Lebensspuren hautnah Eine Kulturgeschichte der ... - akzept e.V.
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Japan<br />
Nur in wenigen Weltgegenden wurde das Tätowieren zu so fantastischer<br />
Kunstfertigkeit gebracht wie in Japan. Und nirgendwo sonst war die Tätowierung<br />
über lange Perioden hinweg so sehr eingewoben in das Brauchtum<br />
<strong>der</strong> unteren sozialen Schichten und so sehr Mittel zur Bekundung berufsständischer<br />
Zugehörigkeit. Die Japaner können neben den Polynesiern zurecht<br />
als die Meister <strong>der</strong> Tätowierung gelten.<br />
Die Anfänge <strong>der</strong> japanischen Tatauierkunst verlieren sich im Dunkel vorchristlicher<br />
Jahrhun<strong>der</strong>te.Vom 6.Jahrhun<strong>der</strong>t an diente die Tätowierung dem<br />
Strafvollzug. Nach chinesischem Beispiel wurden Straftäter durch Zeichen<br />
auf Stirn o<strong>der</strong> Oberarm gesellschaftlich diskriminiert. Die Stigmatisierung<br />
von Verbrechern erreichte vor allem während <strong>der</strong> Edo-Zeit (1603-1868), benannt<br />
nach dem früheren Namen Tokios, ein beachtliches Ausmaß. Straftäter<br />
wurden von den Schogunen (japanische kaiserliche Feldherren) für Delikte<br />
wie Diebstahl, Hehlerei o<strong>der</strong> Betrug mit Streifen an Armen o<strong>der</strong> im Gesicht<br />
gekennzeichnet, wobei sich die Zahl, Anordnung und Platzierung <strong>der</strong> tätowierten<br />
Streifen nach <strong>der</strong> Stadt,in <strong>der</strong> sie verurteilt wurden,unterschied.Auf<br />
diese Weise wurde per Gesetz sichergestellt, dass die Verbannung eines<br />
Straftäters wirksam blieb.Vagabundierende Soldaten und Straßenkämpfer<br />
ließen sich Gesichts-Tätowierungen, so genannte „Keimen“ stechen, um unbescholtene<br />
Bürger damit zu erschrecken.Totenköpfe, Drachen und Schriftzeichen<br />
auf Rücken und Arme taten ihr Übriges. Diese Tätowierungen<br />
nannte das „normale Volk“ abschätzig „Datebori“. Gleichzeitig kam im 17.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t vereinzelt die Mode auf, sich freiwillig Tätowieren zu lassen. Liebespaare<br />
trugen den Namen ihres Partners, Priester die Gebetsformeln und<br />
die Freudenmädchen in den Amüsiervierteln <strong>der</strong> Großstädte die so genannten<br />
„Kishôbori“, kleine Liebesschwur-Tätowierungen <strong>der</strong> Kunden. Anfang<br />
des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts interessierte sich vor allem die so genannte Unterschicht<br />
wie Gelegenheitsarbeiter, Matrosen, Rikschafahrer, ein Großteil <strong>der</strong><br />
Handwerker und die Feuerwehrleute für die kunstvolle Ganzkörper-Tätowierung.<br />
Beson<strong>der</strong>s die von den Herrschern rekrutierten Feuerbekämpfer<br />
Edos, die sich als Beschützer des Volkes sahen, ließen sich, nicht zuletzt auch<br />
zur Bekundung berufsständiger Solidarität, „Flashs“ auf den ganzen Körper<br />
auftragen. Erstmals tauchten damals in Japan große Ganzkörper-Tätowierungen<br />
auf. Fortan nahmen auch bekannte Tätowierkünstler diese Bil<strong>der</strong> als<br />
Vorlage für eigene Hautbil<strong>der</strong>, vertieften die Symbolhaftigkeit, erweiterten<br />
sie und bildeten damit den Grundstock für die heutige, diffizile Kunst des<br />
„Irezumi“.Viele Tätowierte trugen Mitte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts einen „Anzug“<br />
aus Bil<strong>der</strong>n, die Rücken, Gesäß, Brust, Bauch sowie Lenden bedeckten und<br />
bis zur Mitte <strong>der</strong> Unterarme bzw. Oberschenkel reichten. Später kamen die<br />
„Kawa-Tattoos“ hinzu, die in <strong>der</strong> Mitte von Brust, Bauch und Oberschenkel<br />
einen Streifen Haut freiließen, sodass <strong>der</strong> Eindruck eines Anzuges noch verstärkt<br />
wurde.Als Berufsgruppen <strong>der</strong> unteren sozialen Schichten anfingen,mit<br />
symbolträchtigen Körper-Tätowierungen solidarischen Zusammenhalt zu<br />
bekunden, erließ die argwöhnische Regierung <strong>der</strong> Tokugawa-Shogune in Edo<br />
mehrfach Tätowierverbote, die aber keine nachhaltige Wirkung zeigten. Ein<br />
zeitweiliges Verbot wurde auch nach <strong>der</strong> Revolution von 1868 erlassen, als<br />
die Shogun-Regierung stürzte und sich das 250 Jahre lang weltabgeschlossene<br />
Land dem Westen öffnete. Als dann 1881 Englands Thronfolger, Prinz<br />
George, mit <strong>der</strong> Tätowierung eines Drachens auf dem Arm Japan besuchte,<br />
fiel sogleich das Verbot, und die Tätowiermeister genossen eine neue Hochkonjunktur.<br />
Im Westen etablierte sich das Irezumi mit seinen leuchtenden Farben, komplexen<br />
Mustern und ausdrucksstarken Motiven in den 1970er Jahren.Viele<br />
Europäer lernten den Hautstich <strong>der</strong> Japaner schätzen, denn die japanische<br />
Tätowierung wird nicht ohne Grund als Krone <strong>der</strong> Tätowierkunst angesehen.<br />
Die Japaner arbeiten nicht nur mit verschiedensten Farben und beherrschen<br />
das Schattieren perfekt, sie präsentieren auch eine Ganzkörper-Tätowierung,<br />
die ursprünglich sonst nirgends auf <strong>der</strong> Welt in dieser Weise praktiziert<br />
wurde.Die Figuren sind den Körperbewegungen und dem Muskelspiel<br />
angepasst, sie scheinen sich zu bewegen. Freie Hautpartien sind geschickt in<br />
das Gesamtkonzept mit eingearbeitet.Während sich das japanische Irezumi<br />
mit seinen leuchtenden Farben, komplexen Mustern und ausdrucksstarken<br />
Motiven sehr rasch im Westen etablieren konnte, steht man ihm in Japan<br />
noch heute mit gemischten Gefühlen gegenüber. In vielen Bä<strong>der</strong>n und Saunen<br />
Japans ist Tätowierten <strong>der</strong> Zutritt verboten, weil sie „den an<strong>der</strong>en Badegästen<br />
die Laune ver<strong>der</strong>ben“, so die Aufschrift vieler Verbotsschil<strong>der</strong>. Häufig<br />
genießt die Tätowierkunst in Japan auch ein schlechtes Image, weil sie mit<br />
<strong>der</strong> berühmten „Yakuza“, <strong>der</strong> japanischen Mafia, in Verbindung gebracht wird,<br />
die nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung gewann. Deren Clans kennzeichneten<br />
sich mit Tätowierungen.Jene Japaner aber,die sich tätowieren las-<br />
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