20.11.2017 Views

SPECTRUM #5 2017

  • No tags were found...

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

Von der Verkrampfung im Kopf<br />

DOSSIER<br />

Sex. Überall. Im Alltag und in den Medien ist er so präsent wie noch nie. Einerseits mag diese<br />

Entwicklung äusserst befreiend sein, kann jedoch auch zu starkem Leidensdruck führen.<br />

© Illustration: Daniel Morgan<br />

REBEKKA CHRISTEN<br />

Vorbei sind die Zeiten, als sich Sexualität<br />

nur hinter verschlossenen<br />

Türen abspielte. Vielmehr ist sie nun<br />

Thema in Filmen, Musik, Literatur, Werbung<br />

– ja, wo denn eigentlich nicht? Diese<br />

Enttabuisierung ist auch in der Entwicklung<br />

des „Diagnostic and Statistical<br />

Manual of Mental Disorders“ (DSM) zur<br />

Diagnose psychischer Störungen zu erkennen.<br />

Im Vergleich zu den früheren<br />

vier Auflagen wurde im aktuellen DSM-5<br />

einiges gelockert. Sexuelle Präferenzen,<br />

die nicht der „Norm“ entsprechen, gelten<br />

nicht mehr unbedingt als psychische<br />

Störungen, der Normbegriff ist nun breiter<br />

gefächert. So war etwa Homosexualität<br />

1952 in der ersten Auflage des DSM<br />

noch in der Kategorie „Sexuelle Abweichungen“<br />

zu finden.<br />

Leidensdruck statt Entspannung<br />

Mit dem DSM-5 werden auch sexuelle<br />

Funktionsstörungen klassifiziert. Diese<br />

können in unterschiedlichen Phasen<br />

der sexuellen Interaktion vorkommen,<br />

wie etwa während der Lustentwicklung,<br />

der Erregung oder während des Orgasmus.<br />

Vornherein und ganz wichtig: Eine<br />

solche Störung wird erst diagnostiziert,<br />

wenn dadurch deutlicher Leidensdruck<br />

oder interpersonelle Schwierigkeiten<br />

entstehen. Frauen leiden dabei am häufigsten<br />

an Orgasmusschwierigkeiten<br />

und Störungen mit sexuell bedingten<br />

Schmerzen, Männer dagegen an Erektionsstörungen.<br />

Die Ursachen dieser<br />

Probleme können sehr verschieden sein,<br />

sind jedoch meist psychischer Natur. Oft<br />

entstehen sie durch Lernprozesse: Treten<br />

einmal Schwierigkeiten auf, kann<br />

das zu Erwartungsängsten führen. Die<br />

Angst vor Misserfolg nimmt zu, weshalb<br />

es zu einer Konditionierung der Angstreaktion<br />

kommen kann. Dies hat zur Folge,<br />

dass daraufhin viele zunehmend intime<br />

Situationen umgehen, wodurch keine<br />

positiven sexuellen Erfahrungen mehr<br />

erlebt werden – das Problem festigt sich.<br />

Was ist denn schon normal<br />

Sexuelle Funktionsstörungen stellen<br />

eine Seite der Sexualität dar, die meist<br />

verschwiegen bleibt. Wie bereits angesprochen<br />

ist heutzutage der Umgang<br />

mit dem Thema so offen wie noch nie.<br />

Jedoch werden dabei meist nur die positiven<br />

Aspekte beleuchtet: Sex geht immer,<br />

ist spektakulär, geil, was auch immer,<br />

auf jeden Fall nicht schlecht. Doch<br />

genau dadurch kann die eigentlich so<br />

befreiende Enttabuisierung der Sexualität<br />

zu einem enormen Leistungsdruck<br />

führen und so sexuelle Funktionsstörungen<br />

zusätzlich verstärken oder entstehen<br />

lassen. Weiter kann dadurch der<br />

Eindruck erweckt werden, dass die eigene<br />

Sexualität nicht „normal“ sei. Doch<br />

was ist dabei denn überhaupt normal?<br />

Normale Sexualität in dem Sinne ist in<br />

erster Linie befriedigend, ob alleine, zu<br />

zweit oder zu mehreren. Sie zeichnet<br />

sich aus durch Vielseitigkeit, ein breites<br />

Verhaltensrepertoire während dem Sex<br />

und durch eine offene Kommunikation<br />

darüber, was gefällt und was nicht. Eine<br />

genaue Definition ist jedoch schwierig.<br />

Einfacher ist zu bestimmen, was nicht<br />

normal ist, und das ist eben alles, was<br />

mit Leidensdruck verbunden ist.<br />

Entspannt euch mal<br />

Wurde nun einmal eine sexuelle Funktionsstörung<br />

entwickelt, gibt es zur Behandlung<br />

unterschiedliche Therapieformen<br />

mit guten Erfolgsaussichten.<br />

So kann nach nicht allzu langer Zeit die<br />

eigene Sexualität wieder oder überhaupt<br />

zum ersten Mal „normal“ ausgelebt werden.<br />

Damit das dann auch so bleibt oder<br />

gar nicht erst Leidensdruck entsteht, ist<br />

ein entspannter Umgang mit Sexualität<br />

wichtig: Sich klar zu werden, dass deren<br />

mediale Darstellung in vielen Fällen<br />

nicht echt ist, trägt dazu bei. So auch<br />

ein positiver Zugang zum eigenen Körper<br />

und Selbsterfahrung, sprich selbst<br />

zu wissen, was einem guttut. Denn<br />

schlussendlich ist Sex ja die schönste<br />

Nebensache der Welt, die in keinem Fall<br />

vernachlässigt werden sollte.<br />

Nachgefragt hat Spectrum bei Andrea<br />

Wyssen. Sie ist Psychotherapeutin und<br />

Expertin in den Bereichen Essstörung<br />

und Körperbild an der Universität<br />

Freiburg und hat sich für längere Zeit<br />

auch mit dem Thema Sexualität und<br />

sexuellen Störungen beschäftigt.<br />

11-12/ <strong>2017</strong><br />

15

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!