Vector 2 - Kolleg Schöneberg
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ihm herumrangiert und er deswegen<br />
die U-Bahn verpasst, die ihn pünktlich<br />
zum Unterricht gebracht hätte, getreu<br />
dem Motto “zwei Minuten vor der Zeit,<br />
das ist die Karlsche Pünktlichkeit”. Jetzt<br />
ist er gezwungen fünf Minuten später<br />
in den Klassenraum zu stürzen, ohne<br />
vorher die gewohnte Zigarette konsumieren<br />
zu können. Sein ganzer Tagesplan<br />
gerät durcheinander! Und wer hat<br />
Schuld daran? Der Groll regt sich in<br />
Karl und Blitze durchbohren die imaginäre<br />
persönliche Wolke über seinem<br />
Kopf. Die Wut verlangt schreiend nach<br />
Rache und Gerechtigkeit. Am liebsten<br />
würde er den Kinderwagen umwerfen<br />
und die dämliche Mutter aus dem Weg<br />
schubsen, damit er endlich seine Zeitung<br />
lesen kann! Die junge Mutter wirft<br />
ihm lächelnd einen entschuldigenden<br />
Blick zu und Karl, der Mühe hat seinen<br />
Groll so eilig zu verbergen, verzieht<br />
nur schnell das Gesicht zu einem<br />
hastigen, asymetrischen Lächeln und<br />
wünscht murmelnd einen guten Morgen,<br />
während er mit der rechten Hand<br />
nach der Zeitung grapscht und die Linke<br />
das Geld passend abgezählt in die<br />
Münzschale wirft.<br />
Angewidert von diesem bisher unerträglichen<br />
Tag betritt er schließlich das<br />
Schulgebäude und schlägt wie gewohnt<br />
einen Bogen um die kleinen Grüppchen<br />
von Schülern, die sich, ohne ihn weiter<br />
zu beachten, wie immer über lächerlichen<br />
Kinderkram amüsieren, während<br />
sie die Treppen zu den Klassenräumen<br />
hochstapfen.<br />
Der Unterricht verläuft wie gewohnt unterhalb<br />
seines geistigen Niveaus ab – das<br />
schließt eine Beteiligung selbstverständlich<br />
aus. Nicht, dass er die besten Noten<br />
hätte. Sein mittelmäßiger Notendurchschnitt<br />
spiegelt lediglich die Antipathie<br />
seiner Lehrer wieder, die sein wahres Potenzial<br />
nicht erkennen und sich an den<br />
Schülern ergötzen, die mit ihren mittelmäßig<br />
qualifizierten Beiträgen das<br />
Unterrichtsniveau auch noch lauthals<br />
unterstützen. Wie Grundschüler, die es<br />
kaum erwarten können zu ihren Hüpfgummispielen<br />
zu flüchten, rennen Karls<br />
<strong>Kolleg</strong>iaten überpünktlich zum Pausenklingeln<br />
die Treppen hinunter in den<br />
Hof um sich mit ihren unerträglichen<br />
und unermüdlichen Plappermäulern an<br />
ihren Zigaretten festzusaugen. Karl folgt<br />
ihnen langsam, platziert sich mitten in<br />
die Massen der Schüler und ist doch<br />
allein. Beinahe allein. Der einzige, der<br />
seine Nähe sucht, ist der schweigsame<br />
Freak Horst aus seinem Semester. Karl<br />
mustert ihn flüchtig mit einem schnellen<br />
Seitenblick und nuschelt ein gelangweiltes<br />
” ’n Morgen“ in seine Richtung,<br />
bevor er, den schnatternden Haufen seiner<br />
<strong>Kolleg</strong>iaten ignorierend, weiter die<br />
neue Lampenkonstruktion an der Eingangstür<br />
betrachtet. Wieder spürt er<br />
enormen Groll in sich aufsteigen. Unsummen<br />
müssen diese Ungetüme von<br />
Lampen gekostet haben! Geld, das der<br />
Schule sicherlich an allen Ecken und<br />
Enden nun fehlt! Hätte man dieses Geld<br />
nicht sinnvoller woanders verwenden<br />
können? fragt er sich wütend insgeheim.<br />
Nicht, dass Karl besonders interessiert<br />
daran wäre, wofür die Schule<br />
Geld ausgibt, oder ob neue Lampen<br />
wirklich sinnvoll waren. Vielmehr fühlt<br />
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