Vorschau Scheidegger & Spiess Frühjahr 2017
Die aktuellen Titel im Frühjahrs-Programm 2017 vom Verlag Scheidegger & Spiess.
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höchsten Bergspitzen der Alpen wurden just zum ersten Mal bestiegen.<br />
1852 war selbst der höchste Berg der Erde bereits wissenschaftlich<br />
vermessen und nach dem ehem. Leiter des Vermessungsamtes,<br />
Sir George Everest, benannt. Kurz danach wurden die Alpenvereine<br />
in Österreich (1862), der Schweiz (1863) und in Deutschland (1869)<br />
gegründet und die durchgreifende touristische Erschließung der<br />
Berge begann. So vermessen, bestiegen und erschlossen waren die<br />
schroffen Alpen nicht mehr „schlechthin groß“. Diese Eigenschaft<br />
aber war es, die Immanuel Kant 1764 mit dem Gefühl des Erhabenen<br />
verknüpft hatte: „Erhaben nennen wir das, was schlechthin groß<br />
ist.“<br />
Es ist insofern signifikant, dass sich die Berge auf den von Loidl<br />
verwendeten Grafiken manchmal fast in den Hintergrund auflösen.<br />
Ihre einstige Erhabenheit scheint dadurch<br />
auch materiell zu schwinden. Die Grafiken<br />
öffnen damit eine Fehlstelle, in die Katharina<br />
Anna Loidl mit ihrer Nachbearbeitung<br />
kunstvoll eingreifen konnte. Ergänzt hat<br />
sie die vorgefundenen Landschaften mit<br />
geometrischen Fremdkörpern, die wie weiße<br />
Riesenkristalle in die Szenen eingebettet<br />
wurden. Zur Herstellung dieser Ergänzungen<br />
verwendete sie die gleichen Werkzeuge, die Friedrich Schiller, 1801<br />
bereits bei der Herstellung der originalen<br />
Druckplatten zum Einsatz kamen: Stichel<br />
und Radiernadel. Behutsam hat Loidl damit<br />
von Teilen des Papiers die Druckerschwärze<br />
abgehoben, bis schließlich ihre abstrakten<br />
weißen Kristallkörper erschienen. Handwerklich<br />
und im Wortsinn sind es damit „Radierungen“ (von lat. radere<br />
„kratzen, wegnehmen, entfernen“). Ideengeschichtlich ist es ein<br />
Weitererzählen des Erhabenen.<br />
Den Topos des Kristallin-Erhabenen kennt die Kunst seit der Zeit der<br />
Romantik. Berühmt ist Caspar David Friedrichs Gemälde „Eismeer<br />
/ gescheiterte Hoffnung“ (1823/24), das ein Schiff inmitten sich<br />
kalt auftürmender Eisschollen zeigt, oder auch Adalbert Stifters<br />
Erzählung „Der Bergkristall“ (1845), die von zwei Kindern handelt,<br />
die sich im Gebirge verlaufen. Später wanderte der kristalline Topos<br />
May we be bound to<br />
the sensual world<br />
by the beautiful,<br />
but freed from it<br />
by the sublime.<br />
of the Alps had just been climbed for the first time then. In 1852 even<br />
the highest mountain in the world had already been scientifically<br />
measured and named after the former Surveyor General of India,<br />
Sir George Everest. Shortly thereafter, Alpine Associations were<br />
founded in Austria (1862), Switzerland (1863) and Germany (1869), and<br />
the thorough development of tourism in the mountains began. Thus<br />
measured, climbed and developed, the rugged Alps were no longer<br />
“absolutely large”. Yet it was this characteristic that Immanuel Kant<br />
had linked with the feeling of the sublime in 1764: “We call sublime<br />
what is absolutely large.”<br />
In this sense it is significant that the mountains<br />
in the graphic works that Loidl uses seem almost<br />
to dissolve in the background sometimes. Their<br />
former sublimeness thus also seems to dwindle<br />
materially. In this way, the graphic works open<br />
up a crack that Katharina Anna Loidl was able<br />
to artfully intervene in with her reworking. She<br />
expanded the found landscapes with geometrical<br />
foreign bodies, which are embedded in the<br />
scenes like giant white crystals. To produce<br />
these expansions she used the same tools that<br />
were already employed to produce the original<br />
printing plates: graver and etching needle. With<br />
these Loidl carefully separated the printing ink<br />
from parts of the paper, until her abstract white<br />
crystal bodies finally appeared. In terms of craft,<br />
this type of technique involves making incisions, removing. In terms<br />
of the history of ideas, it is a matter of continuing the story of the<br />
sublime.<br />
The topos of the crystalline sublime is familiar to art since the<br />
Romantic period. There is the famous painting by Caspar David<br />
Friedrich, The Sea of Ice / The Wreck of Hope (1823/24), which<br />
shows a ship in the midst of a heap of shards of an ice floe, or<br />
Adalbert Stifter’s story Rock Crystal (1845) about two children lost<br />
in the mountains. Later the crystalline topos wandered through<br />
the architectural visions of Paul Scheerbart and Bruno Taut into<br />
N° 19<br />
N°20<br />
N°05<br />
N°06<br />
N°44<br />
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N°06