Nomos - DVPW
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Frühjahr 2011<br />
Nr. 144<br />
‘This Mess We’re (All) In’: Reflections on the Military Service in Turkey<br />
Erdem Evren, Freie Universität Berlin<br />
In seinem Vortrag untersuchte Erdem Evren am türkischen Beispiel eine<br />
zentrale Alltagspraxis des Militärs: den Militärdienst. Anders als in anderen<br />
Staaten besteht in der Türkei absolute Wehrpflicht, sodass im Grunde jeder<br />
gesunde, männliche Staatsbürger einen sechs- bis 15-monatigen Militärdienst<br />
ableisten muss. Ausgehend von einer Foucaultschen Perspektive<br />
versteht Erdem Evren den Militärdienst in der Türkei als zentrale regulative<br />
und disziplinäre Praxis und Diskurs des Staates, die Einübung von Nationalismus<br />
und bestimmten Männlichkeitsvorstellungen. (In theoretischkonzeptioneller<br />
Hinsicht legt dies auch die Frage nach der (fehlenden)<br />
Trennung von Staat und Militär nahe.) Zentral für Evrens Argumentation<br />
war die Beobachtung, dass die Praktiken des türkischen Militärs nicht<br />
unabhängig von denjenigen Menschen/Subjekten betrachtet werden können,<br />
die den Militärdienst er- und durchleben und insbesondere ihm zuwiderhandeln.<br />
Seine ethnografische Forschung führte ihn folglich zu den beiden<br />
wichtigsten Gruppen, die in der Türkei gegen den Militärdienst opponieren<br />
bzw. – genauer – ihn umgehen möchten: Kriegsdienstverweigerer<br />
und schwule Männer.<br />
Da in der Türkei kein Recht auf Zivildienst besteht, führt eine offen artikulierte<br />
Kriegsdienstverweigerung zu einer Statuszuschreibung als „Deserteur“,<br />
die innerhalb der Militärgefängnisse auch zu Beleidigungen, Misshandlungen<br />
und bisweilen Folter geführt hat. Legal kommt Kriegsdienstverweigern<br />
in der Türkei bisweilen der Status eines „zivilen Todes“ (civiliter<br />
mortuas) zu. Entgegen der Kriegsdienstverweigerer versuchen schwule<br />
Männer in der Türkei, den Militärdienst über eine bewusste Qualifizierung<br />
einer „psychosexuellen Persönlichkeitsstörung“, als welche Homosexualität<br />
in den medizinischen Regularien des Militärs bezeichnet wird, zu entgehen.<br />
Hierzu wird bei medizinischen und psychologischen Tests versucht,<br />
einen Spagat zwischen einer bestimmten Form von Männlichkeit mit femininen<br />
Andeutungen zu leisten, um „ausreichend homosexuell“ zu wirken<br />
und vom Militärdienst entbunden zu werden. Der sich hier zeigende Prozess<br />
der „Medikalisierung“ hat folglich wiederum zum Ziel, eine bestimmte<br />
Form der hegemonialen Männlichkeit im türkischen Militär zu formen,<br />
bleibt aber auch immer wieder prekär und führt zu widersprüchlichen, unvorhergesehen<br />
Resultaten.<br />
Zusammen genommen unterstrich Erdem Evren die Bedeutung von legalen,<br />
extra-legalen und insbesondere medizin-technischen Aspekte bei der<br />
Praxis der Militärdiensts in der Türkei. Zugleich muss die konkrete Umsetzung<br />
des Militärdienstes im Alltagshandeln immer als ambivalent, umstritten<br />
und oft ineffektiv aufgefasst werden.<br />
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