124_vpod-magi_ROP04 - vpod-bildungspolitik
124_vpod-magi_ROP04 - vpod-bildungspolitik
124_vpod-magi_ROP04 - vpod-bildungspolitik
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Sternenkarte: Knaurs Welt-Atlas, Berlin, 1936<br />
astrologischer Deutungen greift aber die<br />
Frage, ob sie falsch oder richtig sei, zu<br />
kurz. Aus gesellschaftspolitischer Sicht<br />
lautet die Frage vielmehr: Warum ist ausgerechnet<br />
Astrologie so beliebt als Gegenprogramm<br />
zur heutigen rationalisierten,<br />
sich immer schneller rationalisierenden<br />
Welt? Wieso müssen es gerade<br />
die Sterne sein? Würde der zur Verfügung<br />
stehende Fundus von Wissenstraditionen,<br />
Religionen und Philosophien<br />
nicht manch andere – möglicherweise<br />
plausiblere – Alternative zur einseitig<br />
technisch ausgeprägten Rationalität<br />
bieten?<br />
Instrumentelle Lösungen zur<br />
Anpassung an gegebene<br />
Verhältnisse<br />
Der Philosoph und Soziologe Theodor<br />
W. Adorno analysierte die Astrologie in<br />
den 1950er Jahren als ein Weltbild, das<br />
– entgegen dem vordergründigen Erscheinungsbild<br />
– besonders gut der<br />
technisierten und verwalteten Welt entspricht,<br />
einer Welt, deren Zusammenhänge<br />
für das Individuum nicht mehr<br />
durchschaubar sind. Anstatt diese komplexen<br />
Zusammenhänge zu ergründen,<br />
stellt Astrologie Zusammenhänge her<br />
zwischen menschlichem Leben und kosmischer<br />
Ordnung. Es handelt sich dabei<br />
aber gerade nicht, wie es auf Anhieb<br />
scheint, um Inspirationen, welche die<br />
rationale Ebene überwinden, sondern<br />
vielmehr um die Einordnung menschlicher<br />
Erfahrungen in ein pseudorationales<br />
System: Zwei unterschiedliche Dimensionen<br />
werden kausal – und damit<br />
scheinbar rational – miteinander verknüpft:<br />
die berechenbaren Sternbilder<br />
und das unergründliche Schicksal der<br />
Menschen in hochkomplexen, arbeitsteilig<br />
organisierten Gesellschaften. Die<br />
in sich geschlossene Berechenbarkeit<br />
der einen Dimension (Sterne) wird in<br />
der Astrologie auf eine andere Dimension<br />
(Schicksal) übertragen und damit<br />
scheinbar verständlich gemacht. Eine<br />
nach technisch-rationalen Kriterien organisierte<br />
Welt, die zugleich auf irrationalen<br />
Grundlagen beruht und ebensolche<br />
Auswirkungen auf das Leben der<br />
Einzelnen hat, findet in den Sternen ihr<br />
Abbild. 1<br />
Vor dem Hintergrund dieser kultursoziologischen<br />
Überlegungen wird<br />
deutlich, inwiefern in den Leserbriefen<br />
der Astrologie-BefürworterInnen mehr<br />
ein reduktionistisch-instrumentelles<br />
Denken als dessen Überwindung zum<br />
Ausdruck kommt: Dem Erzieher werde,<br />
wie bereits zitiert, «ein hilfreiches Instrument»<br />
in die Hand gegeben, um die<br />
Probleme von SchülerInnen und Lehrer-<br />
Innen zu «handhaben». Oder wie es in<br />
der Formulierung desjenigen Lehrers<br />
zum Ausdruck kommt, welcher den<br />
aktuell<br />
Kurs anbietet: «Ich bin als Naturwissen-<br />
�<br />
schafter extrem kritisch und habe erkannt,<br />
dass die Astrologie ein sehr gutes<br />
Instrument ist. (...) Wenn man dann<br />
das Gefühl hat, die Astrologie stimmt,<br />
braucht es keinen Beweis mehr.» (zit.<br />
nach Bund vom 24.7.01).<br />
Die gesellschaftlichen Folgen der darin<br />
auf den Punkt gebrachten Pseudorationalität<br />
rekonstruiert Adorno Jahrzehnte<br />
zuvor mit folgenden Worten:<br />
«Wer unter der gegenwärtigen objektiven<br />
Unvernunft des Ganzen überleben<br />
will, gerät in Versuchung, es einfach hinzunehmen,<br />
ohne über Absurditäten wie<br />
das Verdikt der subjektlosen Sterne viel<br />
zu staunen. Die Verhältnisse trotz allem<br />
rational zu durchdringen, wäre unbequem<br />
nicht bloss der intellektuellen Anstrengung<br />
wegen. Astrologie zeigt sich<br />
wahrhaft verschworen mit den Verhältnissen<br />
selbst. Je mehr den Menschen<br />
das System ihres Lebens als Fatum erscheinen<br />
muss, das blind über ihnen<br />
waltet, und gegen ihren Willen sich<br />
durchsetzt, umso lieber wird es mit den<br />
Sternen in Verbindung gebracht, als ob<br />
dadurch das Dasein Würde und Rechtfertigung<br />
erlangte.»<br />
Einseitige technische Rationalität einiger<br />
Zweige der Wissenschaft und insbesondere<br />
deren technische «Umsetzung»<br />
in die gesellschaftliche Realität<br />
wird also von der Astrologie nicht nur<br />
<strong>vpod</strong> magazin <strong>124</strong>/01 9