Seltene Erkankungen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
8<br />
Lesen Sie mehr auf seltenekrankheiten.de<br />
„Ich bin wie alle!“<br />
Felix* bekam mit sechs eine neue Leber, denn er leidet am seltenen Alagille-Syndrom,<br />
das Probleme an Leber, Herz, Nieren und Knochen macht. Was die Erbkrankheit für<br />
ihn und seine Familie bedeutet, berichten Felix und seine Mutter hier.<br />
Text Doreen Brumme<br />
Frau Steinbach*, Felix leidet am Alagille-<br />
Syndrom. Wann fiel Ihnen auf, dass er Beschwerden<br />
hat – und wie sahen diese aus?<br />
Felix hat vier ältere Geschwister, ich hatte also bereits<br />
Erfahrung mit Neugeborenen. Mir fiel sofort auf, dass<br />
er sich mit dem Stillen schwertat. Mit der Hebamme<br />
zusammen versuchte ich alles, um ihn zum Trinken zu<br />
bewegen – vergebens. Zudem war Felix ungewöhnlich<br />
lange nach der Geburt noch sehr gelb – als Krankenschwester<br />
wusste ich, dass das mit der Leber zusammenhing.<br />
Bei der ersten Untersuchung bei unserer Kinderärztin<br />
wurde deshalb gleich ein Bluttest gemacht<br />
und der ergab dann die Diagnose.<br />
Wie wurde Felix behandelt?<br />
Felix‘ Leber wurde fortan engmaschig kontrolliert.<br />
Da bei der Erbkrankheit oft auch Herz, Nieren und<br />
Knochen in Mitleidenschaft geraten, machte man eine<br />
Herzkatheter-Untersuchung und stellte Gefäßveränderungen<br />
fest. Die Leberwerte von Felix waren jahrelang<br />
auf einem schlechten Niveau, das gerade noch geduldet<br />
werden konnte. Mit vier Jahren hatte Felix bereits etliche<br />
Knochenbrüche hinter sich. Das hieß: Arztbesuche<br />
bestimmten seine Kindheit. Immer wieder stand eine<br />
neue Leber im Raum. Mit sechs Jahren brauchte Felix<br />
eine neue Leber. Kurz nach Neujahr kam der Anruf...<br />
Wir hatten nicht mal eine Kliniktasche gepackt. Den<br />
Moment, als Felix in den OP geschoben wurde, werde<br />
ich nie vergessen. Ich hatte selbst an Transplantationen<br />
mitgewirkt. Ich wusste, was ihm, was uns bevorstand.<br />
Ich kannte die Risiken. Ich höre noch heute, wie der<br />
operierende Arzt mir versicherte, es sei eine gute Leber,<br />
die er für Felix hätte. Das half, die 14 Stunden Warten<br />
auszuhalten.<br />
Felix, du bist inzwischen 14 Jahre alt. Wirkt sich<br />
deine Erkrankung auf deinen Alltag aus – und fühlst<br />
du dich anders als gesunde Gleichaltrige?<br />
Ich bin ganz normal und werde so auch wahrgenommen.<br />
Als ich neulich beim Schulausflug meinen Behindertenausweis<br />
zeigte, um den günstigeren Eintritt<br />
zu bekommen, fragten viele, warum ich den habe. Ab<br />
und zu sprechen mich manche auch auf meine grau<br />
verfärbten Zähne an. Dann sage ich, dass das von den<br />
Medikamenten kommt. Ansonsten bin ich wie alle. Ich<br />
kann machen, was meine Freunde auch tun: Ich fühle<br />
mich nicht im Abseits. Ich bin sehr sportlich, mache seit<br />
Jahren Akrobatik im Zirkus. Ich weiß ziemlich<br />
gut, was ich mir zumuten kann und was nicht.<br />
Die vermeintlich „normalen“ Dinge wie Rauchen,<br />
Saufen und Kiffen lasse ich gerne aus.<br />
Was bedeutet Felix‘ Diagnose für die Familie?<br />
Frau Steinbach: Felix war von Anfang an unser<br />
Päppelkind. Jahrelang ging es bei ihm vor allem darum,<br />
dass er genug isst, zunimmt und wächst. Das hat<br />
den Takt der Familie bestimmt. Er war lange zu klein...<br />
Felix: Jetzt bin ich einer der Großen!<br />
Frau Steinbach: Felix hatte in der Grundschule eine<br />
Begleitung an der Seite, die seinen Ranzen trug, ihm<br />
schwere Türen öffnete. Doch je weiter die OP zurück lag,<br />
desto normaler wurde sein Leben und unser Familienleben.<br />
Die Geschwister hatten ja auch ihre Themen<br />
mit Schule, Abschluss ...<br />
Felix: Wir sind alle frühreif.<br />
Frau Steinbach: Das stimmt. Alle sind an der Situation<br />
gewachsen. Mitunter sorge ich mich, dass die Krankheit<br />
Felix und seinen Geschwistern die Leichtigkeit aus dem<br />
Leben nimmt. Doch dann sage ich mir: Was ist, ist kein<br />
Zufall. So, wie’s ist, ist’s gut. Unser, also vor allem mein<br />
nächstes Thema wird sein, Felix in sein eigenes Leben<br />
zu entlassen.<br />
Vielleicht wäre es<br />
irgendwann mal ganz schön,<br />
jemanden zu sprechen, der<br />
Ähnliches erlebt hat.<br />
Wo bekommen Sie Unterstützung?<br />
Frau Steinbach: Ich bin mit meinen fünf Kindern allein.<br />
Doch ich habe eine große Familie, Freunde und Nachbarn,<br />
auf die immer Verlass ist. Wir sind in unserer<br />
freikirchlichen Gemeinde sehr gut eingebunden und<br />
finden dort immer Hilfe. Mir ist klar, dass das nicht<br />
selbstverständlich ist. Ich bin dankbar für die Gewissheit,<br />
mit allem in Gottes Hand zu sein und bin mir<br />
bewusst, dass das ein Geschenk ist.<br />
*Namen von der Redaktion geändert<br />
FOTO:<br />
SHUTTERSTOCK_465884015<br />
Andere, insbesondere Alleinerziehende, haben solch ein<br />
Hilfenetz wie ich vielleicht nicht. Allein kommt man beim<br />
Betreuen eines chronisch kranken Kindes rasch an seine<br />
Grenzen. Es kostet Kraft, zu erkennen, dass man Hilfe<br />
braucht. Und es kostet noch mehr Kraft, Hilfe zu holen.<br />
Da können Selbsthilfegruppen eine Unterstützung sein.<br />
Felix: Vielleicht wäre es irgendwann mal ganz schön,<br />
jemanden zu sprechen, der Ähnliches erlebt hat. Aber momentan<br />
geht’s mir gut. Ich habe Freunde, die alles von mir<br />
wissen. Mit denen kann ich reden, wenn mir danach ist.<br />
Der Verein Leberkrankes Kind e. V.<br />
Seit 1987 gibt es den Verein Leberkrankes Kind e. V.<br />
Gegründet wurde der Verein von Eltern leberkranker<br />
Kinder, die das Bedürfnis hatten, sich mit anderen<br />
betroffenen Familien auszutauschen. Heute hat<br />
unser Verein rund 300 Mitglieder. Wir informieren<br />
über Krankheitsbilder und über Unterstützungsmöglichkeiten<br />
für Familien schwer kranker Kinder.<br />
Der Verein fördert verschiedene Projekte an Kliniken,<br />
unterstützt Ferienfreizeiten oder ermöglich transplantierten<br />
Kindern die Teilnahme an den<br />
World Transplant Games.<br />
Wir als Verein möchten informieren, Mut machen und<br />
unsere Erfahrungen teilen. Jede und jeder ist herzlich<br />
als Mitglied in unserem Verein willkommen.<br />
Je mehr wir sind, desto mehr können wir bewirken –<br />
gemeinsam für unsere Kinder!<br />
Weitere Informationen unter:<br />
www.leberkrankes-kind.de<br />
„Eine frühe Diagnose des Alagille-Syndroms ist entscheidend“<br />
Das Alagille-Syndrom ist eine seltene angeborene System-Erkrankung, die hauptsächlich die Leber und oft das Herz betrifft. Wir sprachen mit PD Dr. Eberhard Lurz,<br />
Facharzt Kinder- und Jugendmedizin, Zusatz-Weiterbildung Kinder-Gastroenterologie, am LMU Zentrum für Entwicklung und komplex chronisch kranke<br />
Kinder im Dr. von Haunerschen Kinderspital, 2. Vorsitzender der GPGE e. V., über die Symptome und die derzeitigen Behandlungsmöglichkeiten.<br />
Text Katharina Lassmann<br />
Herr Dr. Lurz, was passiert beim Alagille-Syndrom<br />
im Körper Betroffener und wie äußert sich die Erkrankung?<br />
Das Alagille-Syndrom manifestiert sich meist unmittelbar<br />
nach der Geburt oder in der Säuglingsphase und ist<br />
durch eine deutliche Lebererkrankung mit Gelbsucht<br />
und Juckreiz gekennzeichnet, oft betrifft sie aber auch<br />
Herz oder Nieren. Verantwortlich hierfür ist ein Defekt<br />
in einem der beiden Strukturgene JAG1 bzw. NOTCH2,<br />
der zu einer fehlerhaften Entwicklung spezifischer<br />
Zellen führt.<br />
Dadurch kommt es zu einer unzureichenden Entwicklung<br />
der Gallengänge in der Leber und Symptome wie<br />
Gelbsucht, Juckreiz und Leberprobleme können entstehen.<br />
Die Galle kann nicht regelrecht aus der Leber<br />
ausgeschieden werden, sodass es langsam zu einer Vernarbung<br />
der Leber kommt. Gemäß einer aktuellen internationalen<br />
(GALA) Registerstudie überleben weniger<br />
als 50% der Kinder mit ihrer eigenen Leber und eine Lebertransplantation<br />
wird im Verlauf notwendig. Manche<br />
Patienten haben einen sehr milden Krankheitsverlauf<br />
ohne relevante Symptome und die Diagnose wird erst zu<br />
einem späteren Zeitpunkt gestellt, z. B. wegen auffälligen<br />
Gesichtsmerkmalen wie einem spitzen Kinn mit breiter<br />
Stirn, kleinen Fettknötchen (Xanthomen) an den Augen<br />
oder der Haut, oder eigenem Nachwuchs mit Alagille-<br />
Syndrom. Eine endgültige Diagnose erfolgt in der Regel<br />
mittels genetischer Tests.<br />
Was sind die größten Herausforderungen für Patienten<br />
und ihre Angehörigen?<br />
Neugeborene zeigen oft in den ersten beiden Wochen<br />
eine gelbliche Verfärbung der Haut oder Skleren, welche<br />
man gut beobachten und spätestens nach dem 14.<br />
Lebenstag mit einer Blutuntersuchung und Bilirubin-<br />
Bestimmung abklären lassen sollte. Manche Neugeborenen<br />
haben auch sehr hellen, kalkfarbenen oder entfärbten<br />
Stuhlgang, bei dem man die Blutuntersuchung<br />
sofort durchführen sollte. Durch diese konsequente<br />
Untersuchung kann die Diagnose eines Alagille-Syndroms<br />
oder anderer Gelbsuchterkrankungen der Leber<br />
möglichst früh gestellt werden. Eine späte Diagnose<br />
birgt größere Belastungen für das Kind und die Familie,<br />
wie starken Juckreiz und Schlafprobleme. Hemmung<br />
des Wachstums und eine Entwicklungsstagnation können<br />
auftreten. Durch einen möglichen Mangel der fettlöslichen<br />
Vitamine besteht auch das Risiko für z. B. eine<br />
Vitamin K Mangel-bedingte Hirnblutung.<br />
FOTO: LMU<br />
KLINIKUM MÜNCHEN<br />
Welche Behandlungsoptionen<br />
gibt es derzeit?<br />
Die Therapie beginnt mit der<br />
Verabreichung von fettlöslichen<br />
Vitaminen, um einen Mangel an den Vitaminen A, D, E<br />
und K zu verhindern. Zusätzlich versucht man durch die<br />
Gabe einer künstlich hergestellten Gallensäure, die Löslichkeit<br />
der Gallenflüssigkeit und damit Abfluss dieser aus<br />
der Leber zu optimieren. Die körperliche Entwicklung des<br />
Kindes wird engmaschig kontrolliert und die Ernährung<br />
ggf. angepasst und auf eine ausreichende Kalorienzufuhr<br />
geachtet. Teilweise kratzen sich Kinder mit Alagille-Syndrom<br />
täglich blutig und können nachts nicht schlafen.<br />
Ein neues Medikament ist seit letztem Jahr verfügbar<br />
und für die Behandlung dieses Juckreizes zugelassen.<br />
Dieses Medikament blockiert die Aufnahme der Gallensäuren<br />
im Dünndarm, sodass diese im Blut gesenkt<br />
werden und sich der Juckreiz mindert. Eventuell wird sogar<br />
die Leber entlastet und das Überleben mit der eigenen<br />
Leber verbessert. Eine frühe Diagnose und damit früher<br />
Beginn aller verfügbaren Therapieoptionen ist somit sehr<br />
wichtig für betroffene Kinder, um schwere Komplikationen<br />
zu vermeiden und ihnen eine altersentsprechende Entwicklung<br />
mit maximaler Lebensqualität zu ermöglichen.