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Ausgabe 1/2008 - Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft

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Rhabarber<br />

in der Redaktion der „Bild“-Zeitung<br />

Über die „voranschreitende<br />

Analphabetisierung der<br />

deutschen Gesellschaft“<br />

Quelle: Medien-Dienst EB Nr. 104<br />

(4/2007), GKP-Informationen<br />

IX/2007, S. 23<br />

Kai Diekmann (43), „Bild“-Chefredakteur,<br />

berichtet in dem evangelischen<br />

Monatsmagazin „chrismon“<br />

über Erfahrungen seiner Redaktion<br />

mit Leserbriefen. In Heft 7/07 des<br />

Magazins schreibt er: „Orthografisch<br />

korrekt sind meist nur Briefe, die aus<br />

den neuen B<strong>und</strong>esländern stammen<br />

oder von älteren Leuten aus<br />

dem Westen – also von<br />

Personen, die nicht dem<br />

Einfluss der Kultusministerkonferenz,<br />

der GEW oder<br />

reformwütiger Lehrerverbände<br />

unterworfen waren. Was<br />

hingegen von jüngeren Leuten<br />

aus Bremen, Hamburg, Berlin oder<br />

Nordrhein-Westfalen kommt, ist<br />

oft nur annähernd verständlich,<br />

nicht zuletzt bedingt durch weitgehenden<br />

Verzicht auf Interpunktion<br />

oder Groß- <strong>und</strong> Kleinschreibung:<br />

Alles Kauderwelsch <strong>und</strong> Rhabarber,<br />

Rhabarber, auch wenn kaum einer<br />

der Absender wissen dürfte, wie<br />

man das eine oder andere schreibt.<br />

Doch ist das kein Anlass für Späße.<br />

Denn die orthografischen Mängel<br />

weisen immer häufiger auf massive<br />

Probleme, einen Text inhaltlich zu<br />

erfassen.<br />

Selbst einfachste Kommentare oder<br />

Meldungen werden oftmals in einer<br />

Weise missverstanden, die auch uns<br />

vor gr<strong>und</strong>sätzliche Darstellungsfragen<br />

stellt. Der Erfolg von Emoticons<br />

<strong>und</strong> Piktogrammen, also der Rück-<br />

REALSATIRE<br />

griff auf Verständigungstechniken,<br />

deren man sich üblicherweise im<br />

Umgang mit Urwaldvölkern bedient,<br />

ist ein Zeichen für diesen Bef<strong>und</strong>, für<br />

die voranschreitende Analphabetisierung<br />

der deutschen Gesellschaft.<br />

Diese Entwicklung stellt nicht nur<br />

die elterliche <strong>Erziehung</strong>, sondern vor<br />

allem die Leistung der<br />

Schulpolitik <strong>und</strong> der<br />

Lehrerschaft infrage.<br />

Ganze<br />

Jahrgänge<br />

versinken<br />

im Babeltum, trotz<br />

höchster <strong>Ausgabe</strong>n für Bildung. Für<br />

die Betroffenen, die auch nach acht<br />

Jahren Schule beim Lesen noch die<br />

Lippen bewegen müssen, heißt das:<br />

keine Ausbildung, Hartz IV, bestenfalls<br />

Hilfsarbeiter. Welche auch<br />

politischen Aggressionen Menschen<br />

entwickeln, die keine Aussicht auf<br />

berufliche Selbstfindung, auf das<br />

Glück der eigenen Leistung, auf Verantwortung<br />

<strong>und</strong> Familie haben, mag<br />

man sich nicht vorstellen. Dass sie<br />

zudem Opfer genau derjenigen Leute<br />

wurden, die jahrelang die „soziale<br />

Frage“ im M<strong>und</strong>e führten, ist eine<br />

SEITE 30<br />

der zynischen Volten der Geschichte.<br />

Keine Generation hat die Chancen<br />

der einfachen Leute so nachhaltig<br />

ruiniert wie diejenigen, für die Chancengleichheit<br />

in erster Linie darin<br />

bestand, schulische Anforderungen<br />

zu senken. Wer aus der Ober- oder<br />

Mittelschicht stammt, wer auf die<br />

dortigen Ausdrucks- <strong>und</strong> Differenzierungsmöglichkeiten<br />

zurückgreifen<br />

kann, schafft heute wie selbstverständlich<br />

das Abitur; wer dagegen<br />

im nunmehr so genannten Prekariat<br />

geboren wird, hat kaum eine Chance,<br />

<strong>und</strong> zwar unabhängig von Intelligenz<br />

<strong>und</strong> Fleiß.<br />

‚Wir sind Papst’, titelte ‚Bild’ zur<br />

Wahl von Benedikt XVI.<br />

<strong>und</strong> schuf damit eine<br />

Schlagzeile, die<br />

sofort in den allgemeinen<br />

Sprachschatz<br />

aufgenommen <strong>und</strong> immer<br />

neu variiert wurde. Ihr Erfolg<br />

beruhte auf der fröhlichen Übertreibung,<br />

mit der sie Verblüffen, Freude<br />

<strong>und</strong> landsmannschaftlichen Stolz<br />

erfasste – aber auch auf dem bewussten<br />

Verstoß gegen die Grammatik:<br />

Erst die Regelverletzung, das ‚falsche’<br />

Deutsch, gab der Zeile das Spielerische,<br />

aber auch hohe Aufmerksamkeit.<br />

Noch sind solche Sprachspäße<br />

möglich, auch für ein Massenpublikum.<br />

Doch wenn, wie gegenwärtig,<br />

der Sinn für Syntax <strong>und</strong> Grammatik<br />

schwindet, kommen nicht nur solche<br />

Spielereien an ihr Ende, sondern sehr<br />

viel mehr.

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