Insights Qurterly - Issue N° 7
Issue N° 7
Issue N° 7
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HAUSPOST<br />
ESCHICHTEN<br />
Franz Kafka, Ernest Hemingway, Erich<br />
Kästner, Rainer Maria Rilke … auch für<br />
Dichter und Denker ist der Bayerische Hof<br />
seit jeher Inspiration, Begegnungsstätte<br />
und Rückzugsort<br />
VON PHILIP REICHARDT<br />
LITERARISCHES SEXTETT<br />
v.l.n.r. Erich Kästner, Franz Kafka,<br />
Sigi Sommer, Ken Follett,<br />
J.K. Rowling, Albert Ostermaier<br />
aus<br />
dem<br />
otel<br />
FOTOS BAYERISCHER HOF<br />
F<br />
FRANZ<br />
Für Schriftsteller gibt es kaum einen reizvolleren Ort als ein Hotel. Die Annehmlichkeiten,<br />
natürlich, das schon auch, vor allem aber, weil es keinen besseren Ort gibt,<br />
der so viele unterschiedliche Charaktere aus aller Welt anzieht, und ein überschaubares,<br />
nie endendes Schauspiel bietet an Auftritten, Begegnungen und Abgängen,<br />
für das es nicht mehr braucht, bedarf als einen scharfen Blick und Muße zum Verweilen.<br />
Ein Ort, an dem die große Bühne und die Räume für Rückzug und Stille nur<br />
ein paar Schritte oder Etagen entfernt liegen, der Intimität wie Anonymität zugleich<br />
verspricht und dabei voller Rätsel steckt, also besten Stoff liefert für große Erzählungen,<br />
Dramen und Komödien. Nur logisch also, dass Schriftsteller wie Vladimir Nabokov<br />
oder Joseph Roth lange Zeit im Hotel lebten, oder, wie Thomas Mann, Marcel<br />
Proust und Friedrich Dürrenmatt, ihre Werke in großen Hotels spielen ließen. Das<br />
Hotel, schrieb der Dramatiker Albert Ostermaier in einer Ode an den Bayerischen<br />
Hof, ist „ein begehbarer Roman“. Schöner kann man es nicht sagen.<br />
Ob Schriftsteller, Denker und Autoren für eine Lesung, ein Interview oder ein<br />
Treffen mit ihrem Verleger anreisen, in München sind Verlage wie Hanser, Piper,<br />
Droemer Knaur, dtv, Random House zu Hause, das Literaturhaus liegt nur ein paar<br />
Schritte vom Bayerischen Hof entfernt, oder aus privaten Gründen ein paar Tage<br />
am Promenadeplatz verbringen, Ruhe zum Schreiben oder Anregung suchen, so<br />
genau lassen sich die Motive ihrer Aufenthalte nicht benennen und in dem meisten<br />
Fällen auch nicht trennen. Die Liste der Schriftsteller, die im Gästebuch eine<br />
Widmung hinter lassen haben, ist jedenfalls lang, darunter Martin Walser, Ernest<br />
Hemingway, Isabelle Allende, Johannes Mario Simmel, Paulo Coelho, Amelie<br />
Nothomb, Ferndinand von Schirach, John Grisham, Siri Hustvedt, J.K. Rowling,<br />
Ken Follet, Martin Suter, John Irving, T.C. Boyle …<br />
Auch Franz Kafka, an dessen 100. Todestag dieses Jahr mit Ausstellungen, Büchern<br />
und einer TV-Serie erinnert wird, verbrachte zwei Nächte am Promenadeplatz.<br />
Seine Reise nach München 1916, ging in die Literaturgeschichte ein. Kafka folgte<br />
einer Einladung des Kunsthändlers Hans Goltz in den Räumen seiner Galerie Neue<br />
Kunst in der Briennerstraße zu lesen. Mitten im Krieg von Prag nach München zu<br />
reisen war umständlich, etliche Genehmigungen waren nötig, mehrmals musste<br />
der Termin verschoben werden. Kafka nahm es in Kauf, vor allem wohl, weil sich<br />
so die Möglichkeit bot, seine Verlobte Felice Bauer zu sehen. Vier Jahre zuvor hatte<br />
er die Stenotypistin über seinen Freund Max Brod kennengelernt. Wie sie ihr Treffen<br />
planten, geht aus Briefen Kafkas hervor, sie erschienen drei Jahrzehnte nach<br />
seinem Tod unter dem Titel Briefe an Felice. Über Wochen schrieben sie einander,<br />
um ihr Treffen minutiös vorzubereiten. „Vorläufig freue ich mich in der Hoffnung,<br />
dich bald zu sehen. Unsere Züge vereinigen sich etwa bei Wiesau, also etwa zwischen<br />
ein und zwei Uhr mittags. Ein großer Zeitgewinn, wenn ich dich schon im<br />
Zug treffe. Natürlich wohne ich im Bayerischen Hof“, schrieb er. Auch Felice Bauer<br />
nahm dort ein Zimmer, getrennt von ihrem Verlobten. Um halb sieben kam der<br />
Zug in München an, um acht begann die Lesung. Sie geriet zum Fiasko. Kafka war<br />
damals nur Eingeweihten bekannt, zur Lesung kamen rund 50 Zuhörer. Kafka las<br />
aus der noch unveröffentlichten Erzählung „Die Strafkolonie“, in der er die Folter<br />
eines Verurteilten schildert. Der Beifall hielt sich in Grenzen, die Zeitungen<br />
druckten ausschließlich Verrisse, und auch von Felice Bauer erfuhr Kafka wenig<br />
Zuspruch. Einen Tag verbrachten beide noch gemeinsam in München, am Tag darauf<br />
fuhren sie wieder ab, er nach Prag, sie nach Berlin. Kafka las bis zu seinem<br />
Tod 1924 nie wieder öffentlich aus seinen Texten. Historisch interessant ist Kafkas<br />
Münchner Lesung noch aus einem anderen Grund. Unter den Zuhörern soll auch<br />
Rainer Maria Rilke gewesen sein, es wäre die einzige Begegnung Kafkas mit dem<br />
Lyriker. Literaturwissenschaftler rätseln bis heute, ob die beiden ein paar Worte<br />
miteinander gewechselt haben.<br />
MÜCHNER LEGENDE Der Schriftsteller und Journalist Siegfried „Sigi“<br />
Sommer feierte und berichtete oft in und aus dem Bayerischen Hof<br />
KAFKA, ERNEST HEMINGWAY, ERICH KÄSTNER, RAINER<br />
MARIA RILKE ... THE BAYERISCHER HOF HAS ALWAYS BEEN AN<br />
INSPIRATION, MEETING PLACE AND RETREAT FOR POETS AND<br />
THINKERS TOO<br />
There is hardly a more appealing place for writers than a hotel. The amenities, of course,<br />
that too, but above all because there is no better place that attracts so many different<br />
characters from all over the world and offers a manageable, never-ending spectacle of<br />
appearances, encounters and departures that requires nothing more than a keen eye<br />
and the muse to linger. A place where the big stage and the rooms for retreat and silence<br />
are only a few steps or floors away, which promises both intimacy and anonymity and<br />
is full of mysteries, providing the best material for great stories, dramas and comedies. It<br />
is therefore only logical that writers such as Vladimir Nabokov and Joseph Roth lived in<br />
hotels for a long time or, like Thomas Mann, Marcel Proust and Friedrich Dürrenmatt,<br />
set their works in large hotels. The hotel, wrote the playwright Albert Ostermaier in an<br />
ode to the Bayerischer Hof, is “a walk-in novel”. There is no better way to put it.<br />
Whether writers, thinkers and authors are travelling to Munich for a reading, an interview<br />
or a meeting with their publisher - Munich is home to publishers such as Hanser,<br />
Piper, Droemer Knaur, dtv, Random House, and the Literaturhaus is just a few steps<br />
away from the Bayerischer Hof - or are spending a few days at Promenadeplatz for private<br />
reasons, seeking peace and quiet to write or inspiration, the motives for their stays<br />
cannot be precisely named and in most cases cannot be separated. In any case, the list<br />
of writers who have left a dedication in the guest book is long, including Martin Walser,<br />
Ernest Hemingway, Isabelle Allende, Johannes Mario Simmel, Paulo Coelho, Amelie<br />
Nothomb, Ferndinand von Schirach, John Grisham, Siri Hustvedt, J.K. Rowling, Ken<br />
Follet, Martin Suter, John Irving, T.C. Boyle ...<br />
Franz Kafka, whose 100th anniversary of death is being commemorated this year with<br />
exhibitions, books and a TV series, also spent two nights at Promenadeplatz. His trip to<br />
Munich in 1916 went down in literary history. Kafka accepted an invitation from the<br />
art dealer Hans Goltz to read in the rooms of his Galerie Neue Kunst in Briennerstraße.<br />
Travelling from Prague to Munich in the middle of the war was complicated, a number<br />
of permits were required and the date had to be postponed several times. Kafka put up<br />
with it, mainly because it gave him the opportunity to see his fiancée Felice Bauer. He<br />
had met the shorthand typist four years earlier through his friend Max Brod. How they<br />
planned their meeting is revealed in Kafka’s letters, which were published three decades<br />
after his death under the title Letters to Felice. They wrote to each other for weeks to<br />
meticulously prepare for their meeting. “For the time being, I am looking forward to<br />
seeing you soon. Our trains meet at Wiesau, which is between one and two o’clock in the<br />
afternoon. It will save me a lot of time if I meet you on the train. Of course I’m staying at<br />
the Bayerischer Hof,” he wrote. Felice Bauer also took a room there, separately from her<br />
fiancé. The train arrived in Munich at half past six, and the reading began at eight. It<br />
turned into a fiasco. Kafka was only known to insiders at the time, and around 50 people<br />
attended the reading. Kafka read from the as yet unpublished story “The Penal Colony”,<br />
in which he describes the torture of a convict. The applause was limited, the newspapers<br />
printed nothing but criticism, and Kafka also received little encouragement from Felice<br />
Bauer. The two spent one more day together in Munich, but the next day they left again,<br />
he to Prague and she to Berlin. Kafka never read from his texts in public again until his<br />
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