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Meine bevorzugten Autoren und Werke von A-Z Ohne X und Y Von ...

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Abenden verdanke ich mein Gefühl <strong>von</strong> der Unschuld, Auf jeden Fall habe ich gelernt, diese mit Kraft geladenen<br />

Erscheinungen nicht mehr <strong>von</strong> dem Himmel zu trennen, vor dem ihre Begierden kreisen. In den Vorstadtkinos <strong>von</strong> Algier gibt<br />

es manchmal Pfefferminzpastillen zu kaufen, deren roter Aufdruck alles enthält, was zur Erweckung der Liebe notwendig ist,<br />

nicht nur die Fragen — „Wann werden Sie mich heiraten?”, „Lieben Sie mich?”,<br />

sondern auch die Antworten — „Wie toll”; „Im Frühling”. Nachdem man das Terrain sondiert hat, reicht man sie seiner<br />

Nachbarin, die in gleicher Weise antwortet oder sich darauf beschränkt, sich dumm zu stellen. In Belcourt hat man<br />

schon erlebt, dass Ehen, auf diesem Wege geschlossen wurden, dass ein ganzes Leben der Gemeinschaft auf dem<br />

Austausch <strong>von</strong> Pfefferminzbonbons aufgebaut wurde. Das veranschaulicht gut, wie kindlich hier das Volk ist. Für die Jugend<br />

ist vielleicht nichts so bezeichnend wie die großartige innere Befähigung, sich den leichten Freuden hinzugeben. Vor allem<br />

aber stürzt man sich hier so ungestüm ins Leben, dass es fast an Verschwendung grenzt. In Belcourt wie in Bab-el-<br />

Oued heiratet man jung. Man beginnt sehr früh zu arbeiten <strong>und</strong> hat mit zehn Jahren<br />

die Erfahrung eines ganzen Menschenlebens ausgeschöpft. Ein Arbeiter <strong>von</strong> dreißig Jahren hat seine Trümpfe schon alle<br />

ausgespielt. Er erwartet im Kreise <strong>von</strong> Frau <strong>und</strong> Kind sein Ende. Seine Freuden sind jäh <strong>und</strong> erbarmungslos gewesen.<br />

Ebenso sein Leben. Und man begreift dann, dass er hier geboren sein musste, wo einem alles gegeben wird, um wieder<br />

genommen zu werden. In diesem überwältigenden Überfluss verläuft das Leben wie die großen Leidenschaften — schnell,<br />

fordernd, großzügig. Es ist nicht dazu da, aufgebaut zu werden, sondern herunterzubrennen. Es handelt sich nicht darum,<br />

nachzudenken <strong>und</strong> ein besserer Mensch zu werden. Der Begriff der Hölle ist hier zum Beispiel nur ein fre<strong>und</strong>licher Scherz.<br />

Solche Vorstellungen dürfen hier nur die ganz Tugendhaften haben. Und ich glaube, Tugend ist in ganz Algerien ein<br />

bedeutungsleeres Wort. Nicht dass es diesen Menschen an Prinzipien fehlte. Man hat hier seine Moral, <strong>und</strong> zwar eine sehr<br />

ausgeprägte. Der Mann verlangt, dass seine Frau auf der Straße geachtet wird. Man nimmt Rücksicht auf eine schwangere<br />

Frau. Man fällt nicht zu zweien über einen Gegner her, das „sieht hässlich aus”. Wenn jemand diese Elementarregeln nicht<br />

befolgt, „ist er kein Mann”, damit ist der Fall erledigt. Das erscheint mir gerecht <strong>und</strong> stark. Viele <strong>von</strong> uns folgen noch<br />

unbewusst diesem Gesetz der Straße, dem einzigen ganz selbstlosen, das mir bekannt ist. Andererseits aber ist die Moral<br />

der Krämerseelen hier unbekannt. Ich habe immer festgestellt, dass die Gesichter um mich hierum einen mitleidigen Ausdruck<br />

annahmen, wenn ein Mann am Arme eines Polizisten vorbeikam. Und noch ehe man wusste, ob der Mann gestohlen,<br />

seinen Vater ermordet oder einfach aufsässig gewesen war, konnte man hören: „Der Arme!” — oder auch mit einem<br />

Unterton der Bew<strong>und</strong>erung: „Sieh mal, ein Seeräuber!” Es gibt Völker, die für den Hochmut <strong>und</strong> das Leben geboren sind.<br />

Es sind die gleichen, die eine sonderbare Befähigung für die Langeweile heranbilden. Ihnen ist auch das Gefühl des Todes<br />

am abstoßendsten. Abgesehen <strong>von</strong> den Sinnenfreuden sind die Vergnügungen dieses Volkes recht dürftig. Ein Verein<br />

begeisterter Boccia-Spieler <strong>und</strong> die kleinen Festmähler der „Sparvereine”, das Kino für drei Francs <strong>und</strong> die Volksfeste der<br />

Gemeinde genügen seit Jahren zur Unterhaltung der über Dreißigjährigen. Die Sonntage <strong>von</strong> Algier gehören zu den<br />

düstersten der Welt. Wie sollte dieses erfindungsarme Volk den tiefen Schrecken seines Lebens mit Mythen ausschmücken?<br />

Alles, was mit dem Tode zu tun hat, ist hier lächerlich oder verhasst. In diesem Volk ohne Religion <strong>und</strong> ohne Götter stirbt<br />

man nach einem Leben inmitten der Menge für sich allein. Ich kenne keinen hässlicheren Ort als den Kirchhof am<br />

Boulevard Bru, gegenüber einer der schönsten Landschaften der Welt. Die Aufhäufung <strong>von</strong> schlechtem Geschmack<br />

zwischen den schwarzen Grabeinfassungen lässt hier, wo der Tod sein wahres Gesicht enthüllt, eine schreckliche Traurigkeit<br />

aufsteigen. „Alles ist vergänglich“, sagen die herzförmigen Votivbilder, „außer der Erinnerung.“ Und alle betonen sie die<br />

fadenscheinige Ewigkeit, die uns für wenig Geld das Herz derer schenkt, die uns geliebt haben. Es sind dieselben Phrasen,<br />

die für jede Form der Verzweiflung herhalten müssen. Sie wenden sich an den Toten <strong>und</strong> sprechen ihn in der zweiten<br />

Person an „Wir werden Dich nie vergessen!“ — ein unseliger Betrug, mit dem man der schwarzen Flüssigkeit, die besten<br />

falls noch übrig ist, einen Körper <strong>und</strong> Wünsche verleiht. An anderer Stelle, inmitten der erstickenden Fülle <strong>von</strong> marmornen<br />

Blumen <strong>und</strong> Vögeln, erschrickt uns das verwegene Gelübde: „Niemals wird dein Grab ohne Blumen sein”. Aber wir sind<br />

schnell beruhigt; die Inschrift umrahmt einen Blumenstrauß aus vergoldetem Stuck, angesichts der knappen Zeit der Lebenden<br />

eine sehr praktische Lösung (ebenso wie die Immortellen, die ihren protzigen Namen denen verdanken, die noch munter<br />

hinter der Elektrischen herlaufen können). Da man mit seinem Jahrh<strong>und</strong>ert Schritt halten muss, wird die klassische<br />

Grasmücke manchmal durch ein höchst verwirrendes Flugzeug aus Perlen ersetzt, das ein einfältiger Engel steuert, den man<br />

unbekümmert um jede Logik mit einem Paar prächtiger Flügel ausgestattet hat. Wie soll man es jedoch verständlich machen,<br />

dass diese Bilder des Todes sich niemals ganz vom Leben trennen lassen? Die Werte liegen hier dicht beieinander. Die<br />

algerischen Leichenbestatter haben einen Lieblingsscherz: Wenn sie leer durch die Straßen fahren, rufen sie den hübschen<br />

Mädchen am Wege zu: „Willst du mitfahren, Schatz?” Nichts kann uns hindern, darin ein Symbol zu sehen, selbst wenn<br />

es lästig ist. Manchem wird es gotteslästerlich erscheinen, wenn man auf eine Todesanzeige mit einem Augenzwinkern<br />

reagiert; „Der Arme, er wird nun nie mehr singen”, oder wenn eine Frau aus Oran, die ihren Mann niemals geliebt hat,<br />

sagt: „Gott hat ihn mir gegeben, Gott hat ihn mir genommen.” Aber ich sehe auch nicht ein, warum der Tod heilig sein<br />

soll, ich erkenne im Gegenteil sehr wohl den Abstand zwischen bloßer Angst <strong>und</strong> Ehrfurcht. Alles atmet hier den Schrecken<br />

des Todes, obwohl das Land zum Leben herausfordert. Trotzdem aber geben sich die jungen Leute <strong>von</strong> Belcourt hinter<br />

den Friedhofsmauern ihr Stelldichein <strong>und</strong> verschenken dort die Mädchen ihre Küsse <strong>und</strong> Zärtlichkeiten. Ich begreife, dass ein<br />

solches Volk nicht <strong>von</strong> allen geschätzt werden kann. Hier haben die Intellektuellen nicht wie in Italien ihren Platz. Dieser<br />

Volksstamm ist gleichgültig gegenüber dem Geist. Er kultiviert <strong>und</strong> bew<strong>und</strong>ert den Körper. Aus ihm holt er seine Kraft,<br />

seinen naiven Zynismus <strong>und</strong> eine unschuldige Eitelkeit, derentwegen man ihn streng verurteilt. Man wirft ihm gewöhnlich<br />

seine „Mentalität” vor, das heißt, seine bestimmte Art zu sehen <strong>und</strong> zu leben. Und es ist wahr, dass eine gewisse<br />

Intensität des Lebens nicht ohne Ungerechtigkeit denkbar ist. Wir haben hier jedoch ein Volk vor uns ohne Vergangenheit,<br />

ohne Tradition <strong>und</strong> trotzdem nicht ohne Poesie — eine Poesie eigner Art, die ich gut kenne, sie ist rau, sinnlich, ohne

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