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Kunst kommt nicht von Können<br />
DOSSIER<br />
Heutzutage ist alles Kunst: eine blaue Leinwand, nackte Menschen auf öffentlichen Plätzen und leere<br />
Räume. Kunst scheint frei von Regeln zu sein. Die Frage bleibt: Was darf moderne Kunst und wo liegen ihre<br />
Grenzen?<br />
ALINE ZENGAFFINEN<br />
„Das könnte ich auch.” Diesen stillen<br />
Vorwurf an die Kunst hat sicherlich jede<br />
und jeder schon mal gehört, gesagt oder<br />
zumindest für sich gedacht. Möglicherweise<br />
auch bei der Betrachtung einer<br />
von Yves Klein ganz blau bemalten Leinwand<br />
namens IKB79 oder von Jackson<br />
Pollocks berühmten Drip Paintings wie<br />
Lavendelnebel. Und trotzdem werden<br />
diese „Kleckse“ für viele Millionen Dollar<br />
verkauft.<br />
Moderne Kunst wird oft hinterfragt und<br />
kritisiert, wird als hässlich, simpel und<br />
nur provokativ abgestempelt. Kunst ist<br />
Geschmackssache, aber gleichzeitig<br />
wird sie oft missverstanden. Denn so<br />
einfach, wie die Kunstwerke scheinen<br />
mögen, sind sie selten.<br />
Der Teufel steckt im Detail<br />
Manche Kunstwerke verbergen mehr<br />
im Hintergrund als man von aussen<br />
sieht. Das Kunstwerk Clara Clara von<br />
Richard Serra ist ein Beispiel dafür.<br />
Betrachtet man Fotos der Installation,<br />
sieht man nur zwei grosse, im Boden eingelassene<br />
Metallplatten. Auf den ersten<br />
Blick scheint diese Konstruktion nichts<br />
Besonderes zu sein, aber wenn man das<br />
Kunstwerk betritt, werden die zwei Platten<br />
zu einem Kanal von Geräuschen und<br />
Eindrücken, welcher die eigene Wahrnehmung<br />
verändert. Somit zeigt sich das<br />
Kunstwerk nicht im Betrachten, sondern<br />
beim Erleben. Ein anderes Beispiel ist<br />
die abstrakte Kunst von Pablo Picasso.<br />
Viele wissen nicht, dass Picasso die<br />
Technik der klassischen Malerei perfekt<br />
beherrschte. Doch er entschied sich bewusst<br />
dafür, die Kunst zu abstrahieren.<br />
Wie Picasso beherrschen viele Künstler<br />
und Künstlerinnen das Handwerk der<br />
Kunst, wollen aber nicht ein reines Abbild<br />
einer Sache zeigen, sondern den<br />
Hintergrund thematisieren.<br />
Kunst ist Provokation<br />
Heutzutage hat man das Gefühl, dass<br />
Kunst nur noch provozieren will. Nacktkünstler<br />
wie Thomas Zollinger stellen<br />
sich unbekleidet auf öffentliche Plätze<br />
und bilden unterschiedliche Formationen<br />
und Posen. Es geht darum, lebende<br />
Skulpturen herzustellen, welche mit<br />
der jeweiligen Architektur des Platzes<br />
spielen. Dabei sollen nicht die nackten<br />
Künstlerinnen und Künstler im Mittelpunkt<br />
stehen, sondern die Problematik,<br />
dass Nacktheit im Internet als selbstverständlich<br />
gilt, im öffentlichen Raum<br />
aber verpönt ist.<br />
Ist das noch Kunst oder nur noch die<br />
Suche nach Aufmerksamkeit? Eine klare<br />
Antwort darauf gibt es nicht. Denn was<br />
die einen als reine Provokation sehen,<br />
wird von Kritikern und Kritikerinnen<br />
hoch gelobt. Kunst ist und bleibt kontrovers<br />
und irgendwie soll es das auch sein.<br />
Denn schon zu Zeiten Picassos wurde<br />
sein Kubismus von der Öffentlichkeit wie<br />
auch von Kritikern und Kritikerinnen als<br />
skandalös bezeichnet, seine Darstellungen<br />
von nackten Damen in Les Demoiselles<br />
d’Avignon als vulgär. Was heute als<br />
Grossereignis der modernen Kunst angesehen<br />
wird, galt früher als reine Provokation<br />
und der Bezeichnung „Kunstwerk“<br />
nicht würdig.<br />
Grenzen der Kunst<br />
Man kann sich aber durchaus fragen, ob<br />
alles Kunst wird, sobald man es auf ein<br />
Podest stellt. Man könnte einen angebissenen<br />
Apfel in einem Museum platzieren<br />
und ihn als Kommentar zu unserem Konsumverhalten<br />
ansehen. Somit zählt in<br />
der Kunst nicht mehr nur das technische<br />
Können der Künstlerinnen und Künstler,<br />
sondern es geht vielmehr um die Überlegungen<br />
und Planung, welche dahinterstecken.<br />
Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung<br />
Das Geld der Kunsthalle Bern von Maria<br />
Eichhorn. In dieser Ausstellung blieb das<br />
ganze Museum leer und man betrachtete<br />
die kahlen Räume. Das Geld, welches für<br />
die eigentliche Ausstellung gedacht war,<br />
wurde dazu verwendet, die Kunsthalle zu<br />
renovieren. Das Thema: Die Infrastruktur,<br />
die Objekte in Kunstwerke verwandelt, hat<br />
kein Geld, diese im Stand zu halten.<br />
Leere Räume, nackte Menschen, einfarbige<br />
Leinwände: Grundsätzlich sind in<br />
der Kunst keine Grenzen gesetzt. Als Betrachterin<br />
oder Betrachter kann man für<br />
sich entscheiden, was man als Kunst anerkennen<br />
möchte und was reine Spielereien<br />
sind. Technik, Qualität und Kunst bedeuten<br />
nicht immer das Gleiche und setzen einander<br />
nicht voraus. Denn das Wort Kunst<br />
kommt nicht von Können. Kunst hält unserer<br />
Welt einen Spiegel vor und sollte die<br />
Freiheit besitzen dürfen, keine Grenzen<br />
zu haben.<br />
© Photo: Lydiane Lachat et imgflip<br />
©Foto: Wikimedia commons<br />
Moderne Kunst hält der Gesellschaft einen Spiegel vor. Dabei scheint es keine Grenzen zu geben.<br />
02.<strong>2019</strong> spectrum<br />
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