rebecca horn (II) - Zeit Kunstverlag
rebecca horn (II) - Zeit Kunstverlag
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taphysische Idee im späteren Werk sich zurückführen<br />
lässt auf jene empirischen Körpererfahrungen der ersten<br />
Performances. Als hätte Rebecca Horn schon zu Beginn<br />
in dem Bewusstsein gearbeitet, dass Freiheit ohne<br />
Grenzsetzung nicht denkbar ist, kann man in ihren frühen<br />
Arbeiten die Festlegung eines archimedischen<br />
Punktes beobachten, der zunächst physisch bestimmt<br />
ist und sich im Lauf der Jahre immer mehr zu einem von<br />
Schattengrenzen befreiten „fixed star“ 2 verwandelt.<br />
„Transformation“ wäre vielleicht ein Begriff, der dieses<br />
überbordende Werk mit seinen poetischen, beweglichen,<br />
fließenden und fliegenden Arbeiten im Kerngedanken<br />
kennzeichnen könnte. Tatsächlich scheint es, als hätte<br />
Rebecca Horn seit dem Ende der 60er Jahre in der Logik<br />
einer kontinuierlich voranschreitenden Feldforschung<br />
an einer sinnlichen Erkenntnis gearbeitet, die sich im<br />
Lauf der Jahre immer mehr kristallisiert hat in der zentralen<br />
Idee einer „Spiralbewegung, die nach oben zieht,<br />
den Körper verlässt, in die Weite des Lichtraums aufsteigt“<br />
3 , wie es in einem ihrer Gedichte heißt. Von heute<br />
aus kann man beobachten, dass die Suche der Künstlerin<br />
nach einer absoluten <strong>Zeit</strong> und Freiheit in letzter Konsequenz<br />
die philosophischen Konzepte der Dauer kreuzt.<br />
Völlig unabhängig und überraschend formulieren ihre<br />
Bilder eine Gedankenwelt, die Bergsons Konzepten einer<br />
„Essenz der Transformation“, einer fundamentalen <strong>Zeit</strong>erfahrung<br />
jenseits der Schattengrenzen des Raumes 4 ,<br />
entsprechen. Auch die Grenzüberschreitungen im Werk<br />
von Rebecca Horn, das Neuerfinden von Malerei und<br />
Skulptur, lassen sich erst von heute aus als eine Annäherung<br />
an jenen „Lichtraum“ verstehen, oder mit einem<br />
Begriff von Bergson, an eine „Dauer des Universums“ 5 .<br />
L e b e n d i g e<br />
b e s t i m m u n g s g r ö ß e n<br />
Bei aller überraschenden Schönheit und Grazie der frühen<br />
Performances, die dem gesamten späteren skulpturalen,<br />
malerischen und dichterischen Werk zugrundeliegen<br />
und dessen hohe Präzision erklären, ist es wichtig,<br />
den technisch zweckmäßigen Charakter dieser ersten<br />
Arbeiten im Auge zu behalten. Denn sie hatten die Funktion,<br />
gleich einem Welt begründenden Alphabet, zunächst<br />
einmal ureigene Raumparameter zu definieren.<br />
Rebecca Horn also setzt ihren eigenen oder den Körper<br />
anderer Performanceteilnehmer, so könnte man sagen,<br />
als „lebendige Bestimmungsgrößen“ 6 ein, um daran ein<br />
eigenes Verhältnis zum Raum zu messen.<br />
Für die Performance Körperfächer von 1972 überragen<br />
große Halbkreissegmente aus weißem Segeltuch die<br />
Künstlerin um die Hälfte ihrer Statur. Das Segeltuch<br />
wird von feinen, gleich den Speichen eines Rades sternförmig<br />
ausgelegten Metallsparren gespannt. Die Künstlerin<br />
steht mit geschlossenen Beinen zwischen beiden<br />
Körperfächern, die mit Bandagenringen an ihrem Körper<br />
befestigt sind. Mit ausgestreckten Armen hält sie die<br />
Segel von hinten und beginnt nun, sie langsam gegen den<br />
Luftwiderstand zu bewegen. Von weitem könnte man<br />
meinen, ein Riesenschmetterling würde seine Flügel um<br />
seinen Körper öffnen und schließen. Was hier 1972 entstand,<br />
ist der erste bewegliche Raum im Werk von Rebecca<br />
Horn. Der Satz von Archimedes: „Gebt mir einen<br />
festen Punkt zum Stehen, und ich bewege die Welt“,<br />
scheint hier ins Bild gesetzt (Abb. 4). 7<br />
„<br />
Rebecca Horn erfindet ihre Bilder<br />
nicht als eine aus dem Unbewussten<br />
erlistete Phantasiewelt, sondern<br />
leitet sie ab aus hoch bewusster<br />
ureigener erfahrung …<br />
“<br />
Zwei Jahre zuvor war eine Vorzeichnung für diese Arbeit<br />
entstanden. Ein Kreis füllt beinah das ganze Blatt. Vertikal<br />
wird er durchmessen vom Körper der Künstlerin.<br />
Auf der Höhe des Herzens ist ein Mittelpunkt so stark<br />
markiert, als wäre damit die Nabe eines Rades angegeben.<br />
Strahlenförmig breiten sich von dort aus die Verstrebungungen<br />
des Segelfächers aus. Ganz deutlich ist<br />
in dieser Zeichnung das eigene Herz-Zentrum zum archimedischen<br />
Punkt gemacht.<br />
Z w i s c h e n z u s t a n d<br />
Wenn mehr als dreißig Jahre später in den großen Malereien<br />
von Rebecca Horn ein Feuerwerk von Linienwirbeln<br />
durch den von Schattengrenzen befreiten Raum<br />
sich auffächert, dann ist bei aller Freiheit das Gestaltungsprinzip<br />
dieser kleinen Skizze aus den 70er Jahren<br />
noch immer zu erkennen: In der Malerei Blau im Zwischenzustand<br />
(2004, Abb. 5) wird deutlich, dass die Wirbel<br />
sich zu Zentren verdichten, die von einer Achse in<br />
goldenem Siena durchlaufen werden. Die Körperlichkeit<br />
dieser Achse ist durch Farbverdickungen markiert, ganz<br />
so, als würden Herz und Solarplexus in metaphysischer<br />
Transfiguration hier von den Linienwirbeln einer kosmischen<br />
Energie umkreist. Der Titel aber verweist emblematisch<br />
auf ein Leitmotiv im Gesamtwerk von Rebecca<br />
Horn: „Zwischenzustand“ ist der Inbegriff von Transfor-<br />
3