THEMAsätze der sozialen Durchmischung, die in einemReglement klar festgehalten sind undsich am Quartier- sowie am SchweizerDurchschnitt orientieren. Neben der Nationalitätspielen dabei auch Faktoren wie Einkommen,Alter oder Ausbildung eine Rolle.Die Kalkbreite bekennt sich dazu, auchLeuten die Türe zu öffnen, die sonst nicht inGenossenschaften kommen. Sabine Wolf:«Genossenschaften müssen ihren gesellschaftlichenAuftrag ernst nehmen. Dazu gehört,sich mit drängenden Fragestellungenauseinanderzusetzen und eine Haltung dazuzu entwickeln.» Dass <strong>Flüchtlinge</strong> in dieSchweiz kommen und es besonders schwerhaben, günstigen Wohnraum zu finden, isteine Tatsache. Der müsse man sich stellen.Dabei seien Offenheit, pragmatisches Vorgehen– etwa bei Leuten mit wenig Geld fürAnteilscheine – und Mut gefragt. Bis jetzt habeman so noch meistens eine gute Lösunggefunden. Die Genossenschaft ist denn auchgut vernetzt mit Menschen und Organisationen,die sich des Themas annehmen. Sie vermietetRäume an die Sans-Papiers-AnlaufstelleZürich (SPAZ). Zudem bietet sie derAsylorganisation Zürich (AOZ) freiwilligRaum für Notwohnungen in ihrem geplantenzweiten Neubau an der Zollstrasse an und arbeitetmit der Stiftung Domicil zusammen.Foto: Ursula MarkusAuch eine Realität: So können Wohnungen aussehen, wenn <strong>Flüchtlinge</strong> auf sichselbst gestellt eine Unterkunft beschaffen müssen. Hier und heute, in der Schweiz.Der Weg über InstitutionenSo offensiv wie die Kalkbreite gehen nur wenigeGenossenschaften ans Thema heran.Immerhin gibt es einige, die klare Vorgabenzur Durchmischung der Bewohnerschaft machenoder einen bestimmten Anteil an Wohnungensozialen Organisationen zur Verfügungstellen – beim Vorzeigeprojekt mehr alswohnen in Zürich etwa sind es zehn Prozent,bei der Allgemeinen Baugenossenschaft Zürich(ABZ) drei, bei der FGZ eines. Dabeiwerden verschiedene Zielgruppen berücksichtigt,neben Menschen mit Migrationshintergrundzum Beispiel Behinderte, Betagte,Jugendliche oder Personen, die über städtischeÄmter platziert werden.Eine der Institutionen, die <strong>Flüchtlinge</strong>nden schwierigen Weg in eine Genossenschaftebnet, ist die Stiftung Domicil in Zürich. Wiebei den ähnlich funktionierenden IG <strong>Wohnen</strong>in Basel oder Casanostra in Biel steht ihrVermittlungsangebot grundsätzlich allenMenschen offen, die es schwer auf dem Wohnungsmarkthaben. Ganz auf <strong>Flüchtlinge</strong>spezialisiert ist einzig die Fachstelle <strong>Wohnen</strong>Bern (siehe Seite 11). Bei der Stiftung Domicilhaben gemäss Geschäftsleiterin AnnalisDürr neunzig Prozent der Leute, die beiihr anklopfen, einen Migrationshintergrund.«In Einzelfällen wirdgeholfen. Was fehlt,ist eine Strategie.»Durchzogene BilanzDie Stiftung vermittelte letztes Jahr insgesamt105 Wohnungen, rund dreissig davonvon Genossenschaften – so viele wie nie zuvor.Zu den fünfzig Genossenschaften, mitdenen Domicil in zwanzig Jahren zusammengearbeitethat, gehören traditionelleund neue, grosse und kleine, die zwischeneiner und hundert Wohnungen zur Verfügunggestellt haben. Erfreulich ist, dass jüngerewie Kraftwerk1, Kalkbreite oder mehrals wohnen bereits bei der Planung von Neubautenvon sich aus auf Domicil zugekommensind. Jedes Jahr sind es mehr, es gibtaber auch Genossenschaften mit riesigemWohnungsportfolio, die ganz verzichten. Dagebe es schon noch Luft nach oben, meintAnnalis Dürr. Eine Erfahrung, die sie mit derIG <strong>Wohnen</strong> in Basel teilt. Diese zählt zwarauch Genossenschaften zu ihren Partnern –deren Zahl lässt sich aber an einer Hand abzählen.Es sei wirklich «ganz, ganz schwierig»,Zugang zu ihnen zu erhalten, sagt AnnePlattner von der Geschäftsstelle.Dort, wo eine Zusammenarbeit besteht,sind die Erfahrungen in Zürich aber auf beidenSeiten positiv. Domicil übernimmt dieSolidarhaftung für die Mietverträge, womitdie Vermieter vor finanziellen Risiken durchAusfälle geschützt sind. Sie schlägt auch dieMietparteien vor. Dabei, so die Geschäftsleiterin,frage man aber immer, was bei einerPlatzierung gehe und was nicht – schliesslichsollen die Mieter in ihrem Umfeld akzeptiertwerden, was je nach Herkunft, Familiensituationoder Hautfarbe nicht immer der Fall sei.Erfolgsmodell BetreuungVor allem aber betreut und begleitet Domi cilseine Mieterinnen und Mieter intensiv: Esunterstützt sie bei der Integration, erklärt,wie eine Genossenschaft funktioniert undwas von den Bewohnenden erwartet wird.Annalis Dürr weist darauf hin, dass viele<strong>Flüchtlinge</strong> aus Kulturkreisen kommen, wodie Gemeinschaft und nicht das Individuumim Vordergrund steht. Sie seien deshalb prädestiniertfür Genossenschaften, müsstendas System aber verstehen und aktiv einbezogenwerden. Bei Bedarf führt Domicil auchWohntrainings durch, etwa zum Gebrauchvon Geräten oder der Hausordnung. Auchbei Konflikten vor Ort ist die Stiftung Anlaufs-und Vermittlungsstelle. Das wird vonden Verwaltungen sehr geschätzt. AnnalisDürr: «Für die Genossenschaften dürfte dieBegleitung durch uns der wichtigste Teil amGanzen sein.»Das bestätigen die Genossenschaften.Auch die ABZ, die am meisten Wohnungenan Domicil vermietet. «Wir machen sehr guteErfahrungen mit diesem Modell», sagtMartina Ulmann, die in der ABZ-Geschäfts-6 Juli/August 2015 – extra
THEMA«Wer noch im Asylverfahrensteht, kommt kaum bei einerGenossenschaft unter.»leitung für Mitglieder und <strong>Wohnen</strong> zuständigist. Dank der guten Begleitung funktioniertensolche Mietverhältnisse einwandfrei.Bei positivem Verlauf werden sie denn auchin reguläre umgewandelt und die Mieter zuGenossenschaftern. Auch Rita Feurer, dieGeschäftsführerin der BaugenossenschaftSüd-Ost Zürich, schätzt das professionelleBegleitangebot. «Wir selber hätten wederRessourcen noch Kompetenzen für eine intensiveBetreuung.» Es sei für die Genossenschafthilfreich, wenn eine klare Ansprechpersonda ist, die die Verantwortung übernimmt.Auch sie hat nur positive Erfahrungengemacht. Eine gute Betreuung könnezudem die Akzeptanz bei anderen Mieternverbessern.TabuzoneDie Akzeptanzproblematik erklärt mindestensteilweise die Zurückhaltung von Genossenschaftengegenüber <strong>Flüchtlinge</strong>n. Dennbisweilen sind Vorstände und Verwaltungendurchaus offen – nur spielen die Mieter nichtmit. Ein heikles Thema, geprägt von Ängstenund Vorurteilen. Rita Feurer bringt es so aufden Punkt: «Wir haben Liegenschaften mit50 Wohnungen und 13 Nationen, wo das Zusammenlebenohne grössere Probleme funktioniert.In anderen Siedlungen, wo vorwiegendSchweizer leben, gab es einen Riesenaufruhrund heftigste Vorwürfe, als die ersteFrau mit Kopftuch einzog.» Bei der Platzierungschaue sie daher sehr sorgfältig auf diebestehende Umgebung und die richtige Zusammensetzungund biete Domicil in kleinenLiegenschaften nicht mehr als eine Wohnungan.Deshalb findet Rita Feurer Quoten nichtsinnvoll. Man müsse fallweise entscheidenkönnen und angesichts der sehr unterschiedlichenSiedlungen schauen, was jeweils passe.«Da kann man nur mit einer ganz pragmatischenHandhabung weiterkommen.Macht man zu stark Druck, ist das kontraproduktiv».Sie setzt lieber auf behutsames Vorgehenund Massnahmen, die das gegenseitigeKennenlernen und Vernetzen ganz allgemeinunterstützen, wie Zuzügerapéros oderAktivitäten für Kinder. Durch direkten Kontaktwürden gegenseitige Vorurteile am einfachstenabgebaut.<strong>Flüchtlinge</strong> in ZahlenEs wäre mehr möglichDabei gibt es durchaus beherzte Lösungenmit hohem Verbindlichkeitsgrad, wie einBlick nach Deutschland zeigt. So hatdie Wankendorfer Baugenossenschaft fürSchles wig-Holstein, die in mehreren Ortenüber 8000 Wohnungen besitzt, 2014 den Gemeindenangeboten, jede zehnte freiwerdendeWohnung für <strong>Flüchtlinge</strong> zur Verfügungzu stellen. Dazu wurde mit dem regionalenStädteverband ein Mustervertrag erarbeitet,der den spe ziellen rechtlichen AnforderungenRechnung trägt. Bereits hat die Wankendorfermehr als 200 Wohnungen an Asylbewerberfamilienund -wohngemein schaftenvergeben. Die Erfahrungen sind überwiegendpositiv. Wesentlich dazu bei trägt nebeneiner sorgfältigen Auswahl der Nachbarschaftauch das Selbstverständnis der Genossenschaft:Sie spricht <strong>Flüchtlinge</strong> explizit anund bekennt sich zu einer Willkommenskultur.Auch hierzulande könnten Genossenschaftenmehr tun, findet Urs Hauser, Direktordes Verbands WohnbaugenossenschaftenSchweiz: «Mittlere Genossenschaften könnenes verkraften, einen gewissen Anteil an<strong>Flüchtlinge</strong>n aufzunehmen. Wenn der Bedarfda ist, sollten sie dies auch tun.» Dafürbrauche es aber professionelle Verwaltungen,die die besonderen rechtlichen und sozialenAnforderungen bewältigen könnten,einen entsprechenden Liegenschaftenbestandund eine externe Begleitung. Nochbesser genutzt werden könnten zudem Abbruchliegenschaften,die auch <strong>Flüchtlinge</strong>nmit unsicherem Status Unterkunft bieten. EinigeGenossenschaften machen dies bereits.Vielleicht findet er ja Gehör. Mehrere derbefragten Genossenschaften jedenfalls zeigensich offen gegenüber Appellen durch Gemeindenoder Organisationen und wärenbereit, an entsprechenden Aktionen teilzunehmen.Denn, so Rita Feurer: «Wir habeneine soziale Verpflichtung. Wir wohnen in einemLand mit einer traditionell offenen Haltunggegenüber <strong>Flüchtlinge</strong>n. Wir sollten ihneneine Chance geben, hier Fuss zu fassen.»– Derzeit liegt die Zahl der <strong>Flüchtlinge</strong>, Asyl suchenden und Binnenvertriebenen weltweit beinahezu 60 Millionen; 2013 war die 50-Millionen-Marke erstmals seit dem Zweiten Weltkriegüberschritten worden.– 23 765 Personen haben 2014 in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt, etwa zehn Prozentmehr als im Vorjahr. Die wichtigsten Herkunftsländer waren Eritrea, Syrien, Sri Lanka, Nigeria,Somalia, Afghanistan, Tunesien, Marokko, Georgien und Kosovo.– Seit Ausbruch des Krieges in Syrien im März 2011 hat die Schweiz bis Ende 2014 7700Asylgesuche von syrischen Staatsangehörigen entgegengenommen. 95 Prozent der syrischen<strong>Flüchtlinge</strong> finden in den Nachbarländern Zuflucht; 1,6 Million sollen es in der Türkeisein, 1,2 Millionen im Libanon – das entspricht fast einem Viertel der Gesamtbevölkerung.– Das Staatssekretariat für Migration hat 2014 6199 Asylgesuche gutgeheissen. Die Anerkennungsquotebeträgt damit 25,6 Prozent.– 9367 Personen wurden 2014 in der Schweiz vorläufig aufgenommen, 2287 Personenerhielten dank der Härtefallregelung eine Aufenthaltsbewilligung.– Ende Dezember 2014 lebten in der Schweiz 34 724 anerkannte <strong>Flüchtlinge</strong> mit Ausweis Boder C, was 0,4 Prozent der gesamten Wohnbevölkerung entspricht. Rechnet man alle Personenhinzu, die sich noch im Asylverfahren befinden oder die mit vorläufiger Aufnahmebeziehungsweise negativem Asylentscheid hier leben, waren insgesamt 88 501 Personendem Asylbereich zuzurechnen. Dies macht rund ein Prozent der Wohnbevölkerung aus.– In der ersten Jahreshälfte 2015 gelangten 137 000 <strong>Flüchtlinge</strong> übers Mittelmeer nach Europa– 83 Prozent mehr als im gleichen Vorjahreszeitraum. Über 1800 Menschen ertranken.– Für 2015 rechnet man mit 27 000 bis 31 000 Asylanträgen in der Schweiz; seit Mai sind dieGesuchszahlen überdurchschnittlich hoch, was zu Engpässen bei den Asylstrukturen führte.Quellen: Staatssekretariat für Migration, UNHCRJuli/August 2015 –extra7