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Sonnabend/Sonntag, 9./10.Juli 2011<br />
Michel Becker aus Medow spielt mit Leib und Seele Schlagzeug. Er setzt für<br />
seine Zukunft aber eher auf Sicherheit als auf Musik. FOTO: PAULINA JASMER<br />
Hochschule auf Umwegen:<br />
Beinahe eine Abkürzung<br />
WEITERBILDUNG Johann<br />
Münch hat seine Fachhochschulreife<br />
gemacht<br />
und ist überzeugt: Besser<br />
spät als nie. Doch<br />
manchmal ist spät auch<br />
besser als gleich.<br />
VON ANNIKA KIEHN<br />
NEUBRANDENBURG. Wie ein potentieller<br />
Landwirt sieht Johann<br />
Münch nicht aus. Leger trägt er die<br />
Weste über dem Hemd, ein moderner<br />
Seitenscheitel ziert den Kopf,<br />
am rechten Ohr blitzt ein Ohrring<br />
– noch fällt es schwer, sich vorzustellen,<br />
wie er einen Kuhstall ausmistet.<br />
Doch genau das hat Johann<br />
vor. Denn wenn er jetzt seine Fachhochschulreife<br />
hat, will er an der<br />
Fachhochschule in Neubrandenburg<br />
Agrarwirtschaft studieren.<br />
Dafür hat er ein Jahr<br />
lang gebüffelt und seineFachhochschulreifenachgemacht.<br />
„In Englisch<br />
bin ich<br />
super, aber Mathe<br />
haut echt<br />
rein“, sagt er.<br />
In gerade mal<br />
34 Wochen<br />
Schule, abzüglich<br />
der Ferien<br />
und Feiertage,<br />
steigere sich<br />
das Pensum<br />
von Grundkurs<br />
11. Klasse bis<br />
12. Klasse Leistungskurs.<br />
In Rechnungswesen,<br />
VWL und BWL<br />
hingegen konnte<br />
der 21-Jährige<br />
mit Vorwissen<br />
aus seiner Kaufmannslehreauf-<br />
FACHGYMNASIUM Rick<br />
Drägestein ist zunächst<br />
Zimmermann geworden.<br />
Jetzt will er Wirtschaftsinformatik<br />
studieren.<br />
VON MARINA SPREEMANN<br />
FRIEDLAND. Prüfungsstress in Familie:<br />
Rick Drägestein, 22 Jahre alt,<br />
und sein drei Jahre jüngerer Bruder<br />
Dennis haben das Abitur gemacht<br />
– sozusagen im Doppelpack.<br />
Beide Friedländer besuchen das<br />
Fachgymnasium. „Das hatte schon<br />
ein paar Vorteile“, sagt Rick.<br />
„Wenn mal einer was nicht verstanden<br />
hatte, kann man das besprechen<br />
und sich zusammen auf die<br />
Prüfungen vorbereiten.“ Und nun<br />
haben es beide geschafft und konnten<br />
auch zusammen feiern.<br />
Rick, der Ältere, hatte nach dem<br />
Realschulabschluss zunächst eine<br />
trumpfen. „Ich hatte damals keine<br />
Lust mehr, nach der 10. Klasse weiter<br />
die Schulbank zu drücken. Von<br />
der Vorstellung, zu studieren, war<br />
ich nicht besonders überzeugt“,<br />
sagt Johann.<br />
Lieber wollte er etwas Luft in<br />
der Arbeitswelt schnuppern. Dann<br />
macht er eine kurze Pause, bevor<br />
er weiterspricht:<br />
„Na ja. Ein bisschen<br />
faul bin<br />
ich vielleicht<br />
auch.“<br />
Dennoch<br />
ist er<br />
überzeugt,<br />
alles<br />
richtig<br />
Ausbildung als Zimmermann absolviert,<br />
„weil ich schon als Kind immer<br />
was Handwerkliches machen<br />
wollte“. Er war dafür nach Baden-<br />
Württemberg gezogen. Übrigens<br />
auch in Familie: „Meine Tante hat<br />
dort ihr Studium angefangen, da<br />
sind wir zusammen runtergegangen.“<br />
Die Arbeit in der Baubranche<br />
sei dann sehr anstrengend gewesen,<br />
vor allem körperlich. „Mir wurde<br />
klar, dass ich das nicht mein<br />
ganzes Leben lang machen wollte.“<br />
Deshalb beschloss Rick, sich weiter<br />
zu qualifizieren, vielleicht Bauingenieur<br />
zu werden. „Hätte ich früher<br />
in der Schule mehr Lust gehabt<br />
zum Lernen, hätte ich gleich das<br />
Abitur machen können. Aber damals<br />
war ich nicht so motiviert“, erinnert<br />
er sich. Dass er das schafft,<br />
daran gab es bei Rick keine Zweifel.<br />
„Es lief auch wirklich gut“, sagt er.<br />
Seine Zukunftspläne hat er während<br />
der Zeit am Fachgymnasium<br />
der Beruflichen Schule Wirtschaft<br />
und Verwaltung in Neubranden-<br />
gemacht zu haben. „Es ist gar nicht<br />
so verkehrt, vor dem Studium eine<br />
Ausbildung zu absolvieren“, sagt<br />
Johann. Die Erfahrungen aus der<br />
Praxis würden es ihm sehr erleichtern,<br />
die Theorie für die Fachhochschulreife<br />
und später auch im Studium<br />
zu verstehen. „Ich wollte erst<br />
einmal lernen, wie man sich im täglichen<br />
Arbeitsleben behauptet.“<br />
Dass er nun doch wieder die<br />
Schulbank drückt, daran sei<br />
ein wenig seine<br />
Familie schuld:<br />
„Da sind alle<br />
Akademiker –<br />
das hat meinen<br />
Anspruch<br />
an mich<br />
selbst noch erhöht“,<br />
sagt er<br />
und erzählt<br />
von dem erfolgreichenWerdegang<br />
seines großen<br />
Bruders Paul – sein Idol in<br />
Sachen schulische Laufbahn.<br />
„Er hat sein Abi mit einer Eins<br />
vorm Komma gemacht und in<br />
Hamburg/Harburg Maschinenbau<br />
studiert.“<br />
Die Möglichkeit, irgendwann<br />
selbst noch studieren<br />
zu können, war für Johann<br />
schließlich die Motivation,<br />
seine Fachhochschulreife<br />
zu machen. „Man weiß<br />
ja nie, plötzlich haben<br />
wir wieder eine Wirtschaftskrise<br />
und dann<br />
hätte ich die Option<br />
mich weiterzubilden,<br />
anstatt mich mit<br />
mies bezahlten Minijobs<br />
über Wasser zu<br />
halten.“ Das Beste<br />
aber seien die Ferien:<br />
„Anders als<br />
in der Berufsschule<br />
muss<br />
man<br />
nicht<br />
Seine Fachhochschulreife hat er in der Tasche. Den neuen Herausforderungen im Studium<br />
stellt sich Johann Münch mit einem Lächeln. FOTO: ANNIKA KIEHN<br />
Leidenschaft soll nicht in Zwang ausarten<br />
DILEMMA Michel Becker<br />
ist Musiker durch und<br />
durch. Er hadert mit<br />
seinem Berufswunsch:<br />
Musiker oder Ingenieur?<br />
VON PAULINA JASMER<br />
MEDOW. Da musste Michel Becker<br />
aus Medow vor gut zehn Jahren<br />
erstmal Flöte spielen lernen. Das<br />
war eine Voraussetzung, bevor er<br />
überhaupt an seine eigentliche Leidenschaft<br />
„Schlagzeug“ denken<br />
konnte. „Meine Eltern wollten testen,<br />
wie ernst es mir mit der Musik<br />
Im Doppelpack mit dem Bruder<br />
burg noch einmal geändert. „Ich<br />
will Wirtschaftsinformatik studieren,<br />
an der Fachhochschule in Stralsund.<br />
Das liegt mir und das kann<br />
ich gut, wie ich an der Schule festgestellt<br />
habe, die ja auf Wirtschaft<br />
ausgelegt ist“, sagt er. In Stralsund<br />
hat er sich an einem Infotag schon<br />
mal umgesehen. „Dort<br />
hat es mir zugesagt.“<br />
Gerade auch, weil das<br />
Meer so nahe ist. Die<br />
Nähe zum Wasser ist<br />
für Rick ein Grund,<br />
warum er auch in Zukunft<br />
im Nordosten<br />
bleiben möchte.<br />
In zehn Jahren<br />
noch hier zu leben, kann er sich<br />
gut vorstellen. Nach erfolgreichem<br />
Studium – Bachelor und Master –<br />
wünscht sich Rick einen Job als<br />
Wirtschaftsinformatiker. „Gern in<br />
einer mittleren Führungsebene. Im<br />
Team zu arbeiten, zusammen Programme<br />
zu entwickeln, das würde<br />
ich gern machen.“ Eine Familie,<br />
Abitur Kurier Seite 13<br />
„In meiner<br />
Familie<br />
sind alle<br />
Akademiker.<br />
Das hat meinen<br />
Ansporn<br />
erhöht.“<br />
„Mir wurde<br />
klar, dass ich<br />
das nicht mein<br />
Leben lang<br />
machen will.“<br />
ist“, sagt der 18-Jährige. Und sie entschieden<br />
sich für ihren Test ausgerechnet<br />
für die Flöte, eher ein<br />
Gegenpol zum Schlagzeug. Aber:<br />
Michel hielt tapfer durch, ganze<br />
zwei Jahre lang. Dann winkte das<br />
Schlagzeug-Spiel, und – es war<br />
nicht anders zu erwarten: „Heute<br />
weiß ich nichts mehr mit der Flöte<br />
anzufangen“, gesteht der Medower.<br />
Er spielt in Bands in Greifswald<br />
und in Schwedt, er tritt regelmäßig<br />
mit anderen Gruppen auf<br />
und lässt es auch bei so mancher<br />
Familienfeier ordentlich krachen.<br />
Da sollte der Berufswunsch klar<br />
auf der Hand liegen, zumal Michels<br />
Mama ihm wohl den Rhythmus<br />
mit in die Wiege gelegt hat.<br />
arbeiten, sondern man hat wirklich<br />
frei“, sagt er und grinst. Von<br />
Reue, nicht gleich nach der 10. Klasse<br />
durchgezogen zu haben, keine<br />
Spur. „Ich bin doch noch so jung“,<br />
sagt er und erzählt von seinen<br />
30-jährigen Klassenkameraden, die<br />
die Schule noch mit der Familie in<br />
Einklang bringen müssten.<br />
Mit seinen 21 Jahren kann Johann<br />
bereits eine abgeschlossene<br />
Lehre und Fachhochschulreife mit<br />
Schwerpunkt Wirt-<br />
schaft vorweisen –<br />
trotz leichter Bedenken<br />
freue er sich auf<br />
seine Zukunft in der<br />
Landwirtschaft. Weiterbildung<br />
auf Umwegen<br />
ist also nicht unbedingt<br />
die schlechtere<br />
Alternative? „Im Prinzip<br />
habe ich doch ‘ne<br />
Abkürzung genommen“,<br />
sagt er und rechnet<br />
zurück. „Das normale Abitur<br />
dauert zwölf Jahre. Ich habe zehn<br />
Jahre bis zum Realschulabschluss<br />
gebraucht, die Lehre, dann ein Jahr<br />
und nun bin ich quasi auf dem gleichen<br />
Stand plus Beruf“ – aller Matheschwäche<br />
zum Trotz, die Rechnung<br />
scheint aufgegangen.<br />
Ein Jahr zur<br />
Qualifikation<br />
In der einjährigen Fachoberschule<br />
erhält der Schüler<br />
wöchentlich durchschnittlich<br />
35 Stunden allgemein bildenden<br />
und berufsbezogenen<br />
Unterricht. Eintreten können<br />
Bewerber, wenn sie die Mittlere<br />
Reife oder den Realschulabschluss,<br />
eine zweijährige abgeschlossene<br />
Berufsausbildung<br />
oder eine dreijährige Berufstätigkeit<br />
nachweisen. Das zusätzliche<br />
„Schuljahr“ wird mit<br />
den Prüfungen für die Fachhochschulreifeabgeschlossen.<br />
@www.bildung-mv.de<br />
am liebsten auch Kinder, hätte er<br />
dann mit Anfang 30 ebenfalls gern.<br />
Und ein neues Hobby.<br />
Das Gitarrespielen in einer<br />
Metal-Band musste Rick gerade aufgeben,<br />
wegen gesundheitlicher Probleme<br />
mit der Hand. „Musik möchte<br />
ich schon gern wieder machen,<br />
habe aber noch keine<br />
richtige Idee“, sagt er.<br />
In den vergangenen<br />
Wochen habe ihm das<br />
erst mal kaum gefehlt.<br />
„Ich hatte ja mit den<br />
Prüfungen eine Menge<br />
zu tun und habe fürs<br />
Abitur gelernt.“<br />
Den Sommer wird<br />
Rick zunächst für einen kurzen<br />
Trip nach London nutzen. Dann<br />
will er die gemeinsame Wohnung<br />
mit seinem Bruder einrichten. Die<br />
beiden ziehen von Friedland nach<br />
Greifswald, Dennis wird dort studieren<br />
und Rick jeden Tag nach<br />
Stralsund fahren. Dann heißt es:<br />
Studium im Familien-Doppelpack.<br />
„Ich hatte es auch wirklich erwogen,<br />
Musiker zu werden und damit<br />
mein Geld zu verdienen“, sagt Michel.<br />
„Es ist mir letztlich aber doch<br />
zu riskant. Es gibt eben viele gute<br />
Musiker, da hat man es schwer“, erklärt<br />
er. Und Musik machen zu<br />
müssen, damit er auf Zwang seine<br />
Brötchen verdient, das will Michel<br />
auf keinen Fall. Musikalische Gene<br />
hin oder her, denn Michels Vater<br />
ist Ingenieur und: „Technik interessiert<br />
mich auch brennend“, erzählt<br />
Michel von seiner zweiten Leidenschaft,<br />
die nicht so risikoreich ist.<br />
Mathe und Physik hätten ihn<br />
schon immer interessiert und der<br />
Beruf des Ingenieurs sei eben doch<br />
sicherer als die vage Hoffnung, von<br />
der Musik leben zu können. „Dann<br />
bleibt die Musik eben mein geliebtes<br />
Hobby“, so Michel Becker. Das<br />
klingt recht abgeklärt, doch auf die<br />
Frage, was denn nun – nach dem<br />
Abitur – beruflich wirklich ansteht,<br />
sagt Michel: „Erst einmal ein<br />
Jahr Bundesfreiwilligendienst.“<br />
Und dann? „Weiß ich noch nicht<br />
genau“, meint Michel. Er denkt<br />
noch einmal über beide Möglichkeiten<br />
nach. So richtig, so mit ganzem<br />
Herzen und Verstand hat er<br />
sich noch zu keiner endgültigen<br />
Entscheidung durchgerungen. Für<br />
den Medower steht allerdings fest:<br />
„Ich will auf alle Fälle eine Musik-<br />
Aufnahmeprüfung für die Uni machen,<br />
mal schauen, was passiert.“<br />
Woran erkennt man einen<br />
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