rebecca horn (II) - Zeit Kunstverlag
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mation. Es gibt nichts Endgültiges, alles verwandelt sich<br />
in jedem Moment, alles fließt, alles fliegt.<br />
So auch die große bewegliche Skulptur, die Rebecca<br />
Horn zur documenta 1982 präzise in die Innenmaße des<br />
Tempelchens einfügte, das auf der Pfaueninsel im weitläufigen<br />
alten Kassler Schlossgarten steht. In genau bemessenen<br />
Abständen wiederholte ein Fächer von strahlenförmigen<br />
Metallstäben das Faszinosum eines aufgeschlagenen<br />
Pfauenrades. Das Warten auf das Ereignis<br />
ist Bestandteil der Arbeit – denn dieser Moment, in den<br />
sich die Verwandlung substantiell einschreibt, ist genau<br />
jener „Zwischenzustand“, der erst später explizit formuliert<br />
wird. Die Bewegung lässt das Material vergessen.<br />
Das Ereignis überwindet die Gegenständlichkeit. Die<br />
Wiederholung hebelt die <strong>Zeit</strong> aus ihren Abgrenzungen,<br />
macht sie zu einem Fluidum, das Vergangenheit, Gegenwart<br />
und Zukunft verbindet.<br />
Dieses Bewusstsein einer universellen <strong>Zeit</strong>, die einer linear<br />
erlebten <strong>Zeit</strong> innewohnt und in dem Moment manifest<br />
wird, wenn sich deren Grenzen auflösen, wird für<br />
den Betrachter stark erfahrbar in der Arbeit Licht,- gefangen<br />
im Bauch des Wals (2002). Ein langer goldener<br />
Stab, der an der Decke montiert ist, schreibt wie ein magischer<br />
Griffel in regelmäßigen Abständen kleine Strudel<br />
und Wellen in die Wasseroberfläche eines schwarzen<br />
Bades. In einem dunklen Raum sind die Buchstaben<br />
eines Gedichtes, dessen Verse von der Geburt eines Ur-<br />
Klangs erzählen, in kreisender Bewegung auf die Wände,<br />
den Fußboden und auf den Wasserspiegel projiziert.<br />
Immer, wenn der Stab Zeichen in das Wasser schreibt,<br />
zerfließen die Buchstaben und werden zu einer neuen,<br />
gegenläufigen Schriftdynamik, die sich leuchtend im<br />
Dunkeln ausbreitet.<br />
Worte sind geformter Atem. Sprach- und Atemenergie<br />
sind hier verbunden zu einem Bild. Die Dunkelkammer<br />
des Körpers wird zum Innenraum des Unterbewusst-<br />
4 <strong>rebecca</strong> <strong>horn</strong><br />
U n i v e r s e l l e Z e i t<br />
„<br />
Die Skulptur von <strong>rebecca</strong> <strong>horn</strong><br />
vollzieht sich als energetisches<br />
ereignis in dem physikalisch<br />
messbaren Spannungsfeld der<br />
Gravitation.<br />
“<br />
seins, möglicherweise eines riesigen unbegrenzten Gedächtnisses,<br />
in das hie und da das Licht des Bewusstseins<br />
fällt. Diese Arbeit gehört zu den ersten, die eine<br />
choralartige Komposition des Musikers Hayden Chisholm<br />
einbezieht und damit zum Klangraum wird. Ein<br />
Denk- oder Andachtsraum 8 ist hier geöffnet, in dem der<br />
Besucher Vorstellungen einer phonetischen Kosmogenie<br />
9 und Genese nachvollziehen kann.<br />
Gleichzeitig aber könnte man diesen nächtlichen Raum<br />
der Lichtzeichen vergleichen mit einer Malerei von<br />
2004/08: Urwolke heißt eine Himmelsexplosion, in der<br />
Fluggesten von sprühenden blauen Wasserspuren ein<br />
Zentrum umkreisen (Abb. 6). Wiederum führt eine federartig<br />
leichte Vertikale, eine rötlich pulsierende Achse<br />
durch eine verdichtete, pulsierende Mitte. Dass wir hier<br />
in einem „Lichtraum“ sind und uns von alltäglichen <strong>Zeit</strong>-<br />
und Raumgrenzen abgewendet haben, wird deutlich,<br />
wenn wir am rechten unteren Bildrand, ganz winzig, wie<br />
aus sehr großer Ferne gesehen, die Andeutung einer<br />
Bergkontur erkennen. Genau davon spricht Bergson:<br />
von der „fluidité même de notre vie intérieure“ 10 , deren<br />
absolute Freiheit wir erst dann erleben können, wenn<br />
wir die Einteilungen der spezifischen Zeichen hinter uns<br />
lassen.<br />
o p e r n a r b e i t e n<br />
Diese pulsierende, fließende, vom Wind getriebene, fliegende<br />
Malerei wird in ihrer ganzen Dimension erkennbar<br />
in allerjüngsten Operninszenierungen. 2008 führte Rebecca<br />
Horn im Rahmen der Salzburger Festspiele bei<br />
Sciarrinos Oper Luci mie traditrici, die dem Leben des<br />
Carlo Gesualdo gewidmet ist, Regie und gestaltete das<br />
Bühnenbild. Da sie also alle Fäden der Aufführung in der<br />
Hand hatte, konnte sie in großer Freiheit verfahren und<br />
erfüllte sich einen Lebenstraum: Malerei im Raum zu<br />
schaffen. Nach einer seit langem schon selbst erdachten<br />
Technik erschienen Bildprojektionen freischwebend im<br />
Bühnenraum. Während der Proben aber stand die Künstlerin<br />
an einer Art zweitem Dirigentenpodest, einem elektronischen<br />
Mischpult, auf dem sie mit Zweigen, Rosenblättern<br />
und Pigmentwirbeln über einen Bildschirm in<br />
die projizierten Bilder eingreifen konnte. Diese bildnerischen<br />
Eingriffe, die im Einklang mit dem Ablauf von<br />
Musik und Handlung präzis kalkuliert waren, wurden<br />
wiederum von Kameras in einem bestimmten Winkel auf<br />
die Projektion im Raum appliziert, sodass der Betrachter<br />
sie in der Bewegung sah.<br />
Die malerischen Eingriffe wurden während der Proben<br />
ausgeführt und während der Vorstellungen projiziert.<br />
Der Betrachter erlebte eine Malerei, die wie von Geister-