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Tatjana Doll D - Zeit Kunstverlag

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„Der Widerspruch soll sich<br />

der Wirklichkeit stellen“ 1<br />

Michael Hübl<br />

Speed ist ein Hauptwort der hochtechnologischen Moderne.<br />

Ultrabeschleunigte Geschwindigkeit ist angesagt. Auf<br />

schnurgeraden Schienensträngen rasen stromlinienförmige<br />

Züge ihren metropolitanen Zielen entgegen, in Bruchteilen<br />

von Sekunden werden Informationen über so genannte<br />

Datenautobahnen um den Globus gejagt. Dass Speed<br />

auch ein Begriff aus der Drogenszene ist, passt ins Bild: Die<br />

menschliche Biologie soll genauso in Fahrt gebracht werden<br />

wie die Rechner an den Börsen oder die Boliden auf den<br />

Fernstraßen; sie soll abgekoppelt werden vom natürlichen<br />

Rhythmus aus Schlafen und Wachsein. Schon sieht es<br />

danach aus, als habe die Wirklichkeit jene „Dromoskopien”<br />

rechts und links überholt, die der Architekt und Theoretiker<br />

Paul Virilio Anfang der 1980er-Jahre als Visionen einer<br />

superschnellen Zukunft formulierte 2 . Virilio knüpft seine<br />

Thesen an die Erfindung und die massenhafte Verbreitung<br />

der Dampfmaschine und er zitiert dabei Heinrich Heine,<br />

der bereits 1843, als erst wenige vereinzelte Eisenbahnstrecken<br />

gebaut waren, bemerkte: „In vierthalb Stunden reist<br />

man jetzt nach Orleans, in ebenso viel Stunden nach Rouen.<br />

Was wird das erst geben, wenn die Linien nach Belgien<br />

und Deutschland ausgeführt und mit den dortigen Bahnen<br />

verbunden seyn werden! Mir ist, als kämen die Berge und<br />

Wälder aller Länder auf Paris angerückt. Ich rieche schon<br />

den Duft der deutschen Linden; vor meiner Thüre brandet<br />

die Nordsee” 3 . Was die Gerüche anbelangt, lag Heine einigermaßen<br />

daneben: Statt Lindendüften sind es heute wohl<br />

eher Autoabgase, die von Westen her in die französische<br />

Hauptstadt gelangen. Doch ansonsten hat der romantische<br />

Dichter mit seinem prophetischen Bild der schrumpfenden<br />

Entfernungen Recht behalten. Seine Beschreibung verströmt<br />

sogar gemütliche Nostalgie angesichts des Tempos,<br />

das die Lebensabläufe im frühen 21. Jahrhundert, dem orientierungslosen<br />

Erben der Moderne, bestimmt.<br />

Hyperdynamische Gegenwart<br />

Die Malerei von <strong>Tatjana</strong> <strong>Doll</strong> scheint mit der hyperdynamischen<br />

Gegenwart, in der die Künstlerin lebt, unmittelbar<br />

zu korrelieren. <strong>Doll</strong> hat ihre Bilder in Fahrt gebracht.<br />

Sie hat den Superschnellzug Shinkansen gemalt, der als<br />

Vorläufer von TGV und ICE zum Symbol japanischer Fortschrittsfähigkeit<br />

wurde, und kilowattstarken Kraftfahrzeugmarken<br />

hat sie künstlerische Denkmäler gesetzt – darunter<br />

immer wieder der „Testarossa” von Ferrari, jenem<br />

zwölfzylindrigen flachen Straßengeschoss, das mit seinen<br />

rot lackierten Ventildeckeln und mit rund 300 kW Leistung<br />

2<br />

zu einem sexuell aufgeladenen Fetisch automobiler Bewegungslust<br />

wurde. Offensichtlich richtet <strong>Tatjana</strong> <strong>Doll</strong> ihre<br />

Malerei an den Wesensmerkmalen dieser Vehikel aus. Die<br />

Farbe wird flott und großzügig aufgetragen, das Format<br />

dem Bildgegenstand angepasst. Die Leinwand ist dann<br />

manchmal so schlank und schmal wie der Superexpress,<br />

den <strong>Doll</strong> beinahe in einem Zug auf die Fläche gesetzt hat.<br />

Form follows function, auch hier? Das hieße, vorschnell<br />

Schlüsse ziehen. Man ließe dann außer Acht, dass <strong>Tatjana</strong><br />

<strong>Doll</strong> keineswegs immer auf die Tube drückt. Erstens<br />

malt sie nicht nur, sondern zeichnet auch (leicht und<br />

zurückhaltend im Strich), zweitens ist ihr künstlerisches<br />

Interesse keineswegs nur auf Geräte fixiert, die zur<br />

Fahrt in den Geschwindigkeitsrausch verleiten. Ohnehin<br />

beschränkt sich <strong>Doll</strong> bei der Auswahl ihrer Sujets nicht<br />

auf Fortbewegungsmittel. Aber wenn sie innerhalb dieser<br />

thematischen Gruppe bleibt, dann gilt, dass sie auch den<br />

Fuhrpark der Lahmen und Lausigen in ihr Bildprogramm<br />

integriert, darunter Monster tonnenschwerer Langsamkeit<br />

wie Müllautos, Doppeldeckerbusse oder Straßenreinigungsfahrzeuge.<br />

Bis hin zum totalen Stillstand in<br />

Gestalt von wuchtigen Bauschuttcontainern reichen die<br />

Motive der Entschleunigung.<br />

Das heißt, dass sich in den Arbeiten <strong>Doll</strong>s bereits ein<br />

Realitätswandel niedergeschlagen hat. Denn bekanntlich<br />

stößt die allseits auf Speed getrimmte Gesellschaft<br />

– ganz im Gegensatz zu ihrem tachomanen Selbstbild<br />

– mehr und mehr an Grenzen, sei es durch Überlastung<br />

der Verkehrsnetze, sei es durch die drohende Verknappung<br />

von Treibstoff oder durch technische Probleme.<br />

Die Außerbetriebnahme des Überschallflugzeugs „Concorde”<br />

im Jahr 2003 markiert einen Wendepunkt in der<br />

Geschichte der modernen Mobilität. Vorbei der von Virilio<br />

prognostizierte „noch ungedachte, aber keineswegs<br />

undenkbare Augenblick, wenn man nicht mehr einige<br />

Stunden braucht, um nach New York oder Rio zu fliegen,<br />

sondern zehn Minuten, in der zweiten Klasse...” 4 . Jetzt<br />

begegnet man der „Concorde“ nur noch im Technikmuseum,<br />

auf alten Fotos, in <strong>Zeit</strong>ungsarchiven. Oder auf einer<br />

Malerei von <strong>Tatjana</strong> <strong>Doll</strong> aus dem Jahr 1999.<br />

Manifestationen der Entschleunigung<br />

Das Tempo des Schnellerschnellerschneller ist gedrosselt,<br />

und dieser Umstand hat längst die Bildwelt der<br />

Künstlerin erreicht. Das zeigt sich etwa an den rollenden<br />

Objekten, die sie sozusagen auf eine Stufe stellt: Der

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