

Einschränkungen, die teilweise<br />

im Rahmen <strong>des</strong> „strafrechtlichen<br />

Rechtmäßigkeitsbegriffs“ <strong>des</strong> § 113<br />

Abs. 3 StGB erörtert werden, sind<br />

statt<strong>des</strong>sen im Rahmen der Einschränkungen<br />

<strong>des</strong> Notwehrrechts<br />

zu verorten. Bei der Prüfung, ob<br />

körperliche Gewalt gegen einen<br />

formell rechtswidrig handelnden<br />

Vollstreckungsbeamten „geboten“<br />

ist (§ 32 Abs. 1 StGB), können das<br />

staatliche Gewaltmonopol und<br />

die Möglichkeit, die Rechtmäßigkeit<br />

<strong>des</strong> Vollstreckungshandelns<br />

nachträglich im Wege der Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

überprüfen<br />

zu lassen, zu berücksichtigen sein.<br />

Hessisches Strafvollzuggesetz<br />

§ 50 […] (2) Als besondere Sicherungsmaßnahmen<br />

sind zulässig:<br />

[…] 5. die Unterbringung in einem<br />

besonders gesicherten Haftraum ohne<br />

gefährdende Gegenstände […]<br />

§ 51 […] (1) Besondere Sicherungsmaßnahmen<br />

ordnet die Anstaltsleitung<br />

an. […]<br />

Problem: Rechtswidrige Diensthandlung bei §§ 32, 113 StGB<br />

Einordnung: Strafrecht AT I / Rechtswidrigkeit<br />

OLG Frankfurt a.M., Urteil vom 21.08.<strong>2023</strong><br />

3 ORs 13/23<br />

EINLEITUNG<br />

Das OLG Frankfurt a.M. prüft die Strafbarkeit eines Strafgefangenen, der sich<br />

gewaltsam gegen eine formell rechtswidrige Maßnahme der JVA gewehrt<br />

hat. Es führt aus, dass die Rechtswidrigkeit der Diensthandlung beim Widerstand<br />

gegen Vollstreckungsbeamte gem. § 113 III StGB zum Ausschluss der<br />

Strafbarkeit führt, aber eine Körperverletzung nicht unbedingt aus Notwehr,<br />

§ 32 StGB, gerechtfertigt ist.<br />

SACHVERHALT<br />

Der Strafgefangene S hatte sich lautstark am Fenster seines Haftraums in der<br />

JVA unterhalten, es sei zu einem Bruch der Fensterscheibe gekommen, diese<br />

sei auf den Boden gefallen und zersplittert, so dass Scherben auf dem Boden<br />

<strong>des</strong> Haftraums verteilt seien.<br />

Die Zeugen A, B, C und D begaben sich daraufhin zum Haftraum <strong>des</strong> S und<br />

schlossen diesen auf. A ging etwa einen Schritt in den Haftraum hinein und<br />

sprach S auf die kaputte Fensterscheibe an, fragte, was los wäre, und erklärte<br />

ihm sinngemäß, dass er in einen anderen Haftraum müsse. Damit war S, was<br />

er auch lautstark und verbal aggressiv zum Ausdruck brachte, nicht einverstanden,<br />

vermutlich u.a. <strong>des</strong>halb, da in einem anderen freien Haftraum kein<br />

Fernsehempfang bestehen würde.<br />

Aufgrund der im Haftraum befindlichen Scherben war für A und seine<br />

Kollegen klar, dass S den Haftraum verlassen musste. A schätzte aufgrund<br />

<strong>des</strong> Verhaltens <strong>des</strong> S die Lage so ein, dass auch eine Verlegung <strong>des</strong> S in einen<br />

anderen Haftraum zu gefährlich sei und entschied in seiner Eigenschaft als<br />

dienstranghöchster Beamter vor Ort, dass der Angeklagte in einen besonders<br />

gesicherten Haftraum verbracht werden solle. Er veranlasste, den ärztlichen<br />

Dienst hinzuziehen und den stellvertretenden Anstaltsleiter, der Bereitschaftsdienst<br />

hatte, zu informieren.<br />

Die Beamten rüsteten sich mit Schutzbekleidung einschließlich Schutzhelmen<br />

und –handschuhen aus und gingen als sogenannte Raupe, also hintereinandergehend<br />

und durch Körperkontakt von Mann zu Mann durch Handauflegen<br />

verbunden, in den Haftraum <strong>des</strong> S, um die Maßnahme durchzuführen. S befand<br />

sich am Ende <strong>des</strong> Haftraums unter dem Fenster. Die Beamten bewegten sich in<br />

der erwähnten Formation auf ihn zu, wobei sich an erster Stelle der Zeuge E, der<br />

für C eingesprungen war, mit einem vor sich getragenen Schutzschild befand.<br />

E sprach S kurz an mit „auf den Boden“. S, dem klargeworden war, dass er von<br />

diesem „Einsatzkommando“ in den „Bunker“, also den besonders gesicherten<br />

Haftraum, verlegt werden sollte, gelang es, an dem Schild <strong>des</strong> vor ihm befindlichen<br />

E vorbei zu kommen. Im weiteren Verlauf <strong>des</strong> sich nun entwickelnden<br />

massiven und lautstarken Gerangels schlug S dem D von oben mit der Faust<br />

auf den Helm. Nach mehreren Minuten, gelang es, S in Bauchlage auf den<br />

Boden zu fixieren und an den Händen hinter dem Rücken und an den Füßen<br />

Fesseln anzulegen.<br />

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<strong>RA</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

Strafrecht<br />

663<br />

D erlitt bei dem Geschehen eine Distorsion an der linken Schulter, eine Prellung<br />

mit Hämatom am linken Ellenbogen sowie eine Thoraxprellung.<br />

Hat S sich wegen Delikten zum Nachteil <strong>des</strong> D strafbar gemacht?<br />

[Anm.: §§ 224, 240 StGB sind nicht zu prüfen.]<br />

PRÜFUNGSSCHEMA: WIDERSTAND GEGEN VOLLSTRECKUNGS-<br />

BEAMTE, § 113 StGB<br />

A. Tatbestand<br />

I. Taugliches Opfer<br />

II. Bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung<br />

III. Widerstandleisten mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt<br />

IV. Vorsatz bzgl. I. bis III.<br />

V. Rechtmäßigkeit der Diensthandlung, § 113 III StGB<br />

B. Rechtswidrigkeit und Schuld<br />

LÖSUNG<br />

A. Strafbarkeit gem. § 113 I StGB z.N.d. D<br />

S könnte sich durch den Angriff wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte<br />

gem. § 113 I StGB zum Nachteil <strong>des</strong> D strafbar gemacht haben.<br />

I. Tatbestand<br />

1. Taugliches Opfer<br />

D müsste Amtsträger oder Soldat der Bun<strong>des</strong>wehr und zur Vollstreckung<br />

von Gesetzes, Rechtsverordnungen, Urteilen, Beschlüssen oder Verfügungen<br />

berufen sein.<br />

Als Beamter ist D Amtsträger gem. § 11 I Nr. 2a) StGB. Als Beamter in einer<br />

JVA ist er auch zur Vollstreckung insb. von Urteilen berufen, die Haftstrafen<br />

anordnen. Somit handelt es sich bei D um ein taugliches Opfer <strong>des</strong> § 113 I<br />

StGB.<br />

2. Bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung<br />

D müsste dich im Tatzeitpunkt bei der Vornahme einer „solchen“ Diensthandlung,<br />

d.h. einer konkreten Vollstreckungshandlung, befunden haben.<br />

Als S den D angriff war dieser gerade dabei, die Anordnung <strong>des</strong> A zur Verlegung<br />

<strong>des</strong> S in den besonders gesicherten Haftraum zu vollstrecken, befand<br />

sich also bei der Vornahme einer konkreten Vollstreckungshandlung.<br />

3. Wiederstandleisten durch Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt<br />

Durch die Schläge auf den Helm <strong>des</strong> D hat S durch Gewalt Widerstand<br />

geleistet.<br />

4. Vorsatz bzgl. 1. bis 3.<br />

S hatte Vorsatz bzgl. der objektiven Tatumstände.<br />

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664 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

Allgemein anerkannt ist, dass für die<br />

Rechtmäßigkeit der Diensthandlung<br />

i.S.v. § 113 III StGB andere Maßstäbe<br />

gelten als z.B. im Öffentlichen oder<br />

Zivilprozessrecht (vgl. Schneider,<br />

JU<strong>RA</strong> INTENSIV, Strafrecht BT III,<br />

Rn 2028 ff.)<br />

BGH, Urteil vom 31.03.1953, 1 StR<br />

670/52, NJW 1953, 1032; KG, Urteil<br />

vom 11.05.2005, (5) 1 Ss 61/05<br />

(<strong>12</strong>/05), NStZ 2006, 414<br />

BGH, Urteil vom 16.07.1980, 2 StR<br />

<strong>12</strong>7/80, NStZ 1981, 22; Fischer, StGB,<br />

§ 113 Rn 20; Schönke/Schröder,<br />

StGB, § 113 Rn 37<br />

5. Rechtmäßigkeit der Diensthandlung, § 113 III StGB<br />

Weiterhin müsste die Rechtmäßigkeit der Diensthandlung, gegen die<br />

Widerstand geleistet wurde, gegeben sein, § 113 III StGB.<br />

„[19] Zwar sind die Grenzen <strong>des</strong> ‚strafrechtlichen Rechtmäßigkeitsbegriffs‘<br />

i. S. v. § 113 Abs. 3 StGB umstritten.<br />

[20] Es besteht aber zu Recht weitgehende Einigkeit darüber, dass die<br />

Zuständigkeit <strong>des</strong> Vollstreckenden sachlich gegeben sein muss und<br />

die wesentlichen Förmlichkeiten einzuhalten sind, ‚formelle Rechtmäßigkeit‘.<br />

Vielfach wird für § 113 Abs. 3 StGB ausschließlich auf diese ‚formelle<br />

Rechtmäßigkeit‘ abgestellt. Es ist <strong>des</strong>halb weitgehend anerkannt,<br />

dass es jedenfalls dann an der Rechtmäßigkeit einer Vollstreckungshandlung<br />

fehlt, wenn die <strong>Entscheidung</strong> für die Vollstreckung von<br />

einem unzuständigen Beamten getroffen wird. Dem ist beizupflichten.<br />

Denn es besteht kein schutzwürdiges Interesse <strong>des</strong> Staates daran, staatliche<br />

Vollstreckungshandlungen strafrechtlich zu schützen, wenn diese bereits<br />

formell rechtswidrig sind. In der Auslegung <strong>des</strong> § 113 geht es letztlich<br />

nicht um die Strafbarkeit <strong>des</strong> vollstreckenden Beamten, sondern die<br />

<strong>des</strong> Bürgers. Es geht – anders gesagt – um die Frage, unter welchen<br />

Umständen Widerstand als strafbedürftig erscheint. Das kann allenfalls<br />

dann begründet werden, wenn die staatliche Vollstreckungstätigkeit<br />

als schutzbedürftig erscheint. Das ist sie jedoch nur dann, wenn<br />

der Bürger im Einzelfall zur Duldung der Vollstreckung verpflichtet ist.<br />

[21] Dem lässt sich nach Auffassung <strong>des</strong> Senats auch nicht entgegenhalten,<br />

dass es zum Schutz der Vollstreckungsbeamten geboten sei, eine ‚strafrechtliche‘<br />

Rechtmäßigkeit auch dann anzunehmen, wenn nicht einmal<br />

die formelle Rechtmäßigkeit gewahrt ist, etwaige Rechtsfehler aber nur<br />

begrenztes Gewicht hätten. Zwar gibt es in der praktischen Anwendung<br />

der Regelung <strong>des</strong> § 113 Abs. 3 StGB Rechtsprechungsansätze, die in diese<br />

Richtung verstanden werden können. Danach soll ein Vollstreckungsakt<br />

strafrechtlich auch dann rechtmäßig sein, wenn seine Rechtswidrigkeit<br />

‚nicht allzu schwer‘ wiegt.<br />

[22] Für eine solche Auslegung besteht aber nach Meinung <strong>des</strong> Senats<br />

<strong>des</strong>halb keine Veranlassung, weil den legitimen Interessen der Vollzugsbeamten<br />

durch angemessene Einschränkungen <strong>des</strong> Notwehrrechts (hier<br />

<strong>des</strong> Strafgefangenen) ausreichend Rechnung getragen werden kann. Eine<br />

übermäßige Ausdehnung <strong>des</strong> Rechtmäßigkeitsbegriffs <strong>des</strong> § 113 StGB<br />

wird offenbar von denen verfochten, die […] meinen, dass derjenige, der<br />

nicht nach § 113 f. StGB bestraft werden könne, sich auch nicht nach § 223<br />

StGB strafbar machen könne, sondern regelmäßig in Notwehr handele.<br />

Dem ist entgegenzutreten. Zwar werden unter den sogenannten sozialethischen<br />

Einschränkungen <strong>des</strong> Notwehrrechts bislang vorwiegend andere<br />

Fallgruppen diskutiert. Auch in der [Rechtsprechung und] Literatur ist<br />

aber anerkannt, dass die Einschränkungen <strong>des</strong> Rechts, sich durch Notwehr<br />

gegen eine staatliche Vollstreckungsmaßnahme zu verteidigen, weitergehen<br />

können als die Einschränkungen <strong>des</strong> Rechtswidrigkeitsbegriffs in<br />

§ 113 Abs. 3 StGB. […] Für diese Differenzierung spricht auch der Wortlaut<br />

<strong>des</strong> § 113 Abs. 3 StGB: Die Tat ist ‚nicht nach dieser Vorschrift‘ strafbar,<br />

wenn die Diensthandlung nicht rechtmäßig ist.“<br />

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<strong>RA</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

Strafrecht<br />

665<br />

„[14] Der Senat folgt dem Landgericht […] in der Bewertung, dass auf der<br />

Basis der getroffenen Feststellungen <strong>des</strong>halb ein Verfahrensfehler vorlag,<br />

weil die nach den Feststellungen bereits vor dem erneuten Betreten<br />

<strong>des</strong> Haftraums beschlossene Verbringung <strong>des</strong> Angeklagten in den bgH<br />

[(besonders gesicherten Haftraum)] vom Anstaltsleiter oder <strong>des</strong>sen Vertreter<br />

hätte angeordnet werden müssen, § 50 Abs. 2 Nr. 5, § 51 Abs. 1 Satz<br />

1 HStVollzG.“<br />

Die Diensthandlung war somit formell rechtswidrig.<br />

II. Ergebnis<br />

S ist nicht strafbar gem. § 113 I StGB.<br />

B. Strafbarkeit gem. § 114 I StGB z.N.d. D<br />

Auch eine Strafbarkeit <strong>des</strong> S wegen tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte<br />

gem. § 114 I StGB scheitert an der formellen Rechtswidrigkeit der<br />

Diensthandlung, §§ 114 III, 113 III StGB.<br />

C. Strafbarkeit gem. § 223 I StGB z.N.d. D<br />

S könnte sich aber durch die Schläge auf den Helm <strong>des</strong> D wegen Körperverletzung<br />

gem. § 223 I StGB strafbar gemacht haben.<br />

I. Tatbestand<br />

Die Schläge auf den Helm <strong>des</strong> D stellen eine üble, unangemessene Behandlung<br />

<strong>des</strong> D dar, die <strong>des</strong>sen körperliches Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt hat,<br />

sodass eine körperliche Misshandlung vorliegt. S hat die im Sachverhalt<br />

beschriebenen Verletzungen, also pathologische Zustände herbeigeführt,<br />

sodass auch eine Gesundheitsschädigung gegeben ist. S hat auch Vorsatz<br />

bzgl. der objektiven Tatumstände und hat so den Tatbestand <strong>des</strong> § 223 I StGB<br />

erfüllt.<br />

II. Rechtswidrigkeit<br />

S könnte allerdings aus Notwehr, § 32 StGB, gerechtfertigt sein,<br />

1. Notwehrlage<br />

S müsste sich zunächst in einer Notwehrlage befunden haben, d.h. er müsste<br />

einem gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff ausgesetzt gewesen sein.<br />

„[26] […] Auch das ‚besondere Gewaltverhältnis‘, in dem sich ein Strafgefangener<br />

aufgrund seiner Inhaftierung befindet, stellt ihn nicht rechtlos.<br />

Sein Recht, nicht ohne ausreichende Ermächtigungsanordnung und nur<br />

aufgrund einer rechtsstaatlich getroffenen <strong>Entscheidung</strong> gegen seinen<br />

Willen gefesselt und aus seinem Haftraum in einen bgH verbracht zu<br />

werden, genießt verfassungsrechtlichen Schutz. Der rechtswidrige Angriff,<br />

der dem Strafgefangenen hier drohte, war auch gegenwärtig.“<br />

Angriff ist jede von einem menschlichen<br />

Verhalten ausgehende<br />

Bedrohung oder Beeinträchtigung<br />

rechtlich geschützter Güter oder<br />

Interessen.<br />

Rechtswidrig ist ein Angriff, der<br />

nicht seinerseits durch einen Rechtfertigungsgrund<br />

gedeckt ist und<br />

den der Betroffene auch nicht aus<br />

anderen Gründen zu dulden braucht.<br />

Gegenwärtig ist ein Angriff, der<br />

unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet<br />

oder noch andauert.<br />

S befand sich also in einer Notwehrlage.<br />

2. Notwehrhandlung<br />

Die Notwehrhandlung <strong>des</strong> S müsste aber auch bestimmen Anforderungen<br />

genügen, um gerechtfertigt zu sein. Insbesondere muss sie geboten sein,<br />

§ 32 I StGB.<br />

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666 Strafrecht <strong>RA</strong> <strong>12</strong>/<strong>2023</strong><br />

§ 113 IV 2 StGB regelt allerdings nicht<br />

<strong>des</strong> vorliegenden Fall der rechtswidrigen<br />

Diensthandlung, sondern die<br />

Vermeidbarkeit <strong>des</strong> Irrtums, wenn<br />

der Täter bei einer gem. § 113 III StGB<br />

rechtmäßigen Diensthandlung irrig<br />

von deren Rechtswidrigkeit ausgeht.<br />

Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung<br />

ist allerdings bei § 32 StGB eigentlich<br />

gerade nicht erforderlich. Lediglich<br />

in Fällen eines unerträglichen Missverhältnisses<br />

von geschütztem und<br />

beeinträchtigtem Rechtsgut hat<br />

der BGH die Notwehr abgelehnt<br />

(BGH, Beschluss vom 01.11.2011,<br />

3 StR 450/10, NStZ 2011, 630). Einen<br />

solchen Fall hat der BGH bislang<br />

aber nur angenommen, wenn der<br />

Täter zum Schutze <strong>des</strong> Eigentums<br />

an geringwertigen Sachen tödliche<br />

oder konkret lebensgefährdende<br />

Handlungen vorgenommen hat<br />

(vgl. Schweinberger, JU<strong>RA</strong> INTENSIV,<br />

Strafrecht AT I, Rn 420 ff.). Dies ist im<br />

vorliegenden Sachverhalt jedoch<br />

nicht der Fall.<br />

Das OLG Frankfurt a.M. entwickelt in<br />

der vorliegenden <strong>Entscheidung</strong> einen<br />

neue Fallgruppe sozialethischer Notwehreinschränkung,<br />

in der die<br />

Gebotenheit der Notwehrhandlung<br />

problematisch ist: die Notwehr gegen<br />

formell rechtswidriges staatliches<br />

Handeln. Hier muss der Täter sich<br />

ggf. auf eine gerichtliche Überprüfung<br />

der Rechtmäßigkeit der<br />

Diensthandlung beschränken und<br />

darf sich dieser nicht mit Gewalt<br />

erwehren. Ob diese Fallgruppe allgemeine<br />

Anerkennung findet und<br />

wie deren Voraussetzungen und<br />

Rechtsfolgen im Detail aussehen<br />

werden, bleibt noch abzuwarten.<br />

„[27] Jedenfalls liegt aber ein Fall vor, in dem die hier unternommene<br />

Trutzwehr aufgrund unabweisbarer Einschränkungen <strong>des</strong> Notwehrrechts<br />

nicht ‚geboten‘ war. Grundsätzlich ist von einem Strafgefangenen<br />

nämlich zu verlangen, zur Geltendmachung von Rechtsfehlern der Vollzugsbeamten<br />

den Rechtsweg zu beschreiten (vgl. zu diesem Kriterium<br />

§ 113 Abs. 4 Satz 2 StGB). Insoweit hätte dem Strafgefangenen ein Eilantrag<br />

nach § 114 Abs. 2 StVollzG offen gestanden. Allein die Antragstellung<br />

hätte zwar keine aufschiebende Wirkung gehabt, so dass Rechtsbehelfe<br />

die faktische Durchsetzung der Anordnung nicht rechtzeitig verhindern<br />

konnten. Der Strafgefangenen hätte aber angesichts der Schwere <strong>des</strong> Eingriffs<br />

immerhin die Möglichkeit gehabt, nachträglich Fortsetzungsfeststellungsklage<br />

zu erheben und so die Rechtmäßigkeit <strong>des</strong> Handelns der Vollzugsbeamten<br />

zumin<strong>des</strong>t einer nachträglichen Kontrolle zu unterwerfen.<br />

Der angesichts der zu Recht bestehenden staatlichen Übermacht ohnehin<br />

kaum geeignete Versuch, seine Rechte mit körperlicher Gewalt durchzusetzen,<br />

war jedenfalls soweit der Angeklagte, wie vom Landgericht festgestellt,<br />

vorsätzlich die Verletzung von Beamten in Kauf genommen hat, grob<br />

unverhältnismäßig. Es bedarf der Berücksichtigung, dass die Gewalt<br />

hier von grundsätzlich zur staatlichen Gewaltausübung legitimierten<br />

Beamten ausgeübt wurde, die bei ihrer Dienstausübung <strong>des</strong> Schutzes<br />

bedürfen. Darauf, dass es extreme Fälle Missbrauchs staatlicher Macht<br />

geben könnte, in denen der Stempel der Rechtswidrigkeit <strong>des</strong> Handelns<br />

dermaßen offenkundig ist, dass Notwehr sogar Körperverletzungen rechtfertigen<br />

könnte, kommt es vorliegend nicht an. Es ist auch nicht Aufgabe<br />

<strong>des</strong> Senats, die bislang in der Rechtsprechung und Literatur wohl noch nicht<br />

ausreichend betrachtete Fallgruppe der auf das Tatbestandsmerkmal<br />

der Gebotenheit gestützten Notwehreinschränkungen bei Notwehr<br />

gegen rechtswidrige, aber nicht willkürliche staatliche Vollstreckungsmaßnahmen<br />

abschließend zu konturieren. Die bloße Verkennung der<br />

Anordnungskompetenz […] durch die Vollzugsbeamten rechtfertigt es<br />

jedenfalls vorliegend nicht, sich mit körperlichen Angriffen gegen die Vertreter<br />

<strong>des</strong> staatlichen Gewaltmonopols zu wehren. Diejenigen über die<br />

Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit hinausgehenden zusätzlichen Einschränkungen,<br />

die in der Rechtsprechung und Literatur teilweise als erweitertes<br />

Verständnis <strong>des</strong> Begriffs der ‚strafrechtlichen Rechtswidrigkeit‘ im<br />

Sinne von § 113 Abs. 3 StGB vertreten werden, haben ihre Berechtigung<br />

statt<strong>des</strong>sen als Einschränkungen <strong>des</strong> Notwehrrechts gegen staatliches<br />

Vollstreckungshandeln.“<br />

Die Handlungen <strong>des</strong> S waren nicht geboten und somit nicht gem. § 32 StGB<br />

gerechtfertigt.<br />

III. Schuld<br />

S müsste auch schuldhaft gehandelt haben.<br />

Anhaltspunkte dafür, dass S geglaubt haben sollte, sein Handeln sei gerechtfertigt,<br />

sind nicht ersichtlich. Selbst wenn dies der Fall gewesen sein sollte,<br />

würde ein solcher Irrtum nur einen vermeidbaren Erlaubnisirrtum darstellen,<br />

der gem. § 17 S. 2 StGB die Strafbarkeit nicht ausschließen würde. S hat somit<br />

schuldhaft gehandelt.<br />

IV. Ergebnis<br />

A ist strafbar gem. § 223 I StGB.<br />

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