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BEITRÄGE<br />
76<br />
vermeintliche „Enthüllung“ präsentierte<br />
Aussage, es habe neben <strong>de</strong>n vier<br />
Evangelien <strong>de</strong>s Neuen Testaments<br />
noch weitere Evangelien gegeben, die<br />
<strong>de</strong>n „wahren“ Jesus beschreiben –<br />
Evangelien, die nichts von <strong>de</strong>r Auferstehung<br />
Jesu wissen und Jesus als Sohn<br />
Gottes nicht kennen. Dass dieser vollkommen<br />
menschliche Jesus eine Liebesbeziehung<br />
mit Maria Magdalena<br />
hatte, hat Khoury ebenfalls vom Meister<br />
<strong>de</strong>r sakralen Spannung Dan Brown<br />
abgekupfert. Jesus und Maria, so kann<br />
man bei Khoury lesen, hatten ein Kind,<br />
das vor <strong>de</strong>n Römern versteckt und im<br />
Verborgenen großgezogen wur<strong>de</strong>. Die<br />
Nachkommenschaft Jesu ist so, nach<br />
Khoury, „ein seit zweitausend Jahren<br />
streng gehütetes Geheimnis“, weitergegeben<br />
nur an einen ausgewählten<br />
Kreis von Illuminati (146).<br />
Dass <strong>de</strong>r Unterschied zwischen<br />
<strong>de</strong>m „historischen Jesus“ und <strong>de</strong>m „Jesus<br />
Christus <strong>de</strong>r Religion“ <strong>de</strong>m Unterschied<br />
„zwischen Wahrheit und Fiktion“<br />
entspricht, ist in <strong>de</strong>r Sakralthriller-<br />
Literatur mittlerweile ein Gemeinplatz,<br />
gilt es doch als ausgemacht, dass das,<br />
„was Christen heute glauben“, alles<br />
„ausgedacht und viel später hinzugefügt<br />
(wur<strong>de</strong>)“ – „die Rituale und <strong>de</strong>r<br />
Glaube an übernatürliche Dinge wie<br />
die Auferstehung“ (417, 425). Der literarisierte<br />
Menschensohn kann so nicht<br />
INFO 35 · 2/2006<br />
mehr Sohn <strong>de</strong>s Vatergottes sein. Die eigentliche<br />
Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>s historischen<br />
Jesus liegt nach christlicher Lehre in<br />
<strong>de</strong>r unverwechselbaren I<strong>de</strong>ntität zwischen<br />
<strong>de</strong>m Gekreuzigten und Auferstan<strong>de</strong>nen,<br />
zwischen <strong>de</strong>r geschichtlichen<br />
Person Jesus und <strong>de</strong>m geglaubten<br />
Christus. Ohne diese I<strong>de</strong>ntität ist<br />
das Christentum nur eine leere Formel.<br />
Sakralthriller im Stil von Raymond<br />
Khoury führen genau zu diesem<br />
Schluss, das Christentum wird zum<br />
Mythos erklärt.<br />
Eine Jesusgestalt, die we<strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utig<br />
als Menschensohn noch als Gottessohn<br />
zu bestimmen ist, steht im Mittelpunkt<br />
von Julia Navarros Sakralthriller<br />
„Die stumme Bru<strong>de</strong>rschaft“<br />
(München 2005). Navarro erzählt zu<br />
Beginn ihres Romans von einem<br />
Brandanschlag auf <strong>de</strong>n Turiner Dom,<br />
<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m heiligen Grabtuch Christi gilt,<br />
<strong>de</strong>ssen Echtheit angezweifelt wird. Die<br />
„stumme Bru<strong>de</strong>rschaft“ aus Urfa, <strong>de</strong>ren<br />
Mitglie<strong>de</strong>r sich ihre Zungen herausschnei<strong>de</strong>n<br />
lassen, damit sie nicht<br />
re<strong>de</strong>n können, wenn sie verhaftet wer<strong>de</strong>n,<br />
jagt <strong>de</strong>m echten Grabtuch hinterher,<br />
um es wie<strong>de</strong>r in ihre Heimatstadt<br />
zu bringen. Am En<strong>de</strong> wird das „Wun<strong>de</strong>r“<br />
um das Grabtuch vollends entzaubert,<br />
doch die Möglichkeit, dass Jesus<br />
jemand war, <strong>de</strong>r „alles Menschliche<br />
übersteigt“, bleibt bestehen (26).<br />
Davon zeugt die Heilungsgeschichte,<br />
von <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Roman in einem<br />
verwickelten Handlungsstrang erzählt.<br />
Abgarus, <strong>de</strong>r König von E<strong>de</strong>ssa,<br />
schreibt an Jesus von Nazareth mit <strong>de</strong>r<br />
Bitte, ihn von einer Geschlechtskrankheit<br />
zu kurieren. Diesen Brief soll Abgarus’<br />
Jugendfreund Josar überbringen,<br />
<strong>de</strong>r Zeuge <strong>de</strong>s Wun<strong>de</strong>rs von Lazarus<br />
war. Abgarus verspricht Jesus sein<br />
Reich, wenn er ihn heilen sollte. In seiner<br />
Antwort, die <strong>de</strong>r treue Josar überbringt,<br />
erklärt Jesus, er entsage <strong>de</strong>r<br />
Welt und prophezeit seinen eigenen<br />
Tod. Doch er kündigt einen Jünger an,<br />
<strong>de</strong>r bald <strong>de</strong>n König besuchen wer<strong>de</strong>.<br />
Josar wird Augenzeuge <strong>de</strong>r letzten Tage<br />
Jesu vom letzten Abendmahl bis zur<br />
Grablegung. Als Joseph von Arimathia<br />
Jesu Leichnam in feines Tuch hüllt,<br />
nimmt Josar das Grabtuch an sich und<br />
bringt es seinem König nach E<strong>de</strong>ssa.<br />
Fest von seinem Glauben an Jesu<br />
Macht überzeugt, hüllt er Abgarus in<br />
das Grabtuch ein, auf <strong>de</strong>m die Gestalt<br />
und das Gesicht Christi zu sehen sind.<br />
Das Wun<strong>de</strong>r geschieht, und Abgarus<br />
wird gesund. Doch ein Beweis für die<br />
Gottessohnschaft Jesus ist dieses<br />
„Wun<strong>de</strong>r“ nicht, es ist vielmehr Anlass<br />
für einen mör<strong>de</strong>rischen Kampf um das<br />
Grabtuch, <strong>de</strong>r schließlich enthüllt, dass<br />
es keine „Dinge mit übernatürlichen<br />
Kräften“ gibt (223).<br />
Das „Übernatürliche“ wird auch in<br />
Julia Navarros neuestem Thriller „Die<br />
Bibel-Verschwörung“ (München 2006)<br />
nur noch Auslöser für mör<strong>de</strong>rische Verfolgungsjag<strong>de</strong>n<br />
– in diesem Fall nach<br />
<strong>de</strong>r Jahrtausen<strong>de</strong> alten „Ur-Bibel“. Die<br />
Bibel gilt in Navarros Roman nicht länger<br />
als Zeugnis vom Ursprung und <strong>de</strong>r<br />
Wahrheit <strong>de</strong>s christlichen Glaubens.<br />
Nach kirchlicher Lehre ist die „Heilige<br />
Schrift“ Wort Gottes in <strong>de</strong>m Sinn, dass<br />
durch sie das von Gott an die Menschen<br />
gerichtete Wort in <strong>de</strong>r Kirche vernommen<br />
wird. Das durch die Bibel ergehen<strong>de</strong><br />
Wort Gottes ist verbindlich für<br />
Glauben und Leben und for<strong>de</strong>rt zu Zeugenschaft<br />
und Nachfolge auf. Navarros<br />
„Zeugen“ dagegen sind Menschen, <strong>de</strong>ren<br />
rein irdisches Werk Ausgang für<br />
finstere Verbrechen in Vergangenheit