Die-Jahrhundertluege-V6_1
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<strong>Die</strong> real existierende Gewaltenteilung<br />
<strong>Die</strong> Theorie vom »offensichtlichen Wissen« sagt, dass manche Dinge so vertraut erscheinen, dass sich<br />
die Menschen nicht mehr darum kümmern, ob es auch stimmt, was sie zu wissen glauben. So leben oft<br />
Fehlinformationen über Generationen fort.<br />
"Gewaltenteilung" ist ein Begriff, den wir aus dem Munde von Lehrern und Politikern gewohnt sind. Es<br />
ist ein in Deutschland hochgehaltener Begriff. Dass Deutschland ein gewaltengeteilter Staat ist, steht im<br />
Text des Grundgesetzes und wird jungen Menschen schon deshalb täglich als offenkundig feststehende<br />
Tatsache gelehrt. In welchem Maße findet aber die Gewaltenteilung auch in der deutschen<br />
Lebenswirklichkeit statt? Der Zweck der Gewaltenteilung wird nur erreicht, solange die verschiedenen<br />
Gruppen von Staatsorganen sich wechselseitig wirksam kontrollieren.<br />
Funktioniert die Gewaltenteilung in Deutschland tatsächlich? Wird ihr Zweck in zureichendem Maße<br />
erreicht? Bedenken sind angebracht: In Deutschland stellt die stärkste politische Partei oder<br />
Parteienkoalition die Regierung und die Mehrheit im Parlament und beherrscht beide Organe. In<br />
Deutschland wird die Justiz von der Regierung verwaltet. Wer aber kontrolliert die Regierung, wenn<br />
diese auf vielfältige, teils offene, meist subtile Weise ihre Kontrollorgane aussucht und<br />
beherrscht (z.B. durch eine gezielte Steuerung der Richterkarrieren)?<br />
Spiegeln die Unterrichtsmaterialien der Regierungen und die Reden der Politiker zu diesem Thema die<br />
tatsächliche Verfasstheit des deutschen Alltags wieder? Oder verhüllen sie eine Wirklichkeit, die nach<br />
dem Grundgesetz eigentlich sein sollte, aber nicht ist? Sollte letzteres zutreffen, aus welchem Grunde<br />
und mit welchen Folgen?<br />
Zur Einführung und zum besserem Verständnis für das Thema, schauen wir uns zuerst einmal die<br />
Situation der Gewaltenteilung in Italien und Deutschland grafisch an:<br />
• Im Gegensatz zu Italien, fand in Deutschland bis heute keine Übertragung der Rechtsprechenden<br />
Gewalt auf einen eigenen Machtträger statt. Wie Italien hat sich aber auch Deutschland für die<br />
verfassungsrechtliche Einführung einer Gewaltenteilung entschieden (Art 20 Abs. 2 und 3, 92 und 97<br />
Grundgesetz). <strong>Die</strong> Realisierung dieses Gedankens durch seine Umsetzung in konkrete<br />
Staatsstrukturen hat jedoch bis heute nicht stattgefunden. <strong>Die</strong> Rechtsprechende Gewalt ist nach<br />
wie vor in die Exekutive eingebunden.<br />
• In Deutschland wählt das Parlament nur die Spitze der Exekutive (den Regierungschef). Der<br />
Justizminister ist ein vom Regierungschef ernanntes Regierungsmitglied und führt die<br />
Rechtsprechende Gewalt als ein Ressort der Exekutive. <strong>Die</strong> Gerichte werden als "nachgeordnete<br />
Behörden" der Regierung gesehen und behandelt.<br />
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