THEMAWOHNBAUGENOSSENSCHAFTEN UND FLÜCHTLINGEBeziehung mitHindernissenTEXT: LIZA PAPAZOGLOUSolidarität und soziale Durchmischung sind fürdie meisten Wohnbaugenossenschaften wichtigeWerte. Dass davon auch <strong>Flüchtlinge</strong> profitierenkönnen, zeigen beherzte Beispiele. Sie sind allerdingsrar und sollten vermehrt Schule machen.Helfen, weil grosse Not herrscht – das wollenganz pragmatisch die Bewohner einer ZürcherGenossenschaft. Angeregt von einerFeier zu Ehren des Schul- und SozialreformersHeinrich Pestalozzi, beschliessen siekurzerhand, Waisen und Halbwaisen aus einerzerbombten und kriegsversehrten Stadtzu einem Erholungsurlaub einzuladen.Schnell melden sich 120 Familien, die bereitsind, ein Kind für drei Monate bei sich zuhauseaufzunehmen. Dies notabene in einemQuartier, wo in kleinen Reihenhäuschen vielenicht eben auf Rosen gebettete Arbeiterfamilienwohnen, die in vielen Fällen bereitsselber vier Kinder zu ernähren haben.Beachtliche SolidaritätswelleSchliesslich verbringen 23 Mädchen und 65Buben bei temporären Pflegeeltern einenSommer, in dem sie eine sichere Unterkunftund genug zu essen haben, spielen können,an Festen teilnehmen, wieder lachen lernen.Dank Spenden von Genossenschaftern werdensie mit Schuhen und Wäsche ausstaffiert,Freiwillige leihen Kinderbetten und Matratzenaus, stricken Socken, schneidern Kleider,organisieren Ausflüge. Die Stadt stellt ausserdemSchulzimmer, Lehrer und ärztliche Betreuungzur Verfügung. Nach dem Aufenthaltbleiben viele der Kinder mit ihren Gastelternnoch über Jahrzehnte in Kontakt.Gross angelegt und vielbeachtet war dieAktion «Hilfe für Wien» der Familienheim-Genossenschaft Zürich (FGZ) von 1946. DieNot der Nachkriegszeit löste diese Solidaritätswelleaus, beflügelte die FGZ zu dieseraus serordentlichen Leistung und ihre Bewohnerzu viel persönlichem Engagement.Schwierige GrundsatzfragenSolche eindrücklichen Solidaritätsaktionensind das eine. Etwas anderes ist es, wenn esums Grundsätzliche geht. Wenn bedürftigeMenschen nicht eingeladen werden, sonderneinfach kommen – ungebeten und zahlreich,legal oder illegal, aus ganz verschiedenenund teils sehr fernen Gegenden derWelt. Wenn man sich als Genossenschaft derFrage stellen muss, ob man auch Wohnraumfür Leute bietet, die aus ihrer Heimat fliesehnmussten und hier versuchen, eine neueExistenz aufzubauen – mit rechtlich teils unsicheremStatus, manchmal ohne Arbeit undauf staatliche Unterstützung angewiesen.Wenn die genossenschaftlichen GrundwerteSolidarität, soziale Durchmischung undNichtausgrenzung der Schwachen, die in derCharta der gemeinnützigen Wohnbauträgerverankert sind, plötzlich vor einem veritablenHärtetest stehen.Einzelfälle statt StrategieDabei geht es nicht um Einzelfälle. Die gibtes durchaus, und immer wieder. So stiessenetwa die Ungarn, die nach dem gescheitertenVolksaufstand und dem Einmarsch derFoto: Stiftung DomicilSowjetarmee 1956/57 flohen, in der Schweizauf viel Sympathie. Dokumentiert sind einigeFälle, in denen Genossenschaften Familienaufnahmen und mit grosszügigen Spendenin Form von Geld, Möbeln, Hausgeräten,Geschirr, Bettwäsche, Kleidern und Lebensmittelnunterstützten. Auch in neuerer Zeitlassen sich immer wieder individuelleBeispiele finden, wo Flüchtlingsfamilien,manchmal auch eher zufällig, bei einer Genossenschaftunterkommen.Was hingegen bei den meisten Genossenschaftenfehlt, ist eine Strategie, wie sie mit<strong>Flüchtlinge</strong>n umgehen, oder ein Bekenntnis,dass diese willkommen sind. Und dies, obwohldas Thema seit Monaten traurige Aktualitätgeniesst. Kriege, Terror und Verfolgung,Bootsflüchtlinge und überforderteAufnahmestaaten machen regelmässigSchlag zeilen. Noch nie seit dem ZweitenWeltkrieg gab es so viele Menschen auf derFlucht. Das macht sich auch in der Schweiz4 Juli/August 2015 – extra
THEMAEs braucht mehr Mut«Selbstverständlich!» Diese dezidierte Meinungvertritt die junge Genossenschaft Kalkbreitein Zürich. GeschäftsleitungsmitgliedSabine Wolf und Doro Sacchi von der Vermietungskommissionsagen es klipp und klar:«Wir kontrollieren den Aufenthaltsstatus einesMenschen nicht, der interessiert unsnicht. Bei uns kommen grundsätzlich alle alsMieter in Frage, die zu einem StichdatumGenossenschafter waren.» Bei der Vermietunghält sich die Kalkbreite an die Grundbemerkbar,wo seit einigen Monaten dieZahl der Asylanträge deutlich steigt (sieheKasten Seite 7). Bei Genossenschaften hatdas bis jetzt erstaunlich wenig Widerhallausgelöst – Solidaritätsbekundungen, Hilfsaktionenoder gar Anpassungen der strengenVermietungspraxis sucht man vergebens.«Genossenschaften müssenihren gesellschaftlichenAuftrag ernst nehmen.»Kaum Chancen für Leute imAsylverfahrenAuch Zahlen fehlen weitgehend. Von rundeinem Dutzend angefragten Genossenschaftenerhebt zwar die Mehrheit den Anteil vonBewohnern mit Schweizer beziehungsweiseausländischem Pass. Ob oder wie vieleFlüchtlingsfamilien bei ihnen wohnen, wissensie aber meist nicht. Das hat zwei Grün-de: Genossenschaften vermieten Wohnungenin der Regel ausschliesslich an Personen,die mindestens eine B-Niederlassung besitzen,was bei <strong>Flüchtlinge</strong>n einen positivenAsylentscheid voraussetzt. Diese fallen dannstatistisch unter die übrigen Ausländer. Oderaber die Vergabe erfolgt über eine Drittorganisation,die Wohnungen an Menschen vermittelt,die es schwer haben auf dem Wohnungsmarkt;bei diesen Mietverhältnissenkennen die Genossenschaften den Aufenthaltsstatusder Bewohner meist nicht.Auch wenn also der Anteil von <strong>Flüchtlinge</strong>nin Genossenschaften nicht bezifferbarist: Die verfügbaren Informationen lassenden Schluss zu, dass er gering ist. Und sichhäufig auf Menschen beschränkt, die bereitseinigermassen integriert sind, eine Arbeitund gewisse Deutschkenntnisse haben. Indie Schweiz geflüchtete Menschen hingegen,die noch im Asylverfahren stehen odernur vorläufig aufgenommen sind, haben<strong>Flüchtlinge</strong> haben es oft schwer, beiGenossenschaften unterzukommen. Dankder Stiftung Domicil fand die Familie H.aus Somalia 2012 in der Siedlung Heizenholzder Zürcher Genossenschaft Kraftwerk1ein neues Heim.kaum Chancen, bei einer Genossenschaft unterzukommen.Doch ist das überhaupt derenAufgabe?Juli/August 2015 –extra5