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Weibliche Genitalverstümmelung in der Schweiz - Unicef

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Die weibliche <strong>Genitalverstümmelung</strong><br />

im schweizerischen Strafrecht<br />

zumutbar gewesen se<strong>in</strong>, sich rechtmässig zu verhalten (Problem<br />

<strong>der</strong> Unzumutbarkeit normgemässen Verhaltens).<br />

Der Verbotsirrtum ist <strong>in</strong> Art. 20 StGB geregelt. Nach schweizerischem<br />

Recht handelt es sich um e<strong>in</strong>en Schuldausschliessungsgrund.<br />

Wenn <strong>der</strong> Irrtum auf zureichenden Gründen beruht,<br />

ist e<strong>in</strong>e Bestrafung des Täters ausgeschlossen; es hat e<strong>in</strong><br />

Freispruch o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e Verfahrense<strong>in</strong>stellung zu erfolgen. War<br />

<strong>der</strong> Verbotsirrtum vermeidbar, kommt e<strong>in</strong>e Strafmil<strong>der</strong>ung <strong>in</strong><br />

Frage. 119<br />

Demgegenüber kennt das schweizerische Strafrecht ke<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en<br />

Schuldausschliessungsgrund <strong>der</strong> Unzumutbarkeit<br />

normgemässen Verhaltens. 120 Traditionelle Beschnei<strong>der</strong><strong>in</strong>nen<br />

o<strong>der</strong> zugewan<strong>der</strong>te Eltern können e<strong>in</strong>e Bestrafung daher von<br />

vornhere<strong>in</strong> nicht mit dem Argument abwenden, es sei ihnen<br />

aufgrund ihres ethnisch-kulturellen H<strong>in</strong>tergrunds nicht zumutbar<br />

gewesen, sich rechtskonform zu verhalten. Ihre abweichenden<br />

Wertvorstellungen s<strong>in</strong>d immerh<strong>in</strong> bei <strong>der</strong> Strafzumessung<br />

zu berücksichtigen. 121<br />

Nach Art. 20 StGB liegt e<strong>in</strong> Verbotsirrtum vor, wenn <strong>der</strong> Täter<br />

aus zureichenden Gründen angenommen hat, er sei zur Tat<br />

berechtigt. Art. 20 StGB erfasst sowohl die Situation, dass e<strong>in</strong><br />

Täter e<strong>in</strong> Verhalten per se für unverboten hält (direkter Verbotsirrtum),<br />

als auch den Fall, dass er sich zwar bewusst ist,<br />

gegen e<strong>in</strong>e Verbotsnorm zu verstossen, jedoch irrigerweise<br />

annimmt, se<strong>in</strong> Verhalten sei durch e<strong>in</strong>en Rechtfertigungsgrund<br />

gedeckt (<strong>in</strong>direkter Verbotsirrtum).<br />

Das Bundesgericht ist <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Praxis zum Verbotsirrtum seit<br />

jeher streng. Vorausgesetzt wird zum e<strong>in</strong>en fehlendes Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>.<br />

Der Täter muss <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorstellung handeln,<br />

«er tue überhaupt nichts Unrechtes». Hat er e<strong>in</strong> «unbestimmtes<br />

Empf<strong>in</strong>den, dass das <strong>in</strong> Aussicht genommene Verhalten gegen<br />

das verstösst, was recht ist» 122 , fällt e<strong>in</strong> Verbotsirrtum ausser<br />

Betracht. In Anlehnung an den Gesetzeswortlaut lässt das<br />

Bundesgericht ferner nur den unvermeidbaren Verbotsirrtum<br />

als Entschuldigung genügen. Dem Täter kann nur dann ke<strong>in</strong><br />

Vorwurf gemacht werden, wenn <strong>der</strong> Irrtum auf Tatsachen<br />

beruht, «durch die sich auch e<strong>in</strong> gewissenhafter Mensch hätte<br />

<strong>in</strong> die Irre führen lassen». 123 Das Gesetz verlangt von ihm «e<strong>in</strong>e<br />

Gewissensanspannung, e<strong>in</strong>e gewissenhafte Überlegung o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />

Erkundigen bei Behörden o<strong>der</strong> vertrauenswürdigen Personen». 124<br />

Auf solche Überlegungen darf immerh<strong>in</strong> ausnahmsweise verzichtet<br />

werden, wenn für den Täter ke<strong>in</strong>erlei Anlass bestand,<br />

die Rechtmässigkeit se<strong>in</strong>es Verhaltens zu h<strong>in</strong>terfragen. 125<br />

In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> approbierten Ärzt<strong>in</strong>nen und Ärzten ist die Berufung<br />

auf diesen Schuldausschliessungsgrund im Zusammenhang<br />

mit Genitalverschneidungen zweifellos verwehrt. Es ist<br />

ihnen ohne weiteres bewusst, dass schwer wiegende E<strong>in</strong>griffe<br />

unabhängig vom E<strong>in</strong>verständnis <strong>der</strong> Patient<strong>in</strong> nur vorgenommen<br />

werden dürfen, wenn sie mediz<strong>in</strong>isch <strong>in</strong>diziert s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>em positiven Zweck dienen. Demgegenüber muss die<br />

Rechtslage bei traditionellen Beschnei<strong>der</strong><strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> zugewan<strong>der</strong>ten<br />

Eltern e<strong>in</strong>gehen<strong>der</strong> untersucht werden. Auch ihnen muss<br />

klar se<strong>in</strong>, dass schwer wiegende E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die körperliche<br />

Integrität e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Menschen e<strong>in</strong>en Rechtsverstoss darstellen.<br />

Sie könnten aber allenfalls vorbr<strong>in</strong>gen, sie hätten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

irrigen Annahme gehandelt, Genitalverschneidungen seien von<br />

diesem Verbot ausgenommen (<strong>in</strong>direkter Verbotsirrtum). Unter<br />

welchen Voraussetzungen wird das Gericht e<strong>in</strong>en solchen<br />

E<strong>in</strong>wand akzeptieren? Die Frage lässt sich wie<strong>der</strong>um nur<br />

bei Kenntnis des E<strong>in</strong>zelfalls abschliessend beantworten. Im<br />

Folgenden wird lediglich erwogen, ob und <strong>in</strong> welchen Sachverhaltskonstellationen<br />

<strong>der</strong> Berufung auf Verbotsirrtum Erfolg<br />

beschieden se<strong>in</strong> und es mit dieser Begründung zu e<strong>in</strong>em Freispruch<br />

kommen könnte.<br />

Bei ausländischen Straftätern steht die Frage des fehlenden<br />

Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>s im Zentrum. Ob e<strong>in</strong>em Täter bewusst<br />

war, dass er Unrecht begeht, ist nämlich «an den rechtlichen<br />

Wertvorstellungen zu messen ..., die vom durchschnittlichen<br />

Bürger <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft getragen werden, <strong>der</strong> er angehört». 126<br />

Während bei <strong>der</strong> Beurteilung, ob rechtswirksam <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verschneidung<br />

e<strong>in</strong>gewilligt werden kann, e<strong>in</strong>zig auf die schweizerische<br />

Werteordnung abzustellen war 127 , hat <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />

mit dem Institut des Verbotsirrtums also bewusst Raum geschaffen<br />

für die Berücksichtigung frem<strong>der</strong> Rechts- und Wertvorstellungen.<br />

128 Das Unrechtsbewusstse<strong>in</strong> wird allerd<strong>in</strong>gs an<br />

den im Herkunftsland geltenden rechtlichen Wertvorstellungen<br />

gemessen, nicht an sittlichen Auffassungen, die <strong>in</strong> Konflikt zu<br />

<strong>der</strong> dortigen Rechtsordnung stehen. Nur wenn e<strong>in</strong> Täter <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>em Heimatland nicht mit e<strong>in</strong>er Bestrafung rechnen musste,<br />

fehlt es ihm am Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>. 129<br />

Stammen Beschnei<strong>der</strong><strong>in</strong> o<strong>der</strong> Eltern aus e<strong>in</strong>em Land, das die<br />

WGV explizit unter Strafe gestellt hat 130 , wird man ihnen<br />

demnach kaum fehlende Verbotskenntnis attestieren. 131 Bei<br />

Personen aus ländlichen Gegenden ohne o<strong>der</strong> mit nur ger<strong>in</strong>ger<br />

Schulbildung, die gegebenenfalls nicht lesen können, kann<br />

immerh<strong>in</strong> ausnahmsweise trotzdem das Unrechtsbewusstse<strong>in</strong><br />

fehlen. Angesichts dessen, dass Tradition die Genitalverschneidung<br />

gebieterisch for<strong>der</strong>t 132 , kann ihnen jegliches Empf<strong>in</strong>den,<br />

etwas Unrechtes zu tun, abgehen, solange sie von <strong>der</strong><br />

Strafbestimmung ke<strong>in</strong>e positive Kenntnis haben.<br />

Unabhängig davon, ob die WGV im Heimatland des Täters<br />

verpönt ist, kommt die Annahme e<strong>in</strong>es Verbotsirrtums aus zureichenden<br />

Gründen höchstens <strong>in</strong> Frage für Personen, die sich<br />

erst seit kurzer Zeit <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> aufhalten. Je länger jemand<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> schweizerischen Gesellschaft lebt, desto eher wird angenommen,<br />

dass er auch mit dieser Rechtsordnung vertraut ist. 133<br />

Es muss jedoch <strong>in</strong> jedem e<strong>in</strong>zelnen Fall geprüft werden, <strong>in</strong>wieweit<br />

jemand tatsächlich <strong>in</strong>tegriert ist. Beson<strong>der</strong>s Ehefrauen<br />

bewegen sich oft während längerer Zeit nur <strong>in</strong> ihrem angestammten<br />

Kulturkreis und haben, nicht zuletzt aus sprachlichen<br />

Gründen, ke<strong>in</strong>erlei Beziehungen zur restlichen <strong>Schweiz</strong>er<br />

Bevölkerung. 134<br />

Schliesslich stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen<br />

erwartet werden kann, dass jemand nach e<strong>in</strong>er gewissen<br />

Aufenthaltsdauer über die schweizerischen Rechtsgepflogenheiten<br />

im Bild ist. E<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e Pflicht, sich zu <strong>in</strong>formieren,<br />

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