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Heinz Klippert weist Wege aus der Krise - GEW

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<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz<br />

Beilage zur E&W<br />

Schulgeist<br />

Heute im Angebot:<br />

Geflochtene<br />

Le<strong>der</strong>peitsche<br />

32<br />

„Hast du vielleicht mein T-Shirt gesehen?“, frage ich einen<br />

Kollegen in <strong>der</strong> Gymnastikhalle. Nach <strong>der</strong> wilden Tanzstunde<br />

mit meiner Klasse muss ich es irgendwo vergessen haben, als<br />

ich mit Gettoblaster, Sport- und Schultasche zurück ins<br />

Hauptgebäude gespurtet bin. Das T-Shirt muss ich unbedingt<br />

wie<strong>der</strong>haben, da ist ein Zirkusdompteur mit einem<br />

brennenden Reifen draufgestickt. Der Kollege schickt mich<br />

zum Materialschrank. Dort entdecke ich auf einer Liege einen<br />

Berg von bunten Sporthosen, T-Shirts, Fußballhemden<br />

und Turnschuhen. „Na, hast du was Passendes gefunden?“,<br />

grinst <strong>der</strong> Kollege. Ich hebe gerade ungläubig eine Tanga-<br />

Badeschnur für den frühreifen Knaben hoch. „Holt das keiner<br />

ab?“, frage ich, „da sind doch teure Sportschuhe dabei.“<br />

Nein, das holt keiner ab. Nur ganz selten kommt mal ein<br />

Schüler vorbei und sucht nach seinen Sachen. Das bestätigt<br />

mir auch <strong>der</strong> H<strong>aus</strong>meister, in dessen Kabuff Rucksäcke, Jakken,<br />

ein Fahrradsattel und ein Hamsterrad auf ihre Besitzer<br />

warten.<br />

Bürobedarf muss ich nicht privat anschaffen. In meinem<br />

Klassenraum finden sich jede Woche Bleistifte, Radiergummis,<br />

Anspitzer und Schreibblöcke. Das alles hebe ich im Pult<br />

auf und frage hin und wie<strong>der</strong>, ob jemand etwas vermisst<br />

o<strong>der</strong> brauchen kann. Ich habe eine Sammlung von Frühstücksdosen<br />

(mit und ohne Inhalt), Handschuhen und Schals.<br />

Dazu ein Badehandtuch, eine Mozart-Büste, eine Rasta-<br />

Locke mit Klettverschluss und ein Armband mit Totenkopfanhängern<br />

- falls Ihr Kind so was vermisst. Aber anscheinend<br />

kaufen viele Eltern klaglos neue Sachen, wenn die lieben<br />

Kleinen etwas „verloren“ haben. Unser Schulleiter hat<br />

auch ein nettes Sammelsurium in seinem Tresor. Unter an<strong>der</strong>em<br />

sind da zwei Ninja-Wurfsterne, ein Abwehrspray, eine<br />

polemische Kampfschrift und eine geflochtene Le<strong>der</strong>peitsche<br />

vereint. Sicher kommen eines Tages die jeweiligen Eltern und<br />

nehmen die konfiszierten Schätze ihrer Sprösslinge an sich.<br />

Nach eingehen<strong>der</strong> pädagogischer Beratung...<br />

An unserer Schule gibt es 1000 Schüler und 120 Lehrkräfte.<br />

Jede Klasse trifft sich zum gemeinsamen Unterricht nur in<br />

Musik, Kunst, in Gesellschaftskunde und Arbeitslehre. Alle<br />

übrigen Fächer werden in verschiedenen Leistungskursen unterrichtet.<br />

Dadurch wird <strong>der</strong> Klassenraum auch von an<strong>der</strong>en<br />

Gruppen mitbenutzt. Insofern lässt sich selten feststellen,<br />

<strong>GEW</strong> Rheinland-Pfalz<br />

Neubrunnenstraße 8 · 55116 Mainz<br />

Telefon: 06131 28988-0 · Fax 06131 28988- 80<br />

E-mail: gew@gew-rlp.de<br />

wer etwas vergessen hat. Man bekommt aber auch lei<strong>der</strong><br />

nicht her<strong>aus</strong>, wer „Fuck you“ in den Tisch geritzt, wer die<br />

Grünpflanze geköpft und wer an <strong>der</strong> Schranktür geschaukelt<br />

hat, bis die Scharniere brachen. Wenn ich am Freitag<br />

gemeinsam mit meiner Klasse Schluss habe, hebe ich erst<br />

einmal das Kleingeld auf, das auf dem Fußboden verstreut<br />

liegt. Meine Schüler grinsen: Wer bückt sich schon nach Cent-<br />

Münzen? Dann räumen wir hinter <strong>der</strong> Säule im Klassenraum<br />

auf. Dort haben sich Lisa und Gülcan eine kleine<br />

Schmuddelecke eingerichtet. Mit einem alten Radio und zwei<br />

<strong>aus</strong>rangierten Kissen. Ich drücke ihnen die Plastiktüten mit<br />

ihren Schulbüchern und den Cola-Pfandflaschen in die<br />

Hand. Sie sehen wenig begeistert <strong>aus</strong>, als sie das ganze Gepäck<br />

mitnehmen sollen. Eigentlich kommen sie immer nur<br />

mit einer zierlichen Handtasche zum Unterricht. Auch ihre<br />

Klassenkameraden, denen ich die müffelnden Sportbeutel<br />

umhänge, sind indigniert, dass sie so viel schleppen sollen.<br />

Sie hatten ihre Turnutensilien im oberen Schrank versteckt,<br />

wo ich nur mühsam mit einem Stuhl rankomme. „Sportzeug<br />

muss regelmäßig gewaschen werden!“, erkläre ich kategorisch.<br />

Ganz hinten in dem Schrank hat Julia zwei Klassenarbeiten<br />

deponiert. Warum soll sie ihren Eltern damit<br />

das Wochenende ver<strong>der</strong>ben? Marvins Saxophon, eine Leihgabe<br />

<strong>der</strong> Schule, entdecke ich unter dem Lehrerpult. „Wie<br />

willst du denn zu H<strong>aus</strong>e üben?“, lächle ich zuckersüß und<br />

überreiche ihm den Instrumentenkoffer. Lenny fegt den<br />

Raum noch frei von Chips, Sonnenblumenkernen und Krümeln.<br />

Als Svenja die Tafel trocken wischen will, traue ich<br />

meinen Augen nicht. „Gibst du wohl mein T-Shirt her?!“<br />

„Ich dachte, das ist ein Putzlappen!“, mault Svenja.<br />

Viele Schüler wünschen sich die Schließfächer zurück, die es<br />

vor <strong>der</strong> Asbestsanierung unserer Anstalt gab. Da konnte man<br />

blindlings alles reinstopfen, was schwer und lästig war. Zu<br />

vielen Stunden kamen die Schüler zu spät, weil sie in ihrem<br />

überquellenden Fach erst lange nach Heftern und Büchern<br />

suchen mussten. Manchmal erfolglos, weil sie ihre Sachen<br />

auf die Schnelle im Fach eines Freundes deponiert hatten,<br />

<strong>der</strong> dann lei<strong>der</strong>, lei<strong>der</strong> krank war. Bedauerlicherweise konnte<br />

man auch keine H<strong>aus</strong>aufgaben machen, wenn man die<br />

Bücher im Schließfach „vergessen“ hatte. Ausschlaggebend<br />

aber für die Abschaffung dieser Fächer war, dass ein paar<br />

räudige Mäuse in den Schulfluren Fangen spielten. Alle Schüler<br />

mussten danach ihre Schränke <strong>aus</strong>räumen, und was<br />

sich da an alten Bananen, Salamibroten und Joghurtbechern<br />

fand, war beeindruckend. Ein Kollege berichtete sogar<br />

von einem toten Hamster. Aber das mag ich nicht glauben.<br />

Letzten Freitag habe ich auf dem Fensterbrett hinter <strong>der</strong><br />

Säule einen MP3-Player entdeckt. Bevor ich über seine weitere<br />

Verwendung (im Unterricht!) nachdenken kann, reißt<br />

ihn mir Sascha Sekundenbruchteile später <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Hand.<br />

„Oh gut, dass Sie den gefunden haben!“ Ein Wochenende<br />

ohne Schulbücher? Cool! Ohne Musik? Unvorstellbar.<br />

Gabriele Frydrych<br />

<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 5 / 2006

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