You also want an ePaper? Increase the reach of your titles
YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.
Ein bisschen mehr Welt hereinlassen<br />
KRITIK<br />
Luises Grossmutter Selma hat eine ganz besondere<br />
Gabe. Wenn sie von einem Okapi träumt – das<br />
weiss das ganze Dorf – wird im Verlauf des nächsten<br />
Tages jemand ihr Nahestehendes sterben. Die<br />
Träume verraten allerdings nicht, wen der Tod holen<br />
wird.<br />
Mariana Lekys Buch „Was man von hier aus<br />
sehen kann“ erzählt anhand dreier solcher unheilschwangerer<br />
Träume vom Leben der introvertierten<br />
und verträumten Luise. Beim ersten<br />
Traum ist Luise gerade mal zehn Jahre alt und<br />
lebt in einem kleinen Dorf im Westerwald, in<br />
dem es nur so von schrulligen Personen wimmelt,<br />
die einen neben der Hauptperson durch<br />
das ganze Buch begleiten. Da ist Martin, Luises<br />
bester Freund, der unbedingt mal Gewichtheber<br />
werden will. Luises Mutter Astrid ist so sehr mit<br />
der Frage beschäftigt, ob sie ihren Mann verlassen<br />
soll, dass sie sich kaum um ihre Tochter<br />
kümmert. Auch Luises Vater ist in Sachen Erziehung<br />
keine grosse Hilfe. Er erzählt viel lieber<br />
von seinem Psychoanalytiker Herr Maschke.<br />
Zum Glück sind da aber noch Selma und der<br />
Optiker, die sich um das kleine Mädchen und<br />
ihren besten Freund kümmern. Luises Meinung<br />
nach sind sie so alt, dass sie die Welt erfunden<br />
haben müssen.<br />
Wenn diesen und weiteren Dorfbewohnern und<br />
-bewohnerinnen durch einen Okapitraum wieder<br />
einmal ihre eigene Sterblichkeit deutlich<br />
vor Augen geführt wird, kommen plötzlich noch<br />
ganz viele Geheimnisse ans Licht. So erzählt<br />
Mariana Leky von mühsam versteckter Liebe<br />
und von Trauer, vom Dorfleben und von den<br />
Geistern, die die liebevoll gezeichneten Charaktere<br />
über die Jahre hinweg verfolgen. Und von<br />
der Wichtigkeit, „ein bisschen mehr Welt hereinzulassen“,<br />
wie Luises Vater zu sagen pflegt.<br />
Die Autorin kreiert bunte und eigensinnige Metaphern,<br />
die man nur versteht, weil man zusammen<br />
mit Luise aufwächst. Das Buch zu lesen,<br />
fühlt sich manchmal an wie ein Gespräch mit<br />
einer engen Freundin, mit der man im Laufe der<br />
Jahre eine eigene, gemeinsame Sprache entwickelt<br />
hat. Immer wieder finden sich fantastische<br />
Elemente in der Geschichte, geschickt eingesetzt,<br />
gegen Ende jedoch etwas zu zahlreich.<br />
Aber das tut der Wärme, die sich beim Lesen in<br />
der Brust ausbreitet, keinen Abbruch.<br />
„Von der unbedingten Anwesenheitspflicht im<br />
eigenen Leben“, heisst es auf dem Umschlag.<br />
Für die Dauer dieses Buches empfehle ich aber<br />
dringend, eine Ausnahme zu machen und für<br />
einen kurzen Moment Luises Leben zu führen.<br />
Smilla Schär<br />
Was man von hier aus<br />
sehen kann<br />
Mariana Leky<br />
2017<br />
DuMont<br />
320 Seiten<br />
Das schrecklich-süsse Gefühl der Zugehörigkeit<br />
Vier Sommer Ende der Neunzigerjahre, drei Jugendliche<br />
und ein Tal im östlichen Frankreich<br />
nahe der luxemburgischen Grenze.<br />
„Leurs enfants après eux“ ist das Fresko eines Stückes<br />
Populärgeschichte. Als Leserin und Leser erhält<br />
man Einblick in sechs Jugendjahre dreier Leben.<br />
Liebesgeschichten, Adoleszenz, Schulprobleme,<br />
Wünsche, geplatzte Träume, Scheidungen, Arbeitslosigkeit<br />
– es gibt keinen resümierenden Begriff, der<br />
diesem Roman gerecht würde, und das ist auch seine<br />
grosse Stärke. Wie ein grosses Porträt, bei dem<br />
das Weichbild in unendlich feinen Nuancen in die<br />
scharfen Teile übergeht, hat Nicolas Mathieu eine<br />
Geschichte geschrieben, die sich nicht auf das Unendliche<br />
beschränkt, sondern auf 426 Seiten. Und<br />
trotzdem bildet das Buch sein Thema so ab, dass es<br />
der Komplexität menschlicher Leben, in ihrer individuellen<br />
und historischen Dimension, gerecht<br />
wird.<br />
Obwohl Mathieus Buch ein peripheres Frankreich<br />
beschreibt und dessen von der Globalisierung gebeuteltes<br />
Prekariat sehr präsent ist, ist es kein Zola’-<br />
sches „J’accuse...!“, wie es beispielsweise in Edouard<br />
Louis einen adäquateren Nachfolger gefunden hat.<br />
Weit weg von tagespolitischen Kurzschlüssen oder<br />
theoretischen Reduzierungen sind die Figuren in<br />
Mathieus Buch nicht einfach Statthalter sozialer<br />
Strukturen, sondern Menschen, deren Geschichte<br />
untrennbar mit der Weltgeschichte verwoben ist,<br />
ohne mit dieser identisch zu sein. Das heisst nicht,<br />
dass der Roman eine Apologie des Elends darstellen<br />
und retrospektiv alles verklären würde. Völlig<br />
unbeschönigt, doch ohne Zynismus, beschreibt Nicolas<br />
Mathieu die Trennung der Eltern von Antohny,<br />
einem Protagonisten: den folgenden langsamen<br />
Verfall seines Vaters, die neu aufglühende Trinksucht,<br />
die Regression des einstigen Familienvaters,<br />
der schlussendlich betrunken in einem See ersäuft.<br />
Das Buch lädt sehr wohl zu Kritik ein, an der Globalisierung,<br />
am französischen Bildungssystem, an<br />
den Politikern und Politikerinnen des Landes und<br />
auch an den Leuten, die deren Entscheidungen auszubaden<br />
haben. Doch anders als der moderne soziologisch-realistische<br />
Roman à la Louis beschreibt<br />
Mathieu nicht nur die Misere der Menschen, sondern<br />
auch den matten, leisen Glanz dieser Leben.<br />
Timothy Klaffke<br />
Leurs enfants après eux<br />
Nicolas Mathieu<br />
2018<br />
Actes Sud<br />
426 Seiten<br />
02.<strong>2019</strong><br />
23