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Heinz Klippert weist Wege aus der Krise - GEW

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Schulen<br />

Horrortrip Schule?<br />

<strong>Heinz</strong> <strong>Klippert</strong> <strong>weist</strong> in seinem neuen Buch <strong>Wege</strong> <strong>aus</strong> <strong>der</strong> <strong>Krise</strong><br />

- Von Dr. Paul Schwarz -<br />

„Ich muss eine Unmenge Erziehungsarbeit leisten, muss Stoff<br />

vermitteln, muss psychologisch tätig werden und, und, und ...<br />

Ich fühle mich grenzenlos <strong>aus</strong>gelastet, und immer noch<br />

kommt etwas dazu“ - „Lange Konferenzen, Projekte aller Art,<br />

eine überbordende Bürokratie und ein atemberauben<strong>der</strong> Aktionismus<br />

<strong>der</strong> Führungskräfte. Der Unterricht ist zur wichtigsten<br />

Nebensache in <strong>der</strong> Schule geworden“ - Stimmen von<br />

Lehrkräften <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Schulpraxis. Die Schule ist für viele Lehrerinnen<br />

und Lehrer zum Horrortrip geworden, viele sind<br />

überfor<strong>der</strong>t und <strong>aus</strong>gebrannt.<br />

4<br />

Wie Uwe Schaarschmidt, Psychologe an <strong>der</strong> Universität<br />

Potsdam, in seiner Belastungsstudie nach<strong>weist</strong>, haben 60<br />

Prozent <strong>der</strong> bundesdeutschen Lehrkräfte mit erheblichen<br />

emotionalen und gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.<br />

Knapp 30 Prozent <strong>der</strong> deutschen Schulpädagogen<br />

sind <strong>aus</strong>gebrannt, nur 17 Prozent kommen mit den Anfor<strong>der</strong>ungen<br />

des Berufs gut zurecht. „Der Anteil <strong>der</strong> vorzeitigen<br />

Dienstunfähigkeit an den jährlichen Ruhestandseintritten<br />

liegt in dieser Berufsgruppe seit Jahren zwischen<br />

50 und 60 Prozent“, bestätigt <strong>der</strong> Kölner Sozialmediziner<br />

Andreas Weber. Zwei Drittel ihrer Patienten,<br />

so eine Psychologin, seien mittlerweile Lehrerinnen und<br />

Lehrer.<br />

Beson<strong>der</strong>s die aktuellen Reformprozesse setzen <strong>der</strong> Lehrerschaft<br />

gewaltig zu. „Was mich stört“, sagt eine Lehrerin<br />

<strong>aus</strong> einer Hauptschule in Ludwigshafen, „sind die<br />

vielen offenen B<strong>aus</strong>tellen, die politischen Schnellschüsse<br />

nach PISA ohne rechtes Konzept und ohne konkrete<br />

Hilfe“. Unter dem Motto „Vom Input zum Output“ sollen<br />

höchst anspruchsvolle Bildungsstandards und Bildungspläne<br />

realisiert werden. „Vorne werden die Schaufenster<br />

ständig neu dekoriert, aber in den Hinterzimmern<br />

bleibt alles beim alten“, so Schulreformer <strong>Heinz</strong><br />

<strong>Klippert</strong> auf <strong>der</strong> Bildungsmesse in Hannover.<br />

Mit den Reformprozessen einher geht die Verän<strong>der</strong>ung<br />

<strong>der</strong> Lehrerrolle. Lehrkräfte sind längst nicht mehr nur<br />

Wissensvermittler und Erzieher im althergebrachten<br />

Sinn, son<strong>der</strong>n müssen immer häufiger auch als Sozialarbeiter<br />

und Familienhelfer, Animateur und Therapeut,<br />

Medienexperte und Lernorganisatoren, Lernmo<strong>der</strong>atoren<br />

und Lernberater tätig werden. Diese und an<strong>der</strong>e<br />

Vorgaben und Auflagen führen bei Teilen <strong>der</strong> Lehrerschaft<br />

lediglich zu handfesten Versagensängsten, nicht<br />

aber zur tatkräftigen Innovationstätigkeit, zumal die gängige<br />

Lehrer<strong>aus</strong>bildung auf dieses Rollenszenario überhaupt<br />

nicht vorbereitet.<br />

Ein Dauerbrenner in Sachen Lehrerbelastung sind die<br />

verschlechterten Arbeitsumstände in den Schulen. Seit<br />

Jahren gibt es gravierende Einschnitte durch die Bildungspolitik.<br />

Das beginnt bei <strong>der</strong> sukzessiven Verlängerung<br />

<strong>der</strong> Wochenarbeitszeit und reicht über die Anhebung <strong>der</strong><br />

Klassenmesszahlen bis hin zu finanziellen Kürzungen im<br />

privaten wie im schulischen Bereich. Wie <strong>der</strong> Bildungsbericht<br />

des Jahres 2003 bestätigt, liegt die durchschnittliche<br />

wöchentliche Arbeitszeit von Lehrern deutlich über<br />

<strong>der</strong> vieler an<strong>der</strong>en Berufsgruppen. Berücksichtigt man<br />

die vergleichsweise langen Ferienzeiten, bleiben immer<br />

noch Arbeitszeitwerte, die um o<strong>der</strong> über 40 Stunden pro<br />

Woche liegen.<br />

Eine zentrale Bürde <strong>der</strong> Lehrerschaft sind die großen<br />

Klassen. Während die faktische Klassenstärke in Finnland<br />

und in den erfolgreichen PISA - Län<strong>der</strong>n nie selten<br />

über 24 hin<strong>aus</strong>reichen, bewegen sie sich in <strong>der</strong> deutschen<br />

Prima- und Sekundarschule deutlich darüber. Schülerzahlen<br />

von 28 bis 30 sind inzwischen fast zur Regel<br />

geworden.<br />

Viele Kin<strong>der</strong> sind verhaltensgestört und<br />

verweigern die Arbeit<br />

Eine weitere Belastungsquelle für Lehrerinnen und Lehrer<br />

sind die vielen verhaltensgestörten Kin<strong>der</strong> in den Klassen.<br />

„Immer mehr Schüler tendieren nachweislich dazu,<br />

im Unterricht mehr o<strong>der</strong> weniger destruktiv zu agieren,<br />

verweigern die Arbeit, sind hyperaktiv, unkonzentriert,<br />

desinteressiert und passiv“, beobachtet <strong>der</strong> Psychiater<br />

Andreas Hillert, <strong>der</strong> am Chiemsee <strong>aus</strong>gebrannte Erzieher<br />

betreut..<br />

Die Überlastung <strong>der</strong> Lehrkräfte ist auch deshalb vorprogrammiert,<br />

so <strong>Klippert</strong> in seinem soeben erschienenen<br />

Buch „Lehrerentlastung“, weil <strong>der</strong> Umgang mit Heterogenität<br />

stark vernachlässigt wird. Dazu zähle beispielsweise<br />

auch die Rolle stärkerer Schüler als Helfer und<br />

Miterzieher, eine Ressource, auf die im normalen Unterricht<br />

kaum zurückgegriffen wird. „Der Nachhilfelehrer<br />

Schüler lernt bei seiner Unterstützungsarbeit fachlich in<br />

<strong>der</strong> Regel zwar nichts Neues, wohl aber steigert er aufgrund<br />

<strong>der</strong> vielfältigen Fragen und Erklärungsversuche<br />

sowohl die eigene fachliche Souveränität als auch solche<br />

persönlichen Kompetenzen wie Selbstvertrauen und<br />

Selbstwertgefühl, Eigeninitiative und Problemlösungstoleranz,<br />

Kommunikationsfähigkeit und Sozialkompetenz,<br />

Ausdauer und Frustrationstoleranz - Kompetenzen also,<br />

die im Zeitalter <strong>der</strong> neuen Bildungsstandards wichtiger<br />

und perspektivreicher sind als all das träge Wissen, auf<br />

das traditionell so viel Wert gelegt wird.“ Aber wo, fragt<br />

<strong>Klippert</strong>, wird <strong>der</strong> Umgang mit Heterogenität in <strong>der</strong><br />

Lehrer<strong>aus</strong>bildung gelernt, wo die vielzitierte „individuelle<br />

För<strong>der</strong>ung“ <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>?<br />

Ein weiteres Belastungsmoment ist nach <strong>Klippert</strong> die<br />

mangelnde Teamfähigkeit und Teambereitschaft in den<br />

Lehrerkollegien. Lehrerkooperation sei für viele Lehrkräfte<br />

ein sehr fragwürdiges Mode- und Reizwort, das auf<br />

soziale Gängelung und Gleichschaltung, auf subtile Kontrolle<br />

und vor<strong>der</strong>gründige Maßregelung <strong>der</strong> „Unbefugten“<br />

hin<strong>weist</strong>.<br />

<strong>GEW</strong>-Zeitung Rheinland-Pfalz 5 / 2006

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