kenzeichen - Kantonsschule Enge
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22<br />
BUchtIPP<br />
Fremdling<br />
von Sibylle Knauss<br />
Jo wird in einer Welt wiedergeboren,<br />
die ihm fremd ist. Denn<br />
er ist ein Neandertaler, ein Jäger<br />
und Sammler. Er gehört einer Spezies an,<br />
die im Laufe der Evolution längst ausgestorben<br />
ist. Sein Vetter, der Homo Sapiens,<br />
hat sich durchsetzen können und bis<br />
heute überlebt. Was geschieht nun, wenn<br />
durch ein genetisches Experiment eine<br />
ausgestorbene Art wieder zum Leben<br />
erweckt wird? Was bisher nur theoretisch<br />
möglich gewesen ist, wird im neuen<br />
Roman der deutschen Autorin Sibylle<br />
Knauss zur fiktionalen Realität.<br />
Die Anthropologin Maria lässt sich auf einen<br />
Versuch ein, der die Menschheit von<br />
Grund auf verändern soll. Sie trägt ein Kind<br />
im Bauch, das genetisch identisch ist mit einem<br />
Menschen, der vor dreissigtausend Jahren<br />
gelebt hat. Es ist vorgesehen, das Kind<br />
abtreiben zu lassen, sobald man genügend<br />
Informationen bezüglich seiner Art gesammelt<br />
hat. Maria jedoch beschliesst, mit ihm<br />
wegzugehen und es in den Bergen Osteuropas<br />
aufzuziehen. Sie nennt es Jo. Ausgesetzt<br />
in der Gegenwart, findet Jo sich nur<br />
in Marias Obhut zurecht. Als er behördlich<br />
gesucht wird, flüchtet er und macht sich in<br />
den Naturreservaten Europas auf die Suche<br />
nach seiner ursprünglichen Welt. Doch<br />
bald wird der geborene Jäger zum Gejagten.<br />
Denn nicht nur die Polizei sucht ihn, auch<br />
Forscher, die eine wissenschaftliche Sensation<br />
wittern, sind ihm auf der Spur. Als er<br />
festgenommen wird, beschliesst Maria ihm<br />
zu sagen, wer er wirklich ist.<br />
Fremdling ist ein Roman, den man, wenn<br />
man erst mal damit angefangen hat, nicht<br />
so schnell wieder zur Seite legt. In hervorragender<br />
deutscher Sprache wird dem Leser<br />
eine realitätsnahe Zukunft vorgelegt, eine<br />
Zukunft, die einen zum Denken anregt und<br />
sicherlich nach der Lektüre viele Fragen<br />
offen lässt. Ist es nicht moralisch verwerflich,<br />
eine längst ausgestorbene Art mittels<br />
Gentechnik ins Leben zurückzurufen? Welche<br />
Grenze darf die Forschung nicht überschreiten?<br />
Wie würden die Menschen reagieren,<br />
wenn tatsächlich ein Neandertaler<br />
auf der Strasse herumlaufen würde?<br />
Der Leser wird darauf hingewiesen, dass<br />
der Forschung eindeutig Grenzen gesetzt<br />
werden sollen. Die Autorin führt ihm einen<br />
Wissenschaftsbetrieb vor Augen, der von<br />
Informationshunger, Rücksichtslosigkeit<br />
und Machbarkeitswahn beherrscht wird<br />
und in dem die Moral auf der Strecke bleibt.<br />
Wenn ein Neandertaler gegen die Gesetze<br />
der Natur in die Gegenwart zurückgeholt<br />
und dabei auch noch gegen seinen Willen<br />
wie ein Tier zu Forschungszwecken festgenommen<br />
wird, da beginnt man sich schon<br />
zu fragen, warum Dinge derart unkontrolliert<br />
ihren Lauf nehmen dürfen.<br />
Jo kann absolut nichts dafür, in einer Welt<br />
wiedergeboren zu werden, in der er ein<br />
Fremdling ist. Sie wird ihm aufgezwungen.<br />
Seine Gene sind für eine Existenz vor langer<br />
Zeit bestimmt, und nun lebt er in der<br />
Gegenwart. Alles kommt ihm fremd vor.<br />
Denn er versteht nicht, wieso die Menschen<br />
nicht sparsamer mit den Ressourcen umgehen,<br />
wieso sie immer mehr nehmen, als<br />
sie brauchen. Er möchte nur in der Wildnis<br />
leben, jagen und eine Frau haben. Aber niemand<br />
will ihn verstehen. Jeder begnügt sich<br />
mit dem ersten Eindruck, den er von ihm<br />
hat – jenem eines behinderten wilden Mannes,<br />
der sich nicht richtig artikulieren kann.<br />
Trotz allen Bemühungen von Maria, ihm<br />
lesen und schreiben beizubringen, kommt<br />
Jo mit dieser Welt nicht klar.<br />
Fremdling ist kein Fantasie-Roman, sondern<br />
ein Buch über ein Lebewesen, das in<br />
der Welt keine Zugehörigkeit findet, wegen<br />
Menschen, die es nicht ernst nehmen und<br />
sich nicht bewusst sind, was sie ihm damit<br />
antun. Es ist ein sicher lesenswerter Roman,<br />
der einige Gedankengänge nicht weiter<br />
ausführt und dem Leser viel Interpretationsspielraum<br />
lässt. Deshalb sind 380 Seiten<br />
fast schon zu wenig für all die Themen des<br />
Romans. Im Grossen und Ganzen muss<br />
man sagen, dass Sibylle Knauss hochaktuelle<br />
Themen in eine spannende, aber viel zu<br />
kurze Geschichte verpackt.<br />
Zacharie Ngamenie (N4d)