132. JAHRESBERICHT - Kollegium St. Fidelis
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Was mir aber auffiel: Die Erinnerungen waren verknüpft mit Personen und Geschichten.<br />
Nicht Unterrichtsinhalte stellten sich ein, etwa die Blütenanordnungen<br />
von Liliengewächsen oder die Bedeutung der Phosphate in Organismen. Nein.<br />
Das Gedächtnis ist bevölkert von Menschen. Auf uns und unsere gemeinsame<br />
Zeit bezogen: Die Schule ist vor allem eine Menschenschule. Sie werden wohl<br />
selten ausserhalb der Familie so intensiv einen einzelnen Menschen beobachten<br />
können (oder müssen!) wie im Unterrichtszimmer. Fünfundvierzig Minuten,<br />
sechsunddreissig Mal pro Woche, über mehrere Jahre standen vor Ihnen halbwegs<br />
begabte Lehrerdarsteller. Sie konnten als Schüler gar nicht anders als<br />
wahrnehmen, aufnehmen, annehmen (manchmal auch hinnehmen). Der Literaturnobelpreisträger<br />
Elias Canetti sprach im Rückblick auf seine Gymnasialzeit<br />
von seiner „ersten bewussten Schule der Menschenkenntnis“.<br />
Was meinte er damit? Sie schaffen sich in der Schule eine Art Typologie an. So<br />
wie es bei den Kühen Simmentaler, Braunvieh, Ehringer gibt, werden Ihnen später<br />
im Leben immer wieder Menschen begegnen, die Sie an bestimmte Lehrer<br />
erinnern. (Ich entschuldige mich für diesen Vergleich.) Der Schüler Elias Canetti<br />
staunte über die Vielfalt der Lehrer – und ich kann Ihnen sagen, auch ich staune<br />
und freue mich jeden Tag über die Vielfalt der Schüler. Aber es ist ein anderes<br />
<strong>St</strong>aunen. Denn die Schüler leben im Rudel und nutzen jede Tarnmöglichkeit im<br />
Unterricht – die Lehrperson dagegen bleibt auf dem Präsentierteller. Sie kann<br />
den scharfsichtigen, mitunter boshaften Schülerblicken nicht entrinnen.<br />
Ich erinnere mich an meine Deutschlehrerin, die auch Englisch unterrichtete, wie<br />
sie jeweils die zwei Treppen in den ersten <strong>St</strong>ock hinaufschnaufte, sich auf den<br />
<strong>St</strong>uhl fallen liess und wienerisch aufseufzte: „Ham’ mer Englisch oder Deutsch?“<br />
Sie war der Inbegriff der Faulheit, mehr noch: der demonstrativen Faulheit. Man<br />
musste die Frau fast schon bewundern, mit welcher Unbekümmertheit sie ihre<br />
Arbeitsscheu zelebrierte. Aber auch sie verhalf uns Schülern, die Menschenkenntnis<br />
zu schärfen, unsere Typologie zu vervollständigen.<br />
Ich erinnere mich an meinen Physiklehrer, der sich nur schon deshalb von allen<br />
anderen Schulmeistern unterschied, weil man ihn nie ohne seine weisse Schürze<br />
sah. Ob er damit die Kleider schützen wollte? Kaum. Wir empfanden die Schürze<br />
eher als eine Respektbezeugung, die er seinem eigenen Fach entgegenbrachte:<br />
der Physik – der Königin aller Naturwissenschaften. Ich wäre gerne ein herausragender<br />
Physikschüler gewesen – leider reichte es nur zum mittelmässigen.<br />
Umso lieber hörte ich seinen Ausführungen zu. Denn seine Sprache war so klar<br />
komponiert wie eine Beweisführung in der Mathematik. Uns Schülern blieb die<br />
staunende Erkenntnis: Da war ein weiss geschürzter Physiklehrer, der ein viel<br />
besseres Deutsch pflegte als alle seine Berufskollegen in den Sprachfächern.<br />
Auch er prägte unsere Menschenschule.<br />
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