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Kunsttherapie – ein Selbstversuch<br />
DOSSIER<br />
Zeichnerisches Unvermögen und traumatische Erlebnisse? <strong>Spectrum</strong> war neugierig genug, um sich im Atelier<br />
von Sandrine Devaud einer Kunsttherapie zu unterziehen. Unsere Befürchtungen waren völlig unberechtigt.<br />
Wir betrachten unsere selbstgebastelten Collagen. Was sagen sie über uns aus?<br />
© Photo: Stephanie Rotzetter<br />
© Foto: Valentina Scheiwiller<br />
LAURENT OBERSON<br />
Schräg vis-à-vis der Bushaltestelle Gambach<br />
bei den Universitätsgebäuden<br />
Miséricorde steht ein altes Schulgebäude,<br />
in dem sich im Untergeschoss das Atelier<br />
La parenthèse créatrice, art & thérapie von<br />
Sandrine Devaud, Kunsttherapeutin und<br />
Erwachsenenbildnerin, befindet. Zu fünft<br />
werden wir uns die nächsten fünfzig Minuten<br />
auf eine Kunsttherapie einlassen. Alle<br />
sind etwas nervös und malen sich bereits<br />
Szenarien aus, wie sie sich zeichnend blamieren<br />
werden und was für traumatische<br />
Erlebnisse – bewusst oder noch schlimmer:<br />
unbewusst! – wohl zum Vorschein<br />
kommen werden.<br />
Ausdruck ohne Worte<br />
Die Anspannung löst sich aber rasch, denn<br />
Frau Devaud hat etwas ganz Einfaches mit<br />
uns vor: Collagen kreieren. Bevor wir damit<br />
anfangen, erklärt sie uns, worum es bei<br />
der Kunsttherapie geht: „Die Kunsttherapie<br />
ermöglicht es dem Patienten oder der<br />
Patientin, sich mittels eines künstlerischen<br />
Mediums (plastische Kunst, Tanz, Theater,<br />
Musik oder Poesie) auszudrücken – im<br />
Gegensatz zur Psychotherapie geschieht<br />
dies also non-verbal.“ Die Patientinnen<br />
und Patienten werden nicht frontal mit<br />
ihren Problemen konfrontiert, sondern<br />
der Therapeut oder die Therapeutin stellt<br />
anhand des geschaffenen Werks Hypothesen<br />
auf, um den Betroffenen zu helfen,<br />
selber herauszufinden, wo das Problem<br />
liegen könnte. Wurde dieses entdeckt, so<br />
geht es darum, die persönlichen Ressourcen<br />
der Patientin oder des Patienten gezielt<br />
weiterzuentwickeln, damit die Person<br />
ihre Schwierigkeiten selbständig angehen<br />
kann.<br />
Blättern, Schneiden, Reissen<br />
Frau Devaud lenkt uns zu einem Tisch, auf<br />
dem viele bunte Karten verteilt sind. Alle<br />
werden gebeten, eine Farbe auszuwählen.<br />
An einem weiteren rechteckigen Tisch in<br />
der Mitte des Raumes erwartet uns eine<br />
Sammlung von Zeitschriften, welche wir<br />
nun in einem ersten Schritt nach der ausgewählten<br />
Farbe durchforsten sollen. In<br />
Phase Zwei stellt sich uns die Aufgabe, aus<br />
den herausgerissenen Seiten diejenigen<br />
Elemente auszuschneiden, die die Farbe<br />
unserer Karte aufweisen. Beim Ausschneiden<br />
einer Whiskey-Flasche ist mir etwas<br />
mulmig zumute. Frau Devaud bemerkt<br />
mein Zögern und erklärt, dass sie sich<br />
kein Urteil über die Werke ihrer Klientinnen<br />
und Klienten bildet: „Wir alle tragen<br />
gewalttätige, manchmal mörderische Impulse<br />
in uns. Bei mir dürfen solche Triebe<br />
in der Kunst ausgelebt werden.“ Schlussendlich<br />
kleben wir die Bilder auf einen<br />
kreisförmigen weissen Karton und hängen<br />
letzteren auf einen weissen Hintergrund<br />
an die Wandtafel.<br />
Nichts ist eindeutig<br />
Im letzten Teil unserer fünfzigminütigen<br />
Therapie diskutieren wir die formellen Aspekte<br />
unserer Collagen und stellen fest, dass<br />
in der Dichte der Werke und der Grösse der<br />
verwendeten Bilder grosse Unterschiede<br />
festzumachen sind. „Ich schliesse aber aus<br />
leicht bestückten Collagen nicht automatisch<br />
darauf, dass der Person etwas fehlt;<br />
vielmehr konzentriere ich mich auf das, was<br />
da ist“, meint Devaud. Auf der anderen Seite<br />
kann eine völlig überstellte Collage ein Indiz<br />
für eine Überbelastung sein – muss aber nicht.<br />
Denn: „Interpretationen von Bildern sind immer<br />
subjektiv. Einzig und allein die Patientin<br />
oder der Patient kann herausfinden, was ein<br />
Bild für sie oder ihn bedeutet.“ Dass es nie eine<br />
einzige Interpretation gibt, zeigt Frau Devaud<br />
uns an einem Beispiel auf: Schwimmen im See<br />
kann für die einen eine angenehme Freizeitbeschäftigung<br />
und für die anderen eine Gefahr,<br />
nämlich die des Ertrinkens, darstellen.<br />
Wer bei Frau Devaud eine Kunsttherapie machen<br />
möchte, braucht keine besonderen künstlerischen<br />
Fertigkeiten. Im Gegenteil: Ohne jegliches<br />
künstlerisches Vorwissen ist es für die<br />
Patientinnen und Patienten sogar einfacher,<br />
sich spontan auszudrücken, da sie sich nicht<br />
hinter geübten Mechanismen verstecken können.<br />
Summa summarum war der Selbstversuch<br />
sehr anregend und hat uns auch gezeigt, dass<br />
in der Kunsttherapie der Patientin oder dem<br />
Patienten die Probleme nicht einfach auf einem<br />
Silbertablett serviert werden können. Die<br />
Deutung des eigenen Schaffens soll jedoch helfen,<br />
diese zu erkennen und daran zu arbeiten.<br />
Avenue Jean-Gambach 32, 1700 Freiburg<br />
www.laparenthesecreatrice.ch<br />
L’atélier de Madame Devaud s’adresse aux<br />
personnes francophones.<br />
02.<strong>2019</strong> spectrum<br />
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