Mini-Europa rund um Gross-Schweiz? - Schw. StV
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Foto: zVg<br />
Hesse. Abends singt er im Bett. Als der Vater<br />
nachschaut, meint der Knabe: «Gelt, ich<br />
singe so schön wie die Sirenen? Und ich bin<br />
auch so böse wie sie!»<br />
Dieser so leicht hingeworfene Schülergedanke<br />
widerspiegelt vielleicht besonders augenfällig<br />
die fast naturgesetzmässig erfolgte<br />
Lebensrichtung.<br />
Es kündigt sich die subtile, aber unerbittlich<br />
vorangetriebene Rebellion gegen<br />
das pietistische Kirchenchristent<strong>um</strong> seines<br />
Elternhauses an. Die uralte Sage von der<br />
unwiderstehlichen Schönheit dieser antiken<br />
Sängerinnen, denen kein Mann zu widerstehen<br />
vermag, erweist sich für den werdenden<br />
Dichter als Symbol für das andere, all das,<br />
was nicht zu seiner Umgebung passt. Indem<br />
er sich auf deren heidnische Seite stellt, signalisiert<br />
er die heraufdämmernde Opposition.<br />
Und maliziös weist Hermann Hesse<br />
in mystischer Verkleidung und Tiefe auf<br />
die Bosheit hin, welche er demzufolge automatisch<br />
mit den Sirenen teilt und in Kauf<br />
nimmt. Bekanntlich überlebte keiner, der<br />
sich je mit den lockenden Sirenen einliess.<br />
Während Hermann Hesses Geschwister<br />
wenig auffallen, wird er selbst für die Eltern<br />
z<strong>um</strong> grossen Problem. «Wir sind zu nervös,<br />
zu schwach für ihn,» schreibt die Mutter.<br />
Und Vater und Mutter erwägen ernstlich,<br />
«ihn in eine Anstalt oder ein fremdes Haus»<br />
zu geben.<br />
In einer kleinstirnigen, geistig beschränkten<br />
und rechthaberischen Welt wird<br />
gerne zwischen dem, was dieser Welt passt,<br />
dem so genannt Normalen, und jenem, was<br />
sie übersteigt und damit stört, dem Abnormalen<br />
unterschieden. Für das, was dieser<br />
Umgebung nun nicht passt, das Abnormale,<br />
sind jetzt die Irrenärzte zuständig. Die<br />
Eltern Hesse fragen also diese <strong>um</strong> Rat. Und<br />
der Entscheid ist rasch gefällt. Dankbar<br />
wird der neue Kunde Hermann Hesse –die<br />
Bemühungen sind ja nicht gratis- in die<br />
«Anstalt für <strong>Schw</strong>achsinnige und Epileptische»<br />
aufgenommen. Der Widersinn dieses<br />
Ereignisses liegt in der offensichtlichen<br />
Paradoxie: Das durchaus intelligente Kind<br />
wird für d<strong>um</strong>m erklärt, und die eindeutig<br />
nicht besonders intelligente Erwachsenenwelt<br />
erklärt sich für intelligent.<br />
Selbstverständlich war dieser Versuch,<br />
Hermann Hesse endlich auf die elterlichen<br />
Vorstellungen zu trimmen, keinen Rappen<br />
wert. Die früh begonnene und konsequent<br />
weiterverfolgte Dichtung Hermann Hesses<br />
stellt sich nur noch klarer in einen offenen<br />
Gegensatz zur elterlichen Glaubenswelt, die<br />
Hermann Hesse in einer nicht datierten Aufnahme<br />
forderte, alles auf Erden sei in ihrem pietistischen<br />
Sinn unmittelbar und permanent auf<br />
Gott zu beziehen.<br />
Ausweichen in die Literatur<br />
In der Philosophie findet sich wie ein<br />
Schlüssel für die nähere Erfassung von Hesses<br />
Entfaltung z<strong>um</strong> Weltstar der Literatur<br />
die besonders von Sigmund Freud untersuchte<br />
menschliche Haupteigenschaft: das<br />
Ausweich- und Fluchtverhalten oder kurz<br />
gefasst: Den Menschen unterscheidet vom<br />
Tier sein Vermögen auszuweichen. Der Arzt<br />
und Psychologe Freud entdeckte es zuerst<br />
beim Neurotiker mit seinen Symptomen<br />
der Ersatzbefriedigung. Daraus folgerte die<br />
moderne Psychologie und Psychiatrie, dass<br />
der Mensch in hohem Masse ein Wesen<br />
ist, das Auswege baut. Auch wenn der Arzt<br />
Freud seine Untersuchungen vor allem von<br />
Krankheitsbildern, von der Hysterie und<br />
der Psychose her anstellte, so wurde er doch<br />
nebenbei der Entdecker des ganzen Imperi<strong>um</strong>s<br />
des Geistes und der Quelle der Geisteswissenschaften.<br />
«Geisteskrankheit ist nicht<br />
Geist», schrieb später der grosse Freud-<br />
Forscher Ludwig Marcuse, «aber dieselbe<br />
Not brachte ihn hervor.» Diese Diagnose<br />
<strong>um</strong>schreibt die Problematik des modernen<br />
Menschen.<br />
Man hat den Schüler Hermann Hesse<br />
zu Hause im Zimmer eingeschlossen, in der<br />
Schule in den Karzer gesperrt. Als Seminarist<br />
floh er nach sieben Monaten aus der<br />
Klosterschule Maulbronn. Und man muss<br />
sich vorstellen, es gab damals keine besonderen<br />
Alternativen im Bürgert<strong>um</strong>, schon<br />
gar nicht in der Welt seines Bürgert<strong>um</strong>s.<br />
Seine rebellischen, für die heutige Zeit unglaublich<br />
harmlosen Eskapaden führten<br />
hingegen damals zu einer zunehmenden<br />
Isolierung. Viele seiner braven Kameraden<br />
civitas 4-2012 7