Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz - Unicef
Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz - Unicef
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Die weibliche <strong>Genitalverstümmelung</strong><br />
im schweizerischen Strafrecht<br />
präzise Kenntnis des Vorgangs und se<strong>in</strong>er Folgen voraussetzt. 100<br />
Wir müssen dabei zwischen <strong>der</strong> E<strong>in</strong>willigung durch die verletzte<br />
Frau und <strong>der</strong> E<strong>in</strong>willigung von Eltern für ihre Tochter<br />
unterscheiden.<br />
i) Die E<strong>in</strong>willigung <strong>der</strong> Betroffenen<br />
Geht es um die E<strong>in</strong>willigung <strong>der</strong> Betroffenen, muss zunächst<br />
vorausgesetzt werden, dass sie überhaupt urteilsfähig s<strong>in</strong>d. Wir<br />
unterstellen hier e<strong>in</strong>mal, dass dies <strong>der</strong> Fall sei. 101<br />
Als nächstes stellt sich die Frage, ob <strong>der</strong> Entscheid, e<strong>in</strong>e WGV<br />
zu dulden, e<strong>in</strong>er freien Willensbildung entstamme. 102 Dies<br />
muss <strong>in</strong> jedem Fall auf Grund <strong>der</strong> beson<strong>der</strong>en Umstände geprüft<br />
werden, wir können hier nur allgeme<strong>in</strong>e Überlegungen<br />
anstellen, die Plausibilität e<strong>in</strong>er positiven Antwort überprüfen.<br />
Zwei Aspekte geben Anlass zu sehr erheblichen Zweifeln. Zum<br />
e<strong>in</strong>en ist die Freiheit <strong>der</strong> Willensbildung suspekt. Es ist fraglich,<br />
ob e<strong>in</strong>e vernünftige Frau e<strong>in</strong>e Genitalverschneidung wirklich<br />
für sich will. Sie entscheidet sich dafür nur unter dem<br />
Druck gesellschaftlicher Umstände, <strong>der</strong> Tradition und <strong>der</strong><br />
Erwartungen ihrer sozialen Umwelt, dass sie die Tradition<br />
hochhalte. Erneut stossen wir auf den Kulturkonflikt. Für unsere<br />
Wertordnung, die das Individuum <strong>in</strong> den Mittelpunkt stellt,<br />
ist zwar ke<strong>in</strong>eswegs jedes Opfer für die Geme<strong>in</strong>schaft etwas<br />
Fremdes. Aber es wird doch nur dann e<strong>in</strong>fühlbar, wenn sich aus<br />
dem Opfer e<strong>in</strong> greifbarer Nutzen für die Geme<strong>in</strong>schaft ergibt,<br />
was etwa bei Organspenden Leben<strong>der</strong> für ihre Angehörigen zutrifft.<br />
Aber schon <strong>der</strong> Entscheid e<strong>in</strong>es Menschen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kloster<br />
e<strong>in</strong>zutreten und «<strong>der</strong> Welt zu entsagen» o<strong>der</strong> das Versprechen<br />
<strong>der</strong> Ehelosigkeit, das katholische Priester ablegen, lassen sich<br />
nicht mit den Mitteln des Rechts durchsetzen. Es fällt deshalb<br />
schwer, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>willigung <strong>in</strong> <strong>Genitalverstümmelung</strong> als Ergebnis<br />
e<strong>in</strong>er freien Willensbildung anzuerkennen.<br />
Zum an<strong>der</strong>en dürfte es <strong>in</strong> aller Regel an e<strong>in</strong>er genügenden<br />
Aufklärung und an <strong>der</strong> Fähigkeit mangeln, die Tragweite e<strong>in</strong>er<br />
solchen Entscheidung zu erfassen. 103 Diese Voraussetzungen<br />
wären höchstens dann erfüllt, wenn e<strong>in</strong>e erwachsene und<br />
e<strong>in</strong>igermassen lebens- und sexualerfahrene Frau den E<strong>in</strong>griff<br />
durch e<strong>in</strong>e gynäkologische Fachperson unter e<strong>in</strong>wandfreien<br />
mediz<strong>in</strong>technischen Bed<strong>in</strong>gungen durchführen lässt. Die bekannten<br />
Schil<strong>der</strong>ungen des Vorgehens im afrikanischen Busch<br />
erwähnen regelmässig, dass die Opfer vorher nicht nur nicht<br />
angemessen aufgeklärt, son<strong>der</strong>n vielmehr bewusst getäuscht<br />
werden, <strong>in</strong>dem man ihnen vorspiegelt, sie würden ke<strong>in</strong>e o<strong>der</strong><br />
nur unbedeutende Schmerzen erleiden. Die möglichen<br />
«Nebenwirkungen» kommen nicht zur Sprache. Vom Verlust<br />
<strong>der</strong> sexuellen Empf<strong>in</strong>dungsfähigkeit kann sich eigentlich ke<strong>in</strong><br />
Bild machen, wem die entsprechende Erfahrung fehlt. 104<br />
Diese Überlegungen zeigen, dass <strong>in</strong> den meisten Fällen e<strong>in</strong>e<br />
wirksame E<strong>in</strong>willigung ohnedies nicht vorliegen kann.<br />
ii) Stellvertretende E<strong>in</strong>willigung durch die Eltern<br />
Im typischen Fall ist es nun aber gar nicht e<strong>in</strong>e urteilsfähige<br />
Frau, die <strong>in</strong> Genitalverschneidung «e<strong>in</strong>willigt», son<strong>der</strong>n es s<strong>in</strong>d<br />
die Eltern, die e<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>willigung stellvertretend für ihre<br />
Mädchen abgeben.<br />
Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, dass <strong>der</strong> gesetzliche<br />
Vertreter, namentlich Vater und /o<strong>der</strong> Mutter wirksam, das<br />
heisst rechtfertigend, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verletzung <strong>der</strong> körperlichen Integrität<br />
e<strong>in</strong>es urteilsunfähigen K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>willigen. 105 Sobald das<br />
K<strong>in</strong>d urteilsfähig ist, können nicht mehr die Eltern, son<strong>der</strong>n nur<br />
noch dieses selber wirksam <strong>in</strong> die Verletzung höchstpersönlicher<br />
Rechtsgüter wie <strong>der</strong> körperlichen Integrität e<strong>in</strong>willigen.<br />
106 Aus diesem Grund ist e<strong>in</strong>e stellvertretende E<strong>in</strong>willigung<br />
<strong>der</strong> Eltern <strong>in</strong> das Verschneiden e<strong>in</strong>es urteilsfähigen Mädchens<br />
von vornhere<strong>in</strong> unbeachtlich.<br />
Gemäss Art. 16 ZGB ist urteilsfähig «je<strong>der</strong>, dem nicht wegen<br />
se<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>desalters o<strong>der</strong> <strong>in</strong>folge von Geisteskrankheit, Geistesschwäche,<br />
Trunkenheit o<strong>der</strong> ähnlichen Zuständen die Fähigkeit<br />
mangelt, vernunftgemäss zu handeln». Der Begriff ist relativ,<br />
es muss jeweils gefragt werden, ob diese Voraussetzung h<strong>in</strong>sichtlich<br />
e<strong>in</strong>es bestimmten Sachverhalts gegeben sei. 107 Wir<br />
haben festgestellt, dass an die Fähigkeit, die volle Tragweite<br />
<strong>der</strong> WGV zu erfassen, hohe Anfor<strong>der</strong>ungen gestellt werden<br />
müssen, damit e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>willigung überhaupt als verb<strong>in</strong>dliche<br />
Willenserklärung angesehen werden kann. Unseres Erachtens<br />
dürfte dies frühestens im Alter von 12 bis 16 Jahren <strong>der</strong> Fall<br />
se<strong>in</strong> 108 – grosse Zweifel bleiben noch weit über diese Altersgrenze<br />
bestehen, die Frage kann nur im H<strong>in</strong>blick auf e<strong>in</strong>en<br />
konkreten Fall beantwortet werden.<br />
Diese Erwägungen führen zu <strong>der</strong> Feststellung, dass die meisten<br />
Mädchen zum Zeitpunkt, <strong>in</strong> dem sie verschnitten werden sollen,<br />
noch nicht e<strong>in</strong>willigungsfähig s<strong>in</strong>d. Dies bedeutet nun freilich<br />
ke<strong>in</strong>eswegs, dass die Eltern stellvertretend e<strong>in</strong>e gültige E<strong>in</strong>willigung<br />
abgeben könnten (ganz abgesehen davon, dass, wie oben<br />
festgestellt wurde, das Rechtsgut nach unserer Überzeugung<br />
ohneh<strong>in</strong> nicht verzichtbar ist).<br />
Nach e<strong>in</strong>helliger Auffassung dürfen die gesetzlichen Vertreter<br />
ihre Befugnis nämlich nur im Rahmen ihrer Obhutspflicht (Art.<br />
301 ff. ZGB) ausüben. Die Eltern dürfen sich e<strong>in</strong>zig am Wohl<br />
des K<strong>in</strong>des orientieren. 109 Massgebend ist, ob <strong>der</strong>en körperliche,<br />
geistige und sittliche Entfaltung optimal geschützt und<br />
geför<strong>der</strong>t wird (Art. 302 Abs. 2 ZGB). 110 Diese Regelung lässt<br />
ke<strong>in</strong>en Raum für e<strong>in</strong> Handeln zur Durchsetzung subjektiver<br />
Präferenzen <strong>der</strong> Eltern o<strong>der</strong> für die Befolgung kulturell o<strong>der</strong><br />
ethnisch fundierter Wertvorstellungen. 111 Wir er<strong>in</strong>nern daran,<br />
dass gemäss Art. 11 Abs. 1 BV «K<strong>in</strong><strong>der</strong> und Jugendliche ... Anspruch<br />
auf beson<strong>der</strong>en Schutz ihrer Unversehrtheit» haben. 112<br />
Die Eltern s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie befugt, <strong>in</strong> mediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>dizierte<br />
E<strong>in</strong>griffe bei ihrem K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>zuwilligen. 113 Ob darüber h<strong>in</strong>aus<br />
auch e<strong>in</strong>e Vertretungsbefugnis besteht, wenn Bee<strong>in</strong>trächtigungen<br />
<strong>der</strong> körperlichen Unversehrtheit nicht mit e<strong>in</strong>em bleibenden<br />
Schaden verbunden s<strong>in</strong>d, kann vorliegend offen bleiben. 114<br />
Akzeptiert s<strong>in</strong>d offensichtlich die Beschneidung männlicher<br />
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