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Spectrum #1 2019

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Kunsttherapie – ein Selbstversuch<br />

DOSSIER<br />

Zeichnerisches Unvermögen und traumatische Erlebnisse? <strong>Spectrum</strong> war neugierig genug, um sich im Atelier<br />

von Sandrine Devaud einer Kunsttherapie zu unterziehen. Unsere Befürchtungen waren völlig unberechtigt.<br />

Wir betrachten unsere selbstgebastelten Collagen. Was sagen sie über uns aus?<br />

© Photo: Stephanie Rotzetter<br />

© Foto: Valentina Scheiwiller<br />

LAURENT OBERSON<br />

Schräg vis-à-vis der Bushaltestelle Gambach<br />

bei den Universitätsgebäuden<br />

Miséricorde steht ein altes Schulgebäude,<br />

in dem sich im Untergeschoss das Atelier<br />

La parenthèse créatrice, art & thérapie von<br />

Sandrine Devaud, Kunsttherapeutin und<br />

Erwachsenenbildnerin, befindet. Zu fünft<br />

werden wir uns die nächsten fünfzig Minuten<br />

auf eine Kunsttherapie einlassen. Alle<br />

sind etwas nervös und malen sich bereits<br />

Szenarien aus, wie sie sich zeichnend blamieren<br />

werden und was für traumatische<br />

Erlebnisse – bewusst oder noch schlimmer:<br />

unbewusst! – wohl zum Vorschein<br />

kommen werden.<br />

Ausdruck ohne Worte<br />

Die Anspannung löst sich aber rasch, denn<br />

Frau Devaud hat etwas ganz Einfaches mit<br />

uns vor: Collagen kreieren. Bevor wir damit<br />

anfangen, erklärt sie uns, worum es bei<br />

der Kunsttherapie geht: „Die Kunsttherapie<br />

ermöglicht es dem Patienten oder der<br />

Patientin, sich mittels eines künstlerischen<br />

Mediums (plastische Kunst, Tanz, Theater,<br />

Musik oder Poesie) auszudrücken – im<br />

Gegensatz zur Psychotherapie geschieht<br />

dies also non-verbal.“ Die Patientinnen<br />

und Patienten werden nicht frontal mit<br />

ihren Problemen konfrontiert, sondern<br />

der Therapeut oder die Therapeutin stellt<br />

anhand des geschaffenen Werks Hypothesen<br />

auf, um den Betroffenen zu helfen,<br />

selber herauszufinden, wo das Problem<br />

liegen könnte. Wurde dieses entdeckt, so<br />

geht es darum, die persönlichen Ressourcen<br />

der Patientin oder des Patienten gezielt<br />

weiterzuentwickeln, damit die Person<br />

ihre Schwierigkeiten selbständig angehen<br />

kann.<br />

Blättern, Schneiden, Reissen<br />

Frau Devaud lenkt uns zu einem Tisch, auf<br />

dem viele bunte Karten verteilt sind. Alle<br />

werden gebeten, eine Farbe auszuwählen.<br />

An einem weiteren rechteckigen Tisch in<br />

der Mitte des Raumes erwartet uns eine<br />

Sammlung von Zeitschriften, welche wir<br />

nun in einem ersten Schritt nach der ausgewählten<br />

Farbe durchforsten sollen. In<br />

Phase Zwei stellt sich uns die Aufgabe, aus<br />

den herausgerissenen Seiten diejenigen<br />

Elemente auszuschneiden, die die Farbe<br />

unserer Karte aufweisen. Beim Ausschneiden<br />

einer Whiskey-Flasche ist mir etwas<br />

mulmig zumute. Frau Devaud bemerkt<br />

mein Zögern und erklärt, dass sie sich<br />

kein Urteil über die Werke ihrer Klientinnen<br />

und Klienten bildet: „Wir alle tragen<br />

gewalttätige, manchmal mörderische Impulse<br />

in uns. Bei mir dürfen solche Triebe<br />

in der Kunst ausgelebt werden.“ Schlussendlich<br />

kleben wir die Bilder auf einen<br />

kreisförmigen weissen Karton und hängen<br />

letzteren auf einen weissen Hintergrund<br />

an die Wandtafel.<br />

Nichts ist eindeutig<br />

Im letzten Teil unserer fünfzigminütigen<br />

Therapie diskutieren wir die formellen Aspekte<br />

unserer Collagen und stellen fest, dass<br />

in der Dichte der Werke und der Grösse der<br />

verwendeten Bilder grosse Unterschiede<br />

festzumachen sind. „Ich schliesse aber aus<br />

leicht bestückten Collagen nicht automatisch<br />

darauf, dass der Person etwas fehlt;<br />

vielmehr konzentriere ich mich auf das, was<br />

da ist“, meint Devaud. Auf der anderen Seite<br />

kann eine völlig überstellte Collage ein Indiz<br />

für eine Überbelastung sein – muss aber nicht.<br />

Denn: „Interpretationen von Bildern sind immer<br />

subjektiv. Einzig und allein die Patientin<br />

oder der Patient kann herausfinden, was ein<br />

Bild für sie oder ihn bedeutet.“ Dass es nie eine<br />

einzige Interpretation gibt, zeigt Frau Devaud<br />

uns an einem Beispiel auf: Schwimmen im See<br />

kann für die einen eine angenehme Freizeitbeschäftigung<br />

und für die anderen eine Gefahr,<br />

nämlich die des Ertrinkens, darstellen.<br />

Wer bei Frau Devaud eine Kunsttherapie machen<br />

möchte, braucht keine besonderen künstlerischen<br />

Fertigkeiten. Im Gegenteil: Ohne jegliches<br />

künstlerisches Vorwissen ist es für die<br />

Patientinnen und Patienten sogar einfacher,<br />

sich spontan auszudrücken, da sie sich nicht<br />

hinter geübten Mechanismen verstecken können.<br />

Summa summarum war der Selbstversuch<br />

sehr anregend und hat uns auch gezeigt, dass<br />

in der Kunsttherapie der Patientin oder dem<br />

Patienten die Probleme nicht einfach auf einem<br />

Silbertablett serviert werden können. Die<br />

Deutung des eigenen Schaffens soll jedoch helfen,<br />

diese zu erkennen und daran zu arbeiten.<br />

Avenue Jean-Gambach 32, 1700 Freiburg<br />

www.laparenthesecreatrice.ch<br />

L’atélier de Madame Devaud s’adresse aux<br />

personnes francophones.<br />

02.<strong>2019</strong> spectrum<br />

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