Anna Lea Hucht H - Weltkunst
Anna Lea Hucht H - Weltkunst
Anna Lea Hucht H - Weltkunst
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KÜNSTLER<br />
KRITISCHES LEXIKON<br />
DER GEGENWARTSKUNST<br />
AUSGABE 83 | HEFT 17 | 3. QUARTAL 2008 B 26079<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
Michael Hübl
Cover <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong>, 2008; Foto: Meyer Riegger<br />
1 Cockpit, 2005<br />
Aquarell auf Papier<br />
40 x 30 cm<br />
Privatsammlung
2<br />
3 4 5<br />
2 Das Auge, 2007<br />
Aquarell auf Papier<br />
40 x 30 cm<br />
Privatsammlung Köln<br />
3 Mondtapete, 2005<br />
Aquarell auf Papier<br />
36 x 26 cm<br />
Privatsammlung<br />
4 Ohne Titel (Geist), 2006<br />
Aquarell auf Papier<br />
36 x 27 cm<br />
Privatsammlung Frankfurt<br />
5 Rücksprache zur Gewinnoptimierung, 2007<br />
Aquarell auf Papier<br />
48 x 36 cm<br />
Privatsammlung<br />
6 Ohne Titel, 2007<br />
Aquarell auf Papier<br />
42 x 30 cm<br />
Privatsammlung Österreich<br />
7 Installationsansicht Meyer Riegger,<br />
Karlsruhe, 2008<br />
8 Ohne Titel, 2007<br />
Aquarell auf Papier<br />
24 x 18 cm<br />
ING Belgium Collection
6 8<br />
7
13<br />
14<br />
13 Ohne Titel, 2007<br />
Aquarell auf Papier<br />
55 x 57 cm<br />
Privatsammlung München<br />
14 Ohne Titel, 2005<br />
Kohle auf Papier<br />
35 x 30 cm<br />
Privatsammlung Österreich<br />
15 Ohne Titel (Körbe), 2006<br />
Aquarell auf Papier<br />
28 x 38 cm<br />
Privatsammlung London<br />
16 Fallende Vase, 2005<br />
Kohle und Aquarell auf Papier<br />
134 x 154 cm<br />
Privatsammlung Österreich
H<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
15<br />
16
17 Hanswurst, 2006<br />
Aquarell auf Papier<br />
40 x 30 cm<br />
Privatsammlung London<br />
H<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong>
18 Ohne Titel (Vase 5), 2007<br />
Keramik<br />
27 x 23 x 23 cm<br />
Privatsammlung Köln
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
Ich konstruiere Räume, in denen Personen in<br />
Bezug zu Interieur und Gegenständen dargestellt<br />
werden, und die Möglichkeit entsteht, daß sich<br />
eine Geschichte entspinnt.«
Schau mir in die Augen , Kunstwerk<br />
Michael Hübl<br />
Alles ist da. Die komplette Einrichtung: Schränke,<br />
Stühle, Teppiche, Decken. Gardinen an den Fenstern,<br />
Nippes in den Regalen – Fläschchen, Flacons, kleine<br />
Figurinen und manchmal eine Uhr. Wenn <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong><br />
<strong>Hucht</strong> Interieurs zeichnet, dann stattet sie die Innenräume<br />
oft mit einer überbordenden Fülle an Gegenständen<br />
aus. Immer finden sich Menschen in der<br />
Wohnküche, in den Arbeitszimmern, Studentenbuden<br />
oder guten Stuben, die <strong>Hucht</strong> dargestellt hat. Und doch<br />
sehen diese Räume nicht eigentlich belebt aus. Es<br />
ist, als sei jede der Situationen abrupt fixiert worden.<br />
Schlagartig, aber ohne Dramatik. Wie wenn irgendwann<br />
die Zeit stehen geblieben wäre und seither eine<br />
lange Spanne an Tagen oder Jahren vergangen sei. Zu<br />
diesem Eindruck tragen die Tätigkeiten der Personen<br />
bei, die sich in den Räumen aufhalten. Man sieht sie<br />
Tagebuch schreibend (2003) oder beobachtet sie beim<br />
Warten auf Fledermäuse (2004, Abb. 9), wie die Titel<br />
dieser Arbeiten ankündigen. Eine junge Frau posiert<br />
– eine Pfeife zwischen den Lippen – breitbeinig keck im<br />
Raum (Mondtapete, 2005, Abb. 3), eine andere hält eine<br />
augenscheinlich schwere Vase in Händen (Die Sammlerin,<br />
2003), aber egal, was diese Menschen tun: Sie<br />
wirken gedankenverloren und dem Geschehen um sie<br />
herum gänzlich entrückt.<br />
Selbst wenn dann doch einmal fast so etwas wie ein<br />
Unglück passiert, bewahrt <strong>Hucht</strong> in ihren Blättern die<br />
Ruhe. Der Schreck steht der Protagonistin des Blattes<br />
Fallende Vase (2005, Abb. 16) ins Gesicht geschrieben:<br />
Offensichtlich haben ihre Hände jeden Halt verloren.<br />
Aber noch ist das gute Stück heil, beinahe scheint es gar,<br />
als könnte ein Aufprall verhindert und die bauchige Keramik<br />
vor dem Zerschmettern bewahrt werden. Möglich<br />
wäre immerhin, dass den Händen der dargestellten Frau<br />
unsichtbare paraphysische Energien entströmen, die den<br />
Fall der Vase bremsen, stoppen oder gar umkehren. Auch<br />
diese Lesart lässt die Zeichnung zu. Für beide Deutungen<br />
allerdings gilt: <strong>Hucht</strong> schildert einen Moment, in dem<br />
noch nichts entschieden ist. Die eingefrorene Dramatik<br />
der spannungsgeladenen Szene gibt keine Auskunft über<br />
deren weiteren Verlauf. Er bleibt – wie die Vase – in der<br />
Schwebe. Insofern kommt das Blatt einem Statement<br />
gleich, denn zu den grundlegenden ästhetischen Intentionen,<br />
denen die Künstlerin folgt, gehört es, dass die Situationen,<br />
die sie zeichnerisch inszeniert, in einem Zustand<br />
2<br />
des Ungefähren verharren. Der nun ist nichts anderes als<br />
eine Art Schwebe.<br />
Surrealer Schleier<br />
Oft liegt über den Zeichnungen von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> so<br />
etwas wie ein surrealer Schleier. Manchmal sind es einzelne<br />
Bildelemente, die Irritationen auslösen und den<br />
Verdacht nähren, übernatürliche Welten könnten in die<br />
kontemplative Behaglichkeit der Wohnräume eingebrochen<br />
sein. Eine Tapete, die das graue Geröll und die<br />
Kraterlandschaften des Mondes übergroß wiedergibt,<br />
wirkt da ebenso befremdlich wie Das Auge (2007, Abb.<br />
2), das ein junger Mann in seinem möblierten Zimmer<br />
wie ein oval gerahmtes Gemälde oder einen aufwändig<br />
mit Riesenwimpern gefassten Spiegel vor sich hin hält<br />
und eingängig betrachtet. Dieses Auge hat disproportionale<br />
Ausmaße. Leicht würde es das wulstig aufgepolsterte<br />
Sofa ausfüllen, das ein Teil der Raumausstattung<br />
ist und das aussieht, als sei es aus den 1950er-Jahren<br />
übrig geblieben. Die Iris ist so groß, dass sie einem Stück<br />
Nachthimmel ähnelt, auf dem zwischen bleichem Gewölk<br />
ein schwarzes Gestirn seine Bahn zieht. Solche verfremdenden<br />
Akzente tragen erheblich zu der verstörenden<br />
Stimmung in <strong>Hucht</strong>s Bildern bei.<br />
Das Auge nimmt im Werk der Künstlerin neuerdings eine<br />
herausragende Stellung ein. 2007 entstand eine Reihe<br />
von keramischen Arbeiten, bei denen die Künstlerin zwei<br />
in den Zeichnungen wiederholt thematisierte Motive miteinander<br />
kombiniert: Vase und Auge. Beide Motive weisen<br />
assoziative Parallelen auf. Sie verfügen beide über<br />
runde dunkle Öffnungen, die nicht ohne weiteres preisgeben,<br />
was sich hinter ihnen verbirgt. Zudem ist, wenn man<br />
so will, auch der Augapfel ein Gefäß. Auf der praktischen<br />
Ebene vollzog sich diese Kombination, indem <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong><br />
<strong>Hucht</strong> auf Vasen aus der ständigen Produktion der Karlsruher<br />
Majolika halbkugelige Formen applizierte, die mit<br />
allen Merkmalen eines Auges bemalt und mit Glasur<br />
überzogen wurden. Später hat sie keine fertigen Rohlinge<br />
mehr benutzt, sondern die Vasen selbst aufgebaut und<br />
geformt, um sie zu guter Letzt wieder mit keramischen<br />
Augen zu versehen.<br />
Mit der Konzentration auf dieses Sinnesorgan verweist<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> zunächst auf ein wesentliches Moment<br />
ihrer künstlerischen Konzeption. Sie befleißigt sich in<br />
ihren Zeichnungen einer subtil austarierten Akkuratesse,
die im Sinne einer ästhetischen Strategie funktioniert.<br />
Denn die Genauigkeit, mit der die Künstlerin arbeitet,<br />
zwingt den Betrachter sich analog zu dieser Genauigkeit<br />
zu verhalten. Er muss beim Betrachten mit der gleichen<br />
Sorgfalt vorgehen, wie sie die Künstlerin beim Zeichnen<br />
anwendet. <strong>Hucht</strong> nimmt seinen Sehsinn, seinen Blick,<br />
seine Augen in Anspruch.<br />
Stimmiges Ganzes<br />
Dabei ist es keineswegs so, dass sie sich an einen peniblen<br />
Hyperrealismus klammert. Ihre Zeichnungen sind<br />
gegenständlich-figürlich, und doch werden bei aller<br />
Exaktheit im Detail weite Flä-<br />
chen mit malerischer Weichheit<br />
behandelt. <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> legt<br />
eminenten Wert darauf, dass die<br />
diversen Bildkomponenten ein<br />
stimmiges Ganzes ergeben. Stimmig<br />
meint hier: Es sollen keine Signale gegeben werden,<br />
die eventuell – etwa durch stilistische Eigenheiten des<br />
Mobiliars – auf eine falsche, so nicht intendierte Fährte<br />
führen. Deshalb fertigt <strong>Hucht</strong> für bestimmte Partien ihrer<br />
Blätter mehrere Varianten auf Transparentpapier, die sie<br />
an der noch unfertigen Zeichnung probeweise fixiert, um<br />
die formal und semantisch passende Lösung auszuwählen.<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> fokussiert ihre Arbeit mindestens zweifach<br />
auf das Auge – einmal, indem sie es zum Bildgegenstand<br />
erhebt, zum anderen durch die hermeneutische<br />
Herausforderung, die sie mit ihren Zeichnungen und<br />
Vasen erzeugt. Damit wendet sie sich dem für die bildende<br />
Kunst wichtigsten Sensorium zu. Und sie widmet sich<br />
einem philosophisch, kulturhistorisch, nicht zuletzt soziologisch<br />
und politisch höchst bedeutungsvollen Gegenstand.<br />
Seine Funktionen reichen vom allwissenden Auge<br />
des monotheistischen Gottes der Juden und Christen,<br />
das bereits in der altägyptischen Mythologie präfiguriert<br />
wurde, bis hin zu den Überwachungskameras oder dem<br />
omnipräsenten Bilderüberfluss des elektronischen Zeitalters.<br />
Neben kulturgeschichtlichen Nachwirkungen und<br />
aktuellen visuellen Gegebenheiten sind es grundsätzliche<br />
epistemologische Fragen, die immer wieder mit dem<br />
Auge in Verbindung gebracht wurden. Die aus der Antike<br />
tradierte Gestalt des blinden Sehers Teiresias erinnert<br />
daran, dass die Funktion des Auges als Erkenntnisinstru-<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
ment nicht selten in Frage gestellt oder als relativ gering<br />
eingeschätzt wurde. Der Sohn eines Schafhirten sah zwar<br />
nichts mehr, nachdem ihn eine göttliche Macht – Griechen<br />
und Römer kannten mehrere Varianten – geblendet<br />
hatte. Aber er hatte, salopp gesagt, den großen Durchblick.<br />
Tereisias besaß die Gabe, selbst komplexe Schicksalsverwicklungen<br />
zu durchschauen und analytisch zu<br />
entflechten: König Ödipus, der unbewusste Vatermörder,<br />
wandte sich in seiner Not ebenso an ihn wie Odysseus,<br />
den der Fluch des Poseidon von Küste zu Küste, von<br />
Unheil zu Unheil trieb.<br />
Die Menschen wirken gedankenverloren und dem<br />
Geschehen um sie herum gänzlich entrückt.«<br />
Blinde Seher<br />
Der Kunstwissenschaftler Peter Bexte hat dieses Misstrauen<br />
gegenüber der Zuverlässigkeit des Auges an der<br />
longue durée antiker Überlieferung beleuchtet; so liefert<br />
Bexte in seiner Untersuchung über „Blinde Seher“ 1 unter<br />
anderem eine ausführliche Interpretation des Mythos<br />
vom hundertäugigen Argus, dessen panoptischer Rundumblick<br />
vollkommene Überwachung garantiert, und<br />
der dennoch nicht gegen die verführerischen Künste<br />
des Merkur gefeit ist. Durch den Gesang des Götterboten<br />
schläft Argus ein, seine hundert Augen fallen zu und<br />
nehmen nicht einmal mehr die tödliche Gefahr wahr, die<br />
von Merkur ausgeht: Er wird Argus den Kopf abschlagen<br />
2 . Bexte geht es nun weniger um die Rezeption solcher<br />
und ähnlicher Motive. Vielmehr spürt er der Kunst<br />
dort nach, wo sie die Blindheit thematisiert oder die<br />
Mangelhaftigkeit des Sehens ins Bild rückt. Sein besonderes<br />
Augenmerk gilt dem 17. Jahrhundert und von dort<br />
ausgehend der Malerei des Rokoko. Bextes Bezugsgröße<br />
bleibt jedoch die Moderne mit Marcel Duchamp,<br />
dem Skeptiker, an der Spitze, der den Positivismus des<br />
Sichtbaren ablehnt. Bildende Kunst, so Duchamps These,<br />
übertrifft grundsätzlich die bloße Datenmenge, die als<br />
Lichtimpuls die Netzhaut erreicht: „Seit Courbet meint<br />
man, die Malerei wende sich ausschließlich an das Auge<br />
– ein allgemeiner Irrtum. Der optische Schauder! Vorher<br />
hatte die Malerei ja auch eine andere Funktion, sie war<br />
3
eligiös, philosophisch oder moralisch ausgerichtet“ 3 .<br />
Duchamp plädierte für eine Kunst, die über den bloßen<br />
Schein hinausweist, und unterschied demnach zwischen<br />
einer Malerei, „die sich nur an die Retina [...] wendet, und<br />
einer solchen, die über die Netzhaut hinausgeht und sich<br />
der Farbtube als Sprungbrett bedient, um viel weiter zu<br />
gelangen“ 4 .<br />
Wenn <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> in ihren Arbeiten das Auge zum<br />
zentralen Bildmotiv macht, es sogar – wie bei den Vasen –<br />
im eigentlichen Wortsinn hervorhebt, dann ruft sie damit<br />
diesen kunst- und kulturhistorischen Kontext auf. Der<br />
Zweifel am Erkenntniswert visueller Information ist dort<br />
wiederkehrendes Argument, ohne dass sich dabei durch-<br />
gängig eindeutige Aussagen verknüpfen ließen. Das Beispiel<br />
des Romans „Mein Name sei Gantenbein“ von Max<br />
Frisch 5 offenbart die Vielschichtigkeit der Problematik.<br />
Eine der Figuren, an denen der Erzähler des assoziativ<br />
zusammengefügten fiktiven Geschehens seine Identität<br />
erprobt, ist der titelgebende Theo Gantenbein. Der setzt<br />
sich eine schwarze Brille auf und läuft durchs Leben, als<br />
sehe er nichts. Frisch transponiert hier die antike Vorstellung<br />
vom blinden Seher in die Gegenwart der sich<br />
formierenden Konsumgesellschaft. An einer Stelle spitzt<br />
er diese Übertragung zu, indem er eine Touristengruppe<br />
beschreibt, die in Athen die Akropolis besichtigt. Gantenbein<br />
ist ihr Reiseführer und „er sagt den Leuten nicht,<br />
was sie jetzt sehen links und rechts, sondern er fragt<br />
sie danach, und sie müssen es ihm mit Worten schildern,<br />
was sie selbst sehen, von seinen Worten genötigt“<br />
6 . Frisch betont ausdrücklich die eingeschränkte, verstellte<br />
Wahrnehmungsfähigkeit, also: die Blindheit der<br />
Sehenden, indem er feststellt: Gantenbein „läßt sie nicht<br />
merken, was sie alles nicht sehen“ 7 . Der Autor folgt hier<br />
dem aus der Antike tradierten Topos des hellsichtigen<br />
Blinden, vollzieht aber einen flagranten Dreh. Gantenbein<br />
ist nicht blind. Seine vermeintliche Sehbehinderung<br />
wäre jederzeit reversibel. Während seine Mitmenschen<br />
zwischen griechischen Ruinen mit Hilfe von Fotoapparaten<br />
ihre Sehfähigkeit technisch zu erweitern suchen,<br />
4<br />
Die Blicke sind in sich gekehrt. Oder sie sind vollständig<br />
auf eine Sache konzentriert. «<br />
reduziert sie Gantenbein, indem er seinen Augen dunkle<br />
Gläser vorblendet. Dieser Zustand ließe sich ohne weiteres<br />
umkehren. Oder auch nicht: Gantenbeins Umwelt<br />
ist dermaßen auf das Bild fixiert, das sie sich von ihrem<br />
Mitmenschen macht, dass sie nicht einmal merkt, wenn<br />
er aus der Rolle fällt. Die Identität, die ihm von außen<br />
zugesprochen, die von der Gesellschaft auf ihn projiziert<br />
wird, ist dermaßen stark, dass es fast kein Zurück mehr<br />
gibt. So kommt hier eine weitere Ebene ins Spiel, das<br />
sich nicht mehr auf zwei divergierende Stufen von Wahrnehmungsfähigkeit<br />
beschränkt. Der Souveränität des<br />
blinden Sehers, der gegenüber den anderen die schärfere,<br />
die eigentliche Wahrnehmung voraus hat, wird eine<br />
Grenze gezogen. Sie wird ein-<br />
geschränkt durch die Sehweise<br />
derer, die sehen, aber blind<br />
sind gegenüber der wahren<br />
Identität.<br />
Entrücktheit und Distanz<br />
Ein ähnlicher Grad an Komplexität lässt sich bei den<br />
Arbeiten von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> beobachten. Das betrifft<br />
zum einen die dargestellten Personen. Deren bereits<br />
angedeutete Entrücktheit kennzeichnet sie als Wesen,<br />
die zu ihrer unmittelbaren Realität eine gewisse Distanz<br />
einnehmen. Ihre Umgebung ist angefüllt, vollgestopft,<br />
zugepfercht, mal mit Souvenirs und Spirituosen, die in<br />
eine Schrankwand gepackt wurden, mal mit dem Alltagskram,<br />
der sich – von der Lautsprecherbox bis zum<br />
Frühstücksbrett, vom Fön bis zur Salatschüssel – über<br />
die Küche einer Wohngemeinschaft verteilt. In <strong>Hucht</strong>s<br />
Bildern liegt immer etwas herum, das den Blick ablenkt,<br />
und sei es (wie in der Zeichnung Das Auge, Abb. 2) ein<br />
bunt und üppig gemusterter Teppich. Die Menschen<br />
jedoch, die sich zwischen diesen Objekten aufhalten,<br />
scheinen von alledem unberührt. Sie sind anderweitig<br />
beschäftigt, selbst wenn sich noch eine Person im Raum<br />
aufhält: In WG (2006) sieht man zwei Frauen, aber zwischen<br />
ihnen geschieht nichts. Sie blicken sich nicht an,<br />
sie sprechen nicht miteinander.<br />
Dieses Blatt, dessen lakonisch knapper Titel eine moderne,<br />
mit allerlei Klischees belegte Lebensform anspricht,<br />
könnte eine Paraphrase auf Edouard Manets „Frühstück<br />
im Atelier“ 8 sein, da in beiden Fällen eine eklatante Kommunikationslosigkeit<br />
zu bemerken ist. Dem jungen Mann
in Manets Atelier, der lässig an einer Tischkante lehnt<br />
und teilnahmslos aus dem Bild herausschaut, entspräche<br />
bei <strong>Hucht</strong> eine rothaarige junge Frau: Auch sie befindet<br />
sich diesseits eines Tisches, auch sie richtet den Blick<br />
aus dem Bild heraus, auch sie kehrt ihrer Mitwelt den<br />
Rücken. Und doch herrscht hier ein anderer Modus von<br />
Fremdheit als bei Manet. Die bei ihm zwischen Gummibaum,<br />
Waffen-Stillleben, Austern und Zitronen versammelten<br />
Personen sind Repräsentanten eines modernen<br />
Menschentypus, der – ähnlich dem Flaneur Baudelaires<br />
– sozusagen mitten im Leben und doch außerhalb steht:<br />
Teil der Gesellschaft und doch irgendwie unbeteiligt,<br />
mehr Beobachter als Akteur. Das gilt insbesondere für<br />
die Figur im Vordergrund, für Léon Koëlla-Leenhoff, den<br />
legeren Teenager mit dem Strohhut, von dem manche<br />
vermuten, er sei Manets vorehelicher Sohn mit Suzanne<br />
Leenhoff gewesen. Seine nonchalante Pose, aber mehr<br />
noch der Ausdruck seiner Augen signalisieren gleichermaßen<br />
Nähe wie Distanz. Die Augen zeigen jene „présence<br />
d’absence“ des Blicks 9 , die Paul Valéry an Manets<br />
Gemälde „Berthe Morisot mit dem Veilchenbukett“ 10<br />
ausgemacht hat und die ein wesentliches Merkmal der<br />
Kunst des französischen Malers bilden.<br />
Die Anwesenheit von Abwesenheit<br />
Die Menschen in den Zeichnungen von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
verkörpern ebenfalls die Anwesenheit von Abwesenheit,<br />
wie sie Valéry erwähnt, aber es ist eine introvertierte<br />
Abwesenheit. Der junge Léon, die Bedienung der<br />
„Bar in den Folies-Bergère“ 11 , Berthe Morisot auf dem<br />
„Balkon“ 12 und die vielen anderen Frauen und Männer,<br />
die Manet gemalt hat, richten ihren Blick ziellos in eine<br />
vage Ferne. Der Blick hält sich an dem, was ringsum los<br />
ist, nicht weiter auf, er streift darüber weg und verliert<br />
sich im Irgendwo. Bei <strong>Hucht</strong> hingegen sind die Blicke in<br />
sich gekehrt. Oder sie sind vollständig auf eine Sache<br />
konzentriert wie bei der Sammlerin oder dem Protagonisten<br />
im Zimmer des Forschers (2002), der – umgeben<br />
von Leuchten und Lupen – minutiöse Studien betreibt.<br />
Eine der beiden Frauen auf dem Blatt WG hantiert mit<br />
Früchten. Sie ist dabei völlig in sich und ihr Tun versunken,<br />
aber auch ihre Mitbewohnerin im Vordergrund (oder<br />
ist sie eine Besucherin?) könnte, statt aus dem Bild zu<br />
blicken, einfach ihren Gedanken, Träumen, Phantasien<br />
hingegeben sein. Die Zeichnung gibt darüber keine Aus-<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
kunft, denn die junge Rothaarige trägt eine Sonnenbrille.<br />
Eine blinde Seherin?<br />
Die latente Bedeutungsoffenheit und semantische<br />
Unschärfe sind essentielle Eigenschaften der Kunst von<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong>. Man kann dies etwa an den Zimmerpflanzen<br />
ablesen, die zum konstanten Formenrepertoire<br />
der Künstlerin gehören. Oft entsteht der Eindruck, als<br />
markierten sie eine Grauzone zwischen Leben und Tod.<br />
Zumindest geben sie den Interieurs etwas Abgestandenes,<br />
Ermüdetes, Verbrauchtes, obschon sie doch als<br />
Pflanzen Wachstum und Vitalität signalisieren müssten.<br />
Tatsächlich weisen die Gewächse, die etwa auf der Zeichnung<br />
Das Auge (Abb. 2) wiedergegeben sind, ein sattes,<br />
tiefes Grün auf. Am rechten Rand der Arbeit ragen acht<br />
spitze, hartwüchsige Blätter in den Raum. Sie könnten<br />
von einer Drazäne, einem Drachenbaum stammen. Auf<br />
jeden Fall entfalten sie eine unterschwellige Aggressivität;<br />
fast denkt man an die Beine eines hybriden Insekts,<br />
das sich in das Zimmer tastet. Daneben funktionieren<br />
diese Blätter als formales Bindeglied, und zwar sowohl<br />
zu den Bäumen, die man durch ein Großflächenfenster<br />
im Hintergrund wahrnimmt, als auch zu einer stark<br />
angeschnittenen Tischplatte am unteren Bildrand. Deren<br />
Muster korrespondiert unverkennbar mit den Ästen und<br />
Stämmen draußen vor dem Haus, weckt aber durch seine<br />
Netzstruktur auch Assoziationen an eine Retina, zumal<br />
auf dem Tisch – abermals stark angeschnitten – ein<br />
Gefäß steht, in das man hineinschaut wie in das Dunkel<br />
einer Pupille. Ein zweites Auge?<br />
Kritisches Hinsehen<br />
Alles kreist folglich um genaues, nochmaliges, kritisches<br />
Hinsehen. Dieses genaue Schauen wird befördert durch<br />
die detailgetreue Präzision, mit der die Zeichnerin vorgeht.<br />
Ihr sorgsames gestalterisches Nachvollziehen der<br />
Realität ließe sich als Fortsetzung eines Karlsruher Spezifikums<br />
verstehen. War doch die Badische Landeskunstschule<br />
– die Vorläuferinstitution der Kunstakademie,<br />
an der <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> studierte – eine Hochburg der<br />
Neuen Sachlichkeit. Mit diesem Begriff fasste 1925 der<br />
damalige Direktor der Städtischen Kunsthalle Mannheim<br />
die nachexpressionistischen Strömungen in der Weimarer<br />
Republik zusammen, die er, ganz der Diktion seiner<br />
Zeit verpflichtet, grob in zwei Gruppen einteilte: „Die eine<br />
– fast möchte man von einem ‚linken‘ Flügel sprechen<br />
5
– das Gegenständliche aus der Welt aktueller Tatsachen<br />
reißend und das Erlebnis in seinem Tempo, seinem Hitzegrad<br />
herausschleudernd. Die andere, mehr den zeitlos-gültigen<br />
Gegenstand suchend, um daran im Bereiche<br />
der Kunst ewige Daseinsgesetze zu verwirklichen“ 13 . In<br />
der Ausstellung, die mit der Begriffsprägung einherging,<br />
waren neben Künstlern wie Otto Dix und George Grosz,<br />
Georg Schrimpf oder Alexander Kanoldt auch Karl Hub-<br />
buch, Wilhelm Schnarrenberger und Georg Scholz vertreten;<br />
alle drei lehrten an der Badischen Landeskunstschule,<br />
alle drei wurden nach der Machtübernahme der<br />
Nationalsozialisten aus dem Dienst entlassen. 1947 wurden<br />
Hubbuch und Schnarrenberger wieder an die Karlsruher<br />
Hochschule berufen, Scholz, der nach Kriegsende<br />
von der französischen Militärregierung zum Bürgermeister<br />
seiner Heimatstadt Waldkirch ernannt worden war, ist<br />
zu diesem Zeitpunkt bereits tot.<br />
Magische Objektivität<br />
Einige Arbeiten von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> könnten aktuelle<br />
Adaptionen des neusachlichen Impetus sein. Es gibt von<br />
ihr Stillleben eines Porzellanservices, einer Gruppe fragil<br />
geflochtener Körbe und eines Sets funktionalistisch<br />
gestalteter Schalen; all diese Arbeiten weisen die akzentuierte,<br />
manchmal nahezu dämonische, von zeitgenössischen<br />
Autoren auch als magisch empfundene Objektivität<br />
auf, mit der neusachliche Künstler die Dinge der<br />
Alltagswelt in ihren Malereien und Zeichnungen registrierten<br />
und überhöhten. <strong>Hucht</strong>s als Grisaille angelegtes<br />
Blatt Untitled (Schalen) von 2005 (Abb. 14) ließe sich bei<br />
flüchtigem Hinsehen sogar als eine der Schwarzweißfotographien<br />
auffassen, mit denen in der Zwischenkriegsepoche<br />
banale Industrieprodukte, aber auch Pflanzen,<br />
Früchte, Stühle, Musikinstrumente in ein neues Licht<br />
gerückt wurden. Namen wie Albert Renger-Patzsch, Paul<br />
Outerbridge oder Ralf Steiner stehen für diese fotografische<br />
Richtung, die den einzelnen Gegenstand, der durch<br />
den gewöhnlichen Umgang mit ihm unscheinbar bleibt, in<br />
6<br />
Es fehlt nicht an Symbolen, Zeichen und Strukturen,<br />
die darauf verweisen, dass in diesen Blättern ein weiter<br />
Horizont ins Auge gefasst wird.«<br />
den Rang einer makellosen Kostbarkeit erhebt. Die Ausleuchtung<br />
der Objekte hat entscheidenden Anteil an der<br />
visuellen Aufwertung, und dieses fotographische Gestaltungsmittel<br />
kehrt bei den gezeichneten und aquarellierten<br />
Stillleben von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> wieder: Von ihren weißen<br />
Schalen geht ein ähnliches scheinbar schattenloses,<br />
sachlich kaltes und doch geheimnisvolles Licht aus, wie<br />
es etwa bei den Aufnahmen einer Aenne Biermann, bei<br />
einer „Tüte mit Nüssen“<br />
(1929) oder einem „Gummibaum“<br />
(1926), zu beobachten<br />
ist.<br />
<strong>Hucht</strong> ist mit dieser Ästhetik<br />
vertraut, aber sie hat<br />
sich mit ihr weder systematisch<br />
befasst, noch hat sie versucht, sie zu adaptieren.<br />
Ihre Zeichnungen resultieren nicht aus einem gesteigerten<br />
Interesse an der Neuen Sachlichkeit. Die Akademie<br />
in Karlsruhe hätte einer rein sympathetischen Adaptation<br />
ohnehin keinen Vorschub geleistet. Trotz der Wiedereinstellung<br />
einiger ehemals veristisch orientierter<br />
Hochschullehrer in den ersten Nachkriegsjahren hat sich<br />
die Einrichtung nie als Hort eines einzigen Stils, einer<br />
spezifischen Richtung oder einer singulären Tendenz<br />
begriffen. Eher schon waren die jeweiligen Kollegien<br />
bestrebt, das Haus offen zu halten für gegenwartsnahe<br />
Entwicklungen. Während <strong>Hucht</strong>s Studium unterrichteten<br />
so unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten wie<br />
Silvia Bächli oder John Bock, Harald Klingelhöller oder<br />
Gustav Kluge, Meuser oder Marijke van Warmerdam an<br />
der Kunstakademie Karlsruhe. <strong>Hucht</strong> entschied sich für<br />
Erwin Gross, der Bilder aus der niederländischen Landschaftsmalerei,<br />
aber auch eigene Natureindrücke zum<br />
Anlass oftmals großformatiger Arbeiten nimmt, wobei<br />
die malerische Gestaltung nicht selten von automatischen<br />
Prozessen der Formbildung beeinflusst ist. Eine<br />
der Techniken, die Gross anwendet, besteht darin, auf<br />
ausgedehnten Leinwandflächen Lachen wässriger Farblösungen<br />
stehen zu lassen, so dass sich während des<br />
Austrocknens Pigmentpartikel in wechselnder Dichte<br />
an vorher nicht festgelegten Stellen ablagern: Malen als<br />
Analogie zu natürlichen Prozessen.<br />
Mit dieser Methode gelingen Gross Bilder von überaus<br />
zurückhaltender, schwebender, ephemerer Farbigkeit<br />
und mit Flächen, deren Konturen teils verschwimmen,
teils verschwinden. <strong>Hucht</strong>s zeichnerische Sorgsamkeit<br />
hat mit dieser gleichsam alchimistischen Vorgehensweise<br />
auf den ersten Blick nichts gemein. Andererseits weisen<br />
in <strong>Hucht</strong>s Arbeiten jene Bildzonen, die anscheinend<br />
eine großzügigere Behandlung erlauben, eine weiche,<br />
nachgerade wattige Struktur auf. Sie zeigt sich bei den<br />
Wänden der Innenräume ebenso wie beim Blick durch<br />
die diversen Fenster, denen <strong>Hucht</strong> ganz so wie den Vasen<br />
und Augen vermehrte Aufmerksamkeit schenkt.<br />
Blicke nach draussen<br />
Ein wiederkehrendes Motiv: Kaum eine Zeichnung, in<br />
der nicht ein Fenster den Blick nach draußen freigäbe.<br />
Die Natur, die dort eher winterstarr daliegt, als zu wachsen<br />
und zu grünen, ist mit zurückhaltendem, sparsam<br />
andeutendem Strich zu Papier gebracht, und diese offenlockere<br />
Textur lässt sich leicht in Verbindung bringen mit<br />
den flüchtigen Farbspuren, die sich in den Malereien von<br />
Erwin Gross atmosphärisch verdichten. Allerdings gilt:<br />
Wie weit die Kunst eines Lehrers im Schüler nachwirkt,<br />
ist, außer bei Verhältnissen sklavischer Nachfolgerschaft,<br />
generell schwer zu bestimmen. Insofern verbieten<br />
sich lineare Schlussfolgerungen und direkte Kausalableitungen.<br />
Zumal bei <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> noch zu erwägen<br />
wäre, in welchem Maß ihre Erfahrungen aus einer Sommerakademie<br />
mit Franz Hitzler nachwirkt, dessen<br />
Objekte, Gemälde und Druckgraphiken auffällige Bezüge<br />
zur sperrig-expressiven, anarchisch-farbbetonten Ästhetik<br />
der Cobra-Gruppe aufweisen. Wenn, dann sind also<br />
Affinitäten zu möglichen Vorbildern nur mit aller Vorsicht<br />
zu konstatieren. Gleichwohl sind sie nicht völlig ohne<br />
Belang – erst recht nicht, wenn wie bei <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
jede ausdrückliche Anlehnung an einzelne bestimmte<br />
Künstler unterbleibt. Die möglichen Vorblider geben den<br />
formalen Fundus zu erkennen, auf dem <strong>Hucht</strong> aufbaut,<br />
und sie belegen zugleich die Unabhängigkeit, mit der sie<br />
verfährt, denn nirgends ahmt sie nach oder kopiert sie,<br />
was sie bei ihren Lehrern gesehen hat.<br />
Die Selbstverständlichkeit, mit der <strong>Hucht</strong> Kenntnisse, die<br />
sie erworben, ästhetische Positionen, die sie reflektiert<br />
hat, in ihre Arbeit einbindet oder aber schlichtweg links<br />
liegen lässt, wie es eben dem Gesamtergebnis förderlich<br />
ist, diese Selbstverständlichkeit teilt <strong>Hucht</strong> mit vielen<br />
Künstlern einer jüngeren Generation, deren Protagonisten<br />
grob gesehen in den Jahren zwischen 1970 und 1980<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
geboren sind; zu ihnen zählen Sebastian Hammwöhner<br />
(*1974), Uwe Henneken (*1974), David Thorpe (*1972) oder<br />
auch Gabriel Vormstein (*1974), der in seine konzeptuell<br />
vielschichtigen, zuweilen der Arte povera nahe stehenden<br />
Arbeiten gerne Bildzitate aus Werken von Gustav<br />
Klimt oder Egon Schiele einfügt. Als Grund-Tuning ihrer<br />
Einstellung zur Kunst verbindet Zeichner und Maler wie<br />
Vormstein, Hammwöhner oder eben auch <strong>Hucht</strong> ein<br />
unbefangener Umgang mit dem Figurativen und Gegenständlichen.<br />
Bei etlichen Künstlern, die in den Jugendjahren<br />
dieser Generation tonangebend waren, mag eine<br />
solche Haltung aus dem Bedürfnis der Postmoderne<br />
entsprungen sein, eine vermeintlich lineare Entwicklung<br />
umzukehren, die konsequent vom Realismus der Alten<br />
Meister zu den Reduktionen, Abstraktionen und Minimalisierungen<br />
der Moderne führte. Für die Künstlergeneration,<br />
der <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> angehört, ist das kein Thema<br />
mehr. Ihre ästhetische Sozialisation erfolgte diesseits<br />
hegelianischer (Kunst)-Geschichtsmodelle, die bei fortschreitenden<br />
Abstraktionsprozessen in der Auflösung<br />
und Ablösung der Kunst durch die Philosophie münden.<br />
Eine ästhetische Position, die sich darauf stützt, dass<br />
die Diskussion um die Rolle und Zukunftsfähigkeit der<br />
Moderne überwunden ist, ferner die dezidierte Distanz zu<br />
Dogmen verbunden mit dem Verzicht auf Ironisierungen,<br />
die nur die spiegelverkehrte Fortsetzung einschlägiger<br />
Argumentationen zur modernen und nachmodernen<br />
Kunst wären – all dies gehört zu den Voraussetzungen,<br />
von denen Künstler und Künstlerinnen wie <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong><br />
<strong>Hucht</strong> ausgehen. Der Freiheit kommt dabei einiges<br />
Gewicht zu. Anlass für eine Reihe kleinformatiger Aquarelle,<br />
die ein spindeldürres Mädchen in ekstatischen<br />
Bewegungen beim Abtanzen zeigen, war das Bedürfnis<br />
freier zu gestalten, nachdem <strong>Hucht</strong> zuvor unter beachtlichem<br />
Zeitaufwand großformatige Kohlezeichnungen<br />
gefertigt hatte. Dass diese kleinen Blätter an James<br />
Ensor erinnern, ist Zufall, erklärt die Künstlerin. So wie<br />
es Sache des Betrachters ist, gedankliche Verknüpfungen<br />
zu historischen Motiven wie etwa der „danse macabre“<br />
herzustellen.<br />
Historische Bildformeln<br />
<strong>Hucht</strong> öffnet Räume, die Innenräume und in ebensolchem<br />
Maß Interpretationsräume sind. In ihnen finden<br />
sich Momente, die historische Bildformeln (wie etwa den<br />
7
omantischen Blick durch das Fenster in eine hoffnungsfrohe,<br />
utopische Ferne) aufgreifen und die dazugehörigen<br />
Assoziationen wach rufen können. Aber es finden sich in<br />
diesen Interieurs auch jede Menge Gegenstände, die der<br />
Welt des 20. und 21. Jahrhunderts entnommen sind. Stück<br />
um Stück stehen sie pars pro toto für ihre Problemfelder,<br />
Aktionsradien und Handlungsoptionen: Exotischer Nippes<br />
steht für eine forcierte Mobilität der Menschen und<br />
Waren, die Zimmerpflanzen entsprechen einer domestizierten<br />
und auf ihren ökonomischen Nutzwert reduzierten<br />
Natur, die Pose des Forschers deutet auf den Primat des<br />
Rationalen bei der Gestaltung der hochtechnisierten Realität<br />
im Zeitalter von Internet, weltweiter Arbeitsteilung<br />
und durchorganisierter Freizeitvermarktung. <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong><br />
<strong>Hucht</strong> schafft mit ihren Zeichnungen Bedeutungsareale,<br />
deren semantische Dimension durch die Öffnung zur Tradition<br />
wie durch eine intime Nähe zur eigenen Gegenwart<br />
definiert wird. Auf diese Weise erhalten ihre Zeichnungen<br />
eine implizite Universalität. Das heißt: Es wird zwar nicht<br />
jeder Sachverhalt, der am Lauf der Welt Teil hat, gestalterisch<br />
aufgegriffen, aber es fehlt nicht an Symbolen,<br />
Zeichen und Strukturen, die darauf verweisen, dass in<br />
diesen Blättern ein weiter Horizont ins Auge gefasst und<br />
eine globale Perspektive angepeilt werden.<br />
Die Schränke und Vitrinen, die <strong>Hucht</strong> zeichnend mit<br />
Objekten banaler oder überraschender Provenienz füllt,<br />
sind Wunderkammern, die Teppiche, deren Muster sie<br />
mit opulenter Akribie wiedergibt, sind Weltkarten des<br />
Poetischen. Für einige Künstler aus der Generation<br />
<strong>Hucht</strong>s stellt die Romantik eine inspirierende Epoche<br />
dar, mit der sie sich in Einzelaspekten sogar identifizieren<br />
mögen. Bezogen auf die Arbeiten von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong><br />
<strong>Hucht</strong> könnte das nur die Frühromantik sein, die in ihrem<br />
Versuch, selbst vermeintlich disparate Fakten und Phänomene<br />
auf einen Nenner zu bringen, weit moderner war<br />
als alle späteren Bemühungen, romantisch mit „gefühlsselig“<br />
gleichzusetzen. Etwas von der frühromantischen<br />
Universalität steckt in der Kunst von <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong> – in<br />
den Zeichnungen und in den Vasen, die wie Sinn-Behältnisse,<br />
Bedeutungs-Globen oder Gefäße voller Welthaltigkeit<br />
dastehen und mit ihren keramischen Augen auf<br />
ihre Betrachter blicken, um sie daran zu erinnern, dass<br />
jedes Gegenüber – und sei es Kunst – Botschaften birgt<br />
und auf sein Vis-à-vis überträgt. So machen Kunstwerke,<br />
auch wenn sie an sich blind sind, sehend.<br />
8<br />
Michael Hübl<br />
geboren 1955,<br />
studierte Kunst, Kunstgeschichte und Germanistik an<br />
der Kunstakademie Karlsruhe und an den Universitäten<br />
Heidelberg, Karlsruhe und Hamburg. Seit 1981 zahlreiche<br />
Texte zur Kunst der Gegenwart. Leiter des Kulturressorts<br />
der Badischen Neuesten Nachrichten.<br />
Anmerkungen<br />
1 Peter Bexte Blinde Seher. Die Wahrnehmung von Wahrnehmung<br />
in der Kunst des 17. Jahrhunderts. Dresden 1999.<br />
2 vgl. Bexte, a.a.O., S. 43ff.<br />
3 zit. nach Bexte, a.a.O., S.10.<br />
4 Alain Jouufroy Conversation avec Marcel Duchamp (New York<br />
1961), in: ders., Une revolution du regard, Paris 1964, S. 115.<br />
5 Max Frisch Mein Name sei Gantenbein<br />
6 Edouard Manet „Das Frühstück im Atelier“, 1868, Neue<br />
Pinakothek, München<br />
7 wie Anm. 6<br />
8 wie Anm. 6<br />
9 zit. nach Günter Busch: Paul Valéry und der Manet-Blick in:<br />
ders. Das Gesicht. Aufsätze zur Kunst, Frankfurt am Main<br />
1997, S. 127-137, hier S. 130.<br />
10 Edouard Manet „Berthe Morisot mit dem Veilchenbukett“,<br />
1872, Privatbesitz.<br />
11 Edouard Manet „Bar in den Folies-Bergère”, 1881-1882,<br />
Courtault Institute Galleries, London.<br />
12 Edouard Manet Der Balkon um 1868-1869, Musée d’Orsay<br />
(Legat Caillebotte), Paris.<br />
13 Gustav Friedrich Hartlaub Zum Geleit in: Katalog zur Ausstellung<br />
Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem<br />
Expressionismus, Städtische Kunsthalle Mannheim 1925,<br />
S. 5.<br />
Fotonachweis<br />
Alle Abbildungen Courtesy Meyer Riegger, Karlsruhe
9<br />
10<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
9 Warten auf Fledermäuse, 2004<br />
Aquarell auf Papier<br />
36 x 26 cm<br />
Privatsammlung London<br />
10 Ohne Titel, 2004<br />
Aquarell auf Papier<br />
24 x 18 cm<br />
Privatsammlung Köln<br />
9
11 Im Sommerhaus, 2004<br />
Aquarell auf Papier<br />
36 x 26 cm<br />
Privatsammlung Mailand<br />
10
12 Maske, 2005<br />
Aquarell auf Papier<br />
29,5 x 20,5 cm<br />
Privatsammlung Köln<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
KÜNSTLER<br />
KRITISCHES LEXIKON DER<br />
GEGENWARTSKUNST<br />
Erscheint viermal jährlich mit insgesamt<br />
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Redaktion<br />
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Dokumentation<br />
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Grafik<br />
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© Zeitverlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,<br />
München 2008<br />
ISSN 0934-1730<br />
11
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong><br />
[ Biografie<br />
[ Ausstellungen<br />
[<br />
Bibliografie<br />
1980 geboren in Bonn<br />
2000– Studium bei Prof. Erwin Gross an der<br />
2005 Akademie der Bildenden Künste, Karlsruhe<br />
2005–- Meisterschülerin bei Erwin Gross<br />
2006<br />
lebt und arbeitet in Karlsruhe<br />
12<br />
Einzelausstellungen<br />
2007 Essen, Kunsthaus<br />
2008 Karlsruhe, Meyer Riegger<br />
Gruppenausstellungen<br />
2002 Karlsruhe, Poly Produzentengalerie, fiktive<br />
Orte<br />
2004 Karlsruhe, Staatl. Akademie der bildenden<br />
Künste, Jubiläumsausstellung<br />
2005 Ettlingen, Kunstverein Wilhelmshöhe,<br />
Studenten der Klasse Gross, Malerei und<br />
Zeichnung<br />
2006 Freiburg, Kunstverein, Top 06, MeisterschülerInnen<br />
der Staatlichen Akademie der<br />
Bildenen Künste Karlsruhe (Wanderausst.)<br />
Ravensburg, Columbus Art Foundation,<br />
MeisterschülerInnen der Staatlichen Akademie<br />
der Bildenden Künste Karlsruhe<br />
2007 Berlin, Laura Mars Grp, Heute jedoch nicht<br />
Bonn, Kunst- und Ausstellungshalle der<br />
Bundesrepublik Deutschland, Kunststudentinnen<br />
und Kunststudenten stellen aus.<br />
18. Bundeswettbewerb des Bundesministeriums<br />
für Bildung und Forschung<br />
2006 Top06, MeisterschülerInnen, Kat. Kunstverein,<br />
Freiburg und Columbus Art Foundation,<br />
Ravensburg<br />
<strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong>. Warten auf Fledermäuse,<br />
Kat. Galerie Meyer Riegger und Axel Heil,<br />
Karlsruhe<br />
2008 Hübl, M., <strong>Anna</strong> <strong>Lea</strong> <strong>Hucht</strong>, in: Künstler.<br />
Kritisches Lexikon der Gegenwartskunst,<br />
Ausgabe 83, München