Tatjana Doll D - Zeit Kunstverlag
Tatjana Doll D - Zeit Kunstverlag
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eingebunden sind und denen sie die Richtung vorgeben,<br />
um sie damit zugleich in Gang zu halten. <strong>Doll</strong> deutet mit<br />
ihren Arbeiten also nicht nur auf die Differenz zwischen<br />
einem dargestelltem Objekt und einem gemalten Bild,<br />
sondern auch auf die Kontextualität und Bedingtheit des<br />
einen wie des anderen. Das Objekt steht so wenig für sich<br />
selbst wie die Malerei: Beide sind sie Bestandteile von<br />
sozialen, pragmatischen, ökonomischen, ideologischen,<br />
technologischen Denk- und Ordnungssystemen.<br />
<strong>Doll</strong> bindet diese Umstände stärker in ihre künstlerische<br />
Praxis ein, als von den Bildern selbst zunächst zu vermuten<br />
wäre. Ihre Malereien sind in sich autonome Kunstwerke<br />
und bleiben doch immer auf das Umfeld und die<br />
Bedingungen bezogen, unter denen sie entstehen und<br />
wahrgenommen werden. In ihrem Projekt Drive In, dessen<br />
Name an automobilgerechte Schnellrestaurants<br />
oder Freilichtkinos erinnert, geht <strong>Doll</strong> sogar so weit, die<br />
Komplexität der Kunst in Virtualität zu transformieren:<br />
Drive In handelt von einer Ausstellung, die niemals stattfand<br />
und die dennoch Teil der jüngsten Kunstgeschichte<br />
wurde. Denn zu dem anfangs tatsächlich in die Wege<br />
geleiteten Vorhaben ist ein Katalog erschienen. Er enthält<br />
das gesamte informative Beiwerk, das zum Standard<br />
solcher Publikationen gehört, – inklusive einem Vorwort,<br />
welches die Vorgeschichte seines Zustandekommens<br />
erklärt. Dass <strong>Doll</strong> ihre Arbeiten in einer Industriebrache<br />
platzieren sollte, dann durch einen Besitzerwechsel<br />
gezwungen war, ihre ambitionierten Pläne aufzugeben.<br />
Dass der Katalog bereits in Vorbereitung war, und<br />
sich die Künstlerin samt Kurator und Kunstverein dafür<br />
entschied, die „Drive In“-Schau als Fiktion zu realisieren.<br />
Man könnte sagen: Im Nachhinein spielt es für den<br />
Kunstbetrieb ohnehin keine Rolle, ob die Ausstellung<br />
wirklich stattgefunden hat oder nicht. Aber <strong>Doll</strong> hat auch<br />
hier eine zweite Ebene eingezogen, indem sie die Bände<br />
Stück um Stück mit einer kleinen Malerei kaschieren ließ.<br />
Die Kataloge sind jetzt die Originale, und mit jedem verkauften<br />
Exemplar wird ein Werk in Umlauf gebracht, wird<br />
eine zugleich beschleunigte und versprengte Ausstellung<br />
geschaffen. „Der Widerspruch soll sich der Wirklichkeit<br />
stellen“ 15 postuliert <strong>Tatjana</strong> <strong>Doll</strong> und konfrontiert in jeder<br />
Arbeit die Wirklichkeit mit sich selbst. <strong>Doll</strong> spiegelt nur<br />
deren Oberfläche. Aber sie spiegelt sie so konsequent<br />
und gründlich, bis sie springt, bis sie Risse zeigt und evident<br />
wird: Erst in der Brechung durch die Kunst offenbart<br />
sie ihr wahres Gesicht.<br />
8<br />
Michael Hübl<br />
geboren 1955, studierte Kunst, Kunstgeschichte und<br />
Germanistik an der Kunstakademie Karlsruhe und an den<br />
Universitäten Heidelberg, Karlsruhe und Hamburg. Seit<br />
1981 zahlreiche Texte zur Kunst der Gegenwart. Leiter des<br />
Kulturressorts der Badischen Neuesten Nachrichten.<br />
Anmerkungen<br />
1 <strong>Tatjana</strong> <strong>Doll</strong>: DOLL. Berlin 2003, S. 15.<br />
2 Technik und Fragmentierung. Paul Virilio im Gespräch mit<br />
Sylvère Lotringer, in: Karlheinz Bark u.a.: Aisthesis. Wahrnehmung<br />
heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik.<br />
Leipzig 1990, S. 72-81, hier S. 81; zuerst erschienen in: Paul<br />
Virilio – Sylvère Lotringer, Pure War, New York 1983.<br />
3 Heinrich Heine: Lutezia. Berichte über Politik, Kunst und<br />
Volksleben. Zweither Teil, DHA (= Historisch-kritische<br />
Gesamtausgabe der Werke), Bd. 14/1, Hamburg 1990, S. 58.<br />
4 Paul Virilio: Fahrzeug, in: Bark u.a. (Hg.): Aisthesis, a.a.O., S.<br />
47-72, hier S. 55; zuerst erschienen unter dem Titel “Véhiculaire”<br />
in: Nomades et Vagabonds, Cause commune 2/1975,<br />
Paris 1975.<br />
5 Jasper Johns: Painted Bronze (Ale Cans), 1960, Bronze<br />
bemalt, 14 x 20,3 x 12,1 cm, Museum Ludwig, Köln.<br />
6 Jasper Johns: Painted Bronze, 1960, 34,4 x 20,3 cm, Sammlung<br />
des Künstlers, Leihgabe an das Philadelphia Museum<br />
of Art.<br />
7 Kirk Varnedoe machte das in der Kulturwissenschaft<br />
gebräuchliche Begriffspaar 1990 zum Titel seiner Ausstellung<br />
„High & Low“ im MoMA, New York.<br />
8 Die Parole, die Cole Porter durch sein gleichnamiges Musical<br />
populär gemacht hat, ist zu einem Synonym für die<br />
Kunst Warhols geworden.<br />
9 Alvin Toffler: Future Shock, New York 1970.<br />
10 s. vor allem Violênca institucional e poetica/ Institutional<br />
and Poetic Violence, Katalog zur Ausstellung Museu Serralves,<br />
Porto 2008, S. 95-127, und DOLL, a.a.O., S. 145-152.<br />
11 s. Walter Hopps (Hg.): Kienholz Retrospektive. Katalog zur<br />
Ausstellung Whitney Museum of American Art 1996, The<br />
Museum of Contemporary Art, Los Angeles 1996; dt. Ausgabe<br />
Berlinische Galerie, Landesmuseum für Mode, Kunst,<br />
Photographie und Architektur, 1997, S. 156.<br />
12 ebenda, S. 157.<br />
13 Karin von Maur (Hg.): Magie der Zahl in der Kunst des 20.<br />
Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung Staatsgalerie Stuttgart<br />
1997, S. 92f.<br />
14 Der Tausch, von dem die Künstlerin in DOLL, a.a.O., S. 13,<br />
spricht, fand nach Auskunft der Künstlerin erst zwei Jahre<br />
nach dem Ende der Ausstellung statt.<br />
15 s. Anm. 1.<br />
Fotohinweis<br />
Fotos Bernd Borchardt, Martin Eberle, Achim Kukulies,<br />
Jörg Lohse, Tim Trantenroth, Jürgen Wesseler