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Spectrum #1 2019

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Ein bisschen mehr Welt hereinlassen<br />

KRITIK<br />

Luises Grossmutter Selma hat eine ganz besondere<br />

Gabe. Wenn sie von einem Okapi träumt – das<br />

weiss das ganze Dorf – wird im Verlauf des nächsten<br />

Tages jemand ihr Nahestehendes sterben. Die<br />

Träume verraten allerdings nicht, wen der Tod holen<br />

wird.<br />

Mariana Lekys Buch „Was man von hier aus<br />

sehen kann“ erzählt anhand dreier solcher unheilschwangerer<br />

Träume vom Leben der introvertierten<br />

und verträumten Luise. Beim ersten<br />

Traum ist Luise gerade mal zehn Jahre alt und<br />

lebt in einem kleinen Dorf im Westerwald, in<br />

dem es nur so von schrulligen Personen wimmelt,<br />

die einen neben der Hauptperson durch<br />

das ganze Buch begleiten. Da ist Martin, Luises<br />

bester Freund, der unbedingt mal Gewichtheber<br />

werden will. Luises Mutter Astrid ist so sehr mit<br />

der Frage beschäftigt, ob sie ihren Mann verlassen<br />

soll, dass sie sich kaum um ihre Tochter<br />

kümmert. Auch Luises Vater ist in Sachen Erziehung<br />

keine grosse Hilfe. Er erzählt viel lieber<br />

von seinem Psychoanalytiker Herr Maschke.<br />

Zum Glück sind da aber noch Selma und der<br />

Optiker, die sich um das kleine Mädchen und<br />

ihren besten Freund kümmern. Luises Meinung<br />

nach sind sie so alt, dass sie die Welt erfunden<br />

haben müssen.<br />

Wenn diesen und weiteren Dorfbewohnern und<br />

-bewohnerinnen durch einen Okapitraum wieder<br />

einmal ihre eigene Sterblichkeit deutlich<br />

vor Augen geführt wird, kommen plötzlich noch<br />

ganz viele Geheimnisse ans Licht. So erzählt<br />

Mariana Leky von mühsam versteckter Liebe<br />

und von Trauer, vom Dorfleben und von den<br />

Geistern, die die liebevoll gezeichneten Charaktere<br />

über die Jahre hinweg verfolgen. Und von<br />

der Wichtigkeit, „ein bisschen mehr Welt hereinzulassen“,<br />

wie Luises Vater zu sagen pflegt.<br />

Die Autorin kreiert bunte und eigensinnige Metaphern,<br />

die man nur versteht, weil man zusammen<br />

mit Luise aufwächst. Das Buch zu lesen,<br />

fühlt sich manchmal an wie ein Gespräch mit<br />

einer engen Freundin, mit der man im Laufe der<br />

Jahre eine eigene, gemeinsame Sprache entwickelt<br />

hat. Immer wieder finden sich fantastische<br />

Elemente in der Geschichte, geschickt eingesetzt,<br />

gegen Ende jedoch etwas zu zahlreich.<br />

Aber das tut der Wärme, die sich beim Lesen in<br />

der Brust ausbreitet, keinen Abbruch.<br />

„Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im<br />

eigenen Leben“, heisst es auf dem Umschlag.<br />

Für die Dauer dieses Buches empfehle ich aber<br />

dringend, eine Ausnahme zu machen und für<br />

einen kurzen Moment Luises Leben zu führen.<br />

Smilla Schär<br />

Was man von hier aus<br />

sehen kann<br />

Mariana Leky<br />

2017<br />

DuMont<br />

320 Seiten<br />

Das schrecklich-süsse Gefühl der Zugehörigkeit<br />

Vier Sommer Ende der Neunzigerjahre, drei Jugendliche<br />

und ein Tal im östlichen Frankreich<br />

nahe der luxemburgischen Grenze.<br />

„Leurs enfants après eux“ ist das Fresko eines Stückes<br />

Populärgeschichte. Als Leserin und Leser erhält<br />

man Einblick in sechs Jugendjahre dreier Leben.<br />

Liebesgeschichten, Adoleszenz, Schulprobleme,<br />

Wünsche, geplatzte Träume, Scheidungen, Arbeitslosigkeit<br />

– es gibt keinen resümierenden Begriff, der<br />

diesem Roman gerecht würde, und das ist auch seine<br />

grosse Stärke. Wie ein grosses Porträt, bei dem<br />

das Weichbild in unendlich feinen Nuancen in die<br />

scharfen Teile übergeht, hat Nicolas Mathieu eine<br />

Geschichte geschrieben, die sich nicht auf das Unendliche<br />

beschränkt, sondern auf 426 Seiten. Und<br />

trotzdem bildet das Buch sein Thema so ab, dass es<br />

der Komplexität menschlicher Leben, in ihrer individuellen<br />

und historischen Dimension, gerecht<br />

wird.<br />

Obwohl Mathieus Buch ein peripheres Frankreich<br />

beschreibt und dessen von der Globalisierung gebeuteltes<br />

Prekariat sehr präsent ist, ist es kein Zola’-<br />

sches „J’accuse...!“, wie es beispielsweise in Edouard<br />

Louis einen adäquateren Nachfolger gefunden hat.<br />

Weit weg von tagespolitischen Kurzschlüssen oder<br />

theoretischen Reduzierungen sind die Figuren in<br />

Mathieus Buch nicht einfach Statthalter sozialer<br />

Strukturen, sondern Menschen, deren Geschichte<br />

untrennbar mit der Weltgeschichte verwoben ist,<br />

ohne mit dieser identisch zu sein. Das heisst nicht,<br />

dass der Roman eine Apologie des Elends darstellen<br />

und retrospektiv alles verklären würde. Völlig<br />

unbeschönigt, doch ohne Zynismus, beschreibt Nicolas<br />

Mathieu die Trennung der Eltern von Antohny,<br />

einem Protagonisten: den folgenden langsamen<br />

Verfall seines Vaters, die neu aufglühende Trinksucht,<br />

die Regression des einstigen Familienvaters,<br />

der schlussendlich betrunken in einem See ersäuft.<br />

Das Buch lädt sehr wohl zu Kritik ein, an der Globalisierung,<br />

am französischen Bildungssystem, an<br />

den Politikern und Politikerinnen des Landes und<br />

auch an den Leuten, die deren Entscheidungen auszubaden<br />

haben. Doch anders als der moderne soziologisch-realistische<br />

Roman à la Louis beschreibt<br />

Mathieu nicht nur die Misere der Menschen, sondern<br />

auch den matten, leisen Glanz dieser Leben.<br />

Timothy Klaffke<br />

Leurs enfants après eux<br />

Nicolas Mathieu<br />

2018<br />

Actes Sud<br />

426 Seiten<br />

02.<strong>2019</strong><br />

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