Ausgabe 05/2009 - Wagner-Joos Rechtsanwälte
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� Beiträge Leitender Oberstaatsanwalt Folker Bittmann Rechtssicherheit contra Dynamik der Rechtsentwicklung<br />
2 a) Stellte der 1. Strafsenat für die Steuerhinterziehung aber<br />
wirklich auf eine einheitliche Grenze ab? Bei genauerem<br />
Hinsehen entstehen Zweifel. Der Tatbestandsstruktur des<br />
§ 370 Abs. 1 AO folgend will der BGH die Grenze von<br />
50.000 EUR nämlich nur für die Fälle tatsächlich eingetretenen<br />
Steuerschadens angewendet sehen. Bei bloßer Gefährdung,<br />
vgl. § 370 Abs. 4 S. 1 AO, verdoppele sich in den<br />
Fällen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO die Grenze des § 370 Abs. 3<br />
S. 2 Nr. 1 AO auf 100.000 EUR. 12 Das verwundert.<br />
b) Angesichts der weitgehenden Parallelität zwischen § 370<br />
AO und den allgemeinen Vermögensdelikten hätte man<br />
doch auch insoweit erwarten dürfen, daß sich der BGH an<br />
die Rechtsprechung zu Betrug und Untreue anlehnt. Betrachtet<br />
man die dafür einschlägigen Judikate, so stellt man<br />
verwundert fest, daß der BGH in den Betrugs- und Untreuefällen<br />
bei lediglich schadensgleicher Vermögensgefährdung<br />
die Annahme eines in großem Ausmaß eingetretenen Schadens<br />
gänzlich ablehnte! 13 Das aber soll nicht auf § 370 AO<br />
übertragbar sein. Einen Grund dafür gibt der Senat nicht<br />
an.<br />
c) Hinzu kommt, daß der Stand der Rechtsprechung, der<br />
zur Zeit der Entscheidungen über das Nichtvorliegen eines<br />
Schadens in großem Ausmaß in den Gefährdungsfällen bei<br />
den allgemeinen Vermögensdelikten aktuell war, inzwischen<br />
als überholt angesehen werden muß. Mag auch noch<br />
nicht gänzlich klar sein, ob die ‚schadensgleiche Vermögensgefährdung‘<br />
bereits im Grab liegt – so nach der Rechtsprechung<br />
des 1. Strafsenats 14 – oder doch noch auf der<br />
Intensivstation versorgt wird – so die Position des 2. Strafsenats<br />
15 und seines herausgehobenen Mitglieds Fischer 16 – so<br />
hat sich doch mittlerweile die Erkenntnis Bahn gebrochen,<br />
daß die Tatbestandsmäßigkeit sowohl des Betrugs als auch<br />
der Untreue nur dann zu bejahen ist, wenn bereits im Zeitpunkt<br />
der Tathandlung eine Minderung des betroffenen<br />
Vermögens eingetreten ist. Der Unterschied zwischen den<br />
bisher als Fälle der schadens- bzw. nachteilsgleichen Vermögensgefährdung<br />
bezeichneten Sachverhalte zu den sonstigen<br />
besteht demnach lediglich darin, daß ersterenfalls<br />
noch kein Vollverlust zu verzeichnen ist. Es besteht demnach<br />
also kein qualitativer, sondern lediglich ein quantita-<br />
tiver Unterschied. Problematisch ist demzufolge allein die<br />
Frage der Bewertung. Auf alles andere kommt es nicht an.<br />
d) Konsequenterweise müßte also der BGH bei sich bietender<br />
Gelegenheit seine Rechtsprechung dahingehend an<br />
die neue Rechtsentwicklung anpassen, daß auch in Konstellationen,<br />
die hergebracht als schadens- bzw. nachteilsgleiche<br />
Vermögensgefährdung angesehen wurden, eine<br />
Vermögensminderung großen Ausmaßes bejaht werden<br />
muß: Eben wenn die Gegenleistung bereits im Moment der<br />
Tathandlung im Wert um mindestens 50.000 EUR hinter<br />
der vertraglich geschuldeten zurückbleibt. Eine später doch<br />
in größerem Wert erbrachte Gegenleistung stellt nur eine<br />
allein strafzumessungsrelevante Schadenswiedergutmachung,<br />
u.U. also eine Vollkompensation der Indizwirkung<br />
des Regelbeispiels dar.<br />
3 a) Was heißt das nun für § 370 AO? Ob der Täter mit<br />
Scheinrechnungen 50.000 EUR Vorsteuern ergaunerte oder<br />
aufgrund einer manipulierten Steuererklärung 50.000 EUR<br />
zu wenig Steuern festgesetzt wurden, ist sowohl für den Tatbestand<br />
als auch für die Frage nach dem Vorliegen eines<br />
Steuerschadens in großem Ausmaß irrelevant.<br />
b) Bedeutet das, daß nunmehr bei jeder auch nur kurzfristigen<br />
Versäumnis eines Termins zur Abgabe einer Steuererklärung,<br />
die zur Festsetzung einer Steuerschuld ab 50.000<br />
EUR führen würde, ein Fall besonders schwerer Steuerhinterziehung<br />
vorliegt? Bestimmt nicht! Maßgeblich ist, was der<br />
Täter beabsichtigte: Lag ihm das Herbeiführen einer Steuerverkürzung<br />
(z.B. aufgrund Überlastung oder mangelnder<br />
Sorgfalt) fern, so kommt bestenfalls eine Ordnungswidrigkeit<br />
nach § 378 AO in Betracht. Wollte er die Steuererklä-<br />
12 A.a.O., Fn. 1, Rn. 39.<br />
13 BGH, NJW 2003, 3717, 3718 f.; StV 2007, 132.<br />
14 BGH, wistra 2008, 343 ff.; <strong>2009</strong>, 232 ff.<br />
15 BGHSt 52, 323 ff. (Siemens).<br />
16 Fischer, StGB, 56. Aufl., München <strong>2009</strong>, Rn. 72 – 72d zu § 266 StGB<br />
(auch unter Hinweis auf Rn. 94 ff. zu § 263 StGB); ders., Miebach-<br />
Sonderheft der NStZ <strong>2009</strong>, S. 8 ff.<br />
168 steueranwaltsmagazin 5 /<strong>2009</strong>