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Pfadabhängigkeiten - IAMO

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<strong>Pfadabhängigkeiten</strong><br />

Begriff, Identifikation und ihre Bedeutung<br />

in Agrarstrukturentwicklungen<br />

von<br />

Alfons Balmann ∗<br />

Institut für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften des Landbaus<br />

Humboldt-Universität zu Berlin<br />

Luisenstr. 56<br />

10099 Berlin<br />

e-mail: abalmann@rz.hu-berlin.de<br />

∗ Beitrag zum Workshop „Evolutorische Ökonomik“ in Buchenbach, 26.-29.10.1994.


1 Zielsetzung und Vorgehensweise<br />

Der Begriff der Pfadabhängigkeit wird seit Mitte der 80’er Jahre für die Erklärung einer Reihe<br />

wirtschaftlich-technischer Phänomene verwendet. Prominente Beispiele finden sich zum einen<br />

bei Industriestandards, wie die Tastaturbelegung von Schreibmaschinen und Computern, sowie<br />

bei institutionellen Regelungen, wie das Rechts- bzw. Linksfahrgebot im Straßenverkehr. Zum<br />

anderen existieren aber auch einige Beispiele, in denen mit Hilfe von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> die<br />

Entwicklung wirtschaftlicher Strukturen erklärt werden kann. Hierzu läßt sich beispielsweise<br />

die enorme Ansammlung von Unternehmen der Computerbranche im sogenannten ‘Silicon<br />

Valley’ in Californien nennen. 1 Diesen Systemen standen anfangs mehrere Entwicklungspfade<br />

zur Auswahl. Nachdem sie aber zu einem bestimmten Zeitpunkt einen Weg eingeschlagen ha-<br />

ben, d.h. ein Standard oder eine Norm wurde festgelegt, ist es ihnen heute kaum noch möglich,<br />

diesen Pfad wieder zu verlassen.<br />

Die Existenz von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> in einem dynamischen System kann nach ARTHUR (1989)<br />

einige wesentliche ökonomische Implikationen haben:<br />

- die Vorhersagbarkeit der zukünftigen Entwicklung kann zu bestimmten Zeitpunkten der<br />

Entwicklung sehr gering, zu anderen jedoch sehr groß sein, abhängig davon, ob bereits<br />

ein stabiler Zustand erreicht wurde,<br />

- kleine historische Ereignisse können dauerhafte Auswirkungen haben,<br />

- ein einmal eingeschlagener Pfad läßt sich möglicherweise nicht oder nur unter hohen<br />

Kosten wieder verlassen,<br />

- es besteht eine potentielle Ineffizienz eines solchen Systems.<br />

Die aufgeführten Beispiele und Zusammenhänge lassen ARTHUR (1990a) zufolge Pfadabhän-<br />

gigkeiten vor allem in Hochtechnologiebereichen der Wirtschaft vermuten; insbesondere dort,<br />

wo positive Rückkopplungen in Form von Skalenerträgen und Netzwerkexternalitäten vorhan-<br />

den sind. Er erwartet sie dagegen weniger im Agrarsektor. Bei einer Betrachtung der gegen-<br />

wärtigen deutschen Agrarstruktur erkennt man jedoch zwischen den alten und neuen Bundes-<br />

ländern deutliche strukturelle Unterschiede. Die alten Bundesländer sind durch eine eher klein-<br />

betrieblich organisierte Struktur gekennzeichnet, wenngleich mit gewissen regionalen Unter-<br />

schieden. Hier wurden 1993 lediglich 12,5% der landwirtschaftlich genutzten Fläche von Be-<br />

trieben mit mehr als 100 ha bewirtschaftet. Dagegen existiert in Ostdeutschland eine Struktur,<br />

die von vergleichsweise großen Betrieben dominiert wird. 1993 wurden in den neuen Ländern<br />

78,8% der Fläche von Betrieben mit mehr als 500 ha genutzt. 2 Die Unterschiede werden auch<br />

am Standardbetriebseinkommen deutlich: in Ostdeutschland betrug es 1991 mit 269612 DM je<br />

Betrieb das Zehnfache der westdeutschen Betriebe. 3<br />

1 ARTHUR (1990b).<br />

2 AGRARBERICHT 1994, Materialband S. 14f.<br />

3 AGRARBERICHT 1993, Materialband S. 23.


Aus dieser Dualität der Agrarstrukturen ergeben sich einige interessante (agrar-) ökonomische<br />

Fragestellungen. So stellt sich zum einen die Frage, ob so etwas wie eine optimale Agrar-<br />

struktur existiert und wenn ja, wie diese aussieht. Zum anderen stellt sich die Frage, ob ein<br />

Optimum - vorausgesetzt es existiert - auch tatsächlich erreicht werden kann. In einem engen<br />

Zusammenhang damit besteht die nicht weniger interessante Fragestellung, ob die derzeitige<br />

Dualität der Strukturen wohl längerfristig erhalten bleibt. Mit der ersten Frage haben sich, ins-<br />

besondere in den letzten Jahren, bereits einige Studien beschäftigt. Der Forschungsschwer-<br />

punkt konzentrierte sich dabei auf einzelbetriebliche Aspekte, wie die Ermittlung optimaler<br />

Betriebszweiggrößen. Einige der Analysen, die mit Hilfe komparativ statischer Methoden<br />

durchgeführt wurden, ergeben, daß sich optimale Betriebszweiggrößen weit oberhalb west-<br />

deutscher Größenordnungen befinden. 4 Die Vermutung liegt nahe, daß in einer optimal organi-<br />

sierten Struktur die einzelnen Betriebe entsprechende Betriebszweiggrößen aufweisen. Diese<br />

Einschätzung impliziert, daß die derzeitige westdeutsche Agrarstruktur deutlich vom Optimum<br />

abweicht.<br />

Auch die Frage danach, ob ein Optimum stets erreicht wird, ist in der agrarökonomischen Dis-<br />

kussion nicht grundsätzlich neu. Bereits BRANDES (1978, S. 7) geht davon aus, daß es irrig sei,<br />

anzunehmen, "daß die Berücksichtigung des Faktors Zeit lediglich den Weg zu einem Opti-<br />

mum angibt, welches man auch mit der komparativ statischen Analyse bestimmen könne. In-<br />

folge der vorhandenen Strukturen und der Kosten, die mit der Änderung dieser Strukturen<br />

verbunden sind, ist es in manchen Fällen unmöglich, einen optimalen Zustand überhaupt zu<br />

erreichen." Die Ursache für diese Diskrepanzen könnte darin bestehen, daß Pfadabhängigkei-<br />

ten auch in Agrarstrukturentwicklungen eine Rolle spielen.<br />

Bevor im Rahmen dieser Arbeit auf die Bedeutung von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> in Agrarstruktu-<br />

rentwicklungen eingegangen wird, soll versucht werden, den Begriff zu formalisieren, was ins-<br />

besondere bedeutet, eine Definition zu entwickeln. Dazu wird zunächst modelltheoretisch er-<br />

läutert, was <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> sind und worauf sie zurückgeführt werden können. Hieraus<br />

werden Anforderungen an eine Definition des Begriffes abgeleitet, deren Hauptzweck darin<br />

besteht, eine Identifikation von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> zu ermöglichen. Die gewonnene Definition<br />

wird anschließend dazu verwendet, zu untersuchen, unter welchen Bedingungen bzw. Voraus-<br />

setzungen davon auszugehen ist, daß Agrarstrukturentwicklungen pfadabhängig sind. Für diese<br />

Untersuchungen wird auf ein räumliches Simulationsmodell zurückgegriffen in dem bis zu etwa<br />

150 fiktive landwirtschaftliche Betriebe innerhalb einer Kleinregion (6250-30000 ha) wirt-<br />

schaften. Mit diesem Modell werden einige Experimente durchgeführt, anhand derer nach<br />

möglichen <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> gesucht wird. Mittels weiterer Experimente wird dann der Ein-<br />

fluß bestimmter Annahmen auf das Ergebnis untersucht. Die Ergebnisse werden anschließend<br />

4 Vgl. z.B. PETER (1993), der versucht, die optimale Betriebszweiggröße im Marktfruchtbau zu bestimmen, oder<br />

DOLUSCHITZ/TRUNK (1993), die sich mit Kostenvorteilen großer Milchviehbetriebe beschäftigen.<br />

2


kritisch beleuchtet, nicht zuletzt um den Wert der zuvor entwickelten Definition von Pfadab-<br />

hängigkeiten beurteilen zu können.<br />

2 Systemanalytische Betrachtung von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> am<br />

Beispiel optimaler Betriebsgrößenstrukturen<br />

Im folgenden soll modelltheoretisch überlegt werden, wie <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> entstehen kön-<br />

nen. Diese Überlegungen sollen sich auf die Frage nach der optimalen Größe landwirtschaftli-<br />

cher Betriebe beziehen.<br />

Für die Ermittlung optimaler Betriebsgrößen soll unterstellt werden, daß für landwirtschaftli-<br />

che Betriebe eine Wertschöpfungsfunktion Π existiert. Anhand dieser Funktion die optimale<br />

sektorale Struktur abgeleitet werden. Da der Sektor Landwirtschaft hinsichtlich der Produkti-<br />

onsfaktoren Arbeit (A) und Kapital (K) als kleiner Sektor betrachtet werden kann, bietet es<br />

sich an, die Wertschöpfung Π(B,A*,K*) auf den für den Sektor Landwirtschaft am stärksten<br />

limitierten Faktor, den Boden (B), zu beziehen. Diese Vorgehensweise unterstellt, daß der Ein-<br />

satz der Faktoren Arbeit und Kapital entsprechend dem jeweiligen Bodeneinsatz optimiert ist<br />

und diese Faktoren bereits entlohnt sind.<br />

Es ergibt sich für den Sektor 5 folgendes Optimierungsproblem:<br />

max L(<br />

n, B ) = Π ( B ) + λ ( X − B ) ,<br />

n, Bi<br />

n<br />

∑ ∑<br />

i i i i<br />

i=<br />

1 i=<br />

1<br />

mit n als Anzahl der Betriebe, X als Gesamtfläche und B i als Bodeneinsatz in Betrieb i und Π i<br />

als dessen einzelbetrieblicher Wertschöpfung.<br />

Es lassen sich aus diesem Ansatz folgende, allgemein bekannte mikroökonomische Optimali-<br />

tätskriterien ableiten:<br />

- Die sektorale Wertschöpfung ist genau dann maximal, wenn die Durchschnittswert-<br />

schöpfung je Faktor- bzw. Flächeneinheit maximal ist.<br />

- Die Grenzwertschöpfung des Bodens muß in jedem Unternehmen gleich sein.<br />

- Die Durchschnittswertschöpfung muß auf einzelbetrieblicher Ebene mindestens den<br />

3<br />

n<br />

Opportunitätskosten des eingesetzten Bodens entsprechen. Die Opportunitätskosten je-<br />

des Betriebes entsprechen der Grenzwertschöpfung der übrigen Betriebe.<br />

Der Einfachheit halber soll unterstellt werden, daß alle Betriebe identische Wertschöpfungs-<br />

möglichkeiten besitzen.<br />

5 Alternativ könnte auch vom Konzept eines "Großgrundbesitzers" ausgegangen werden, der seinen Boden in einer<br />

möglichst effizienten Stückelung an unterschiedliche Unternehmen verpachten oder in eigene Betriebe aufteilen will.


Nun soll der Frage nachgegangen werden, unter welchen Voraussetzungen <strong>Pfadabhängigkeiten</strong><br />

entstehen können. Dazu wird zunächst einmal unterstellt, daß die Wertschöpfungsfunktion<br />

einen sigmoidförmigen Verlauf besitzt, wie etwa<br />

α<br />

( λB)<br />

ΠS( B)<br />

=<br />

( λB) e<br />

B + − β δ<br />

Abb. 2.1: Sigmoidförmige Wertschöpfungskurve 6<br />

Π<br />

mit α, β, δ, λ > 0 < α − β < 1.<br />

Β<br />

Die sich aus diesem Funktionstyp ergebende optimale Betriebsgröße liegt dort, wo die durch-<br />

schnittliche Faktorentlohnung ihr Maximum hat. Wie Abbildung 2.1 zeigt, schneidet an dieser<br />

Stelle C die Grenzwertschöpfungs- die Durchschnittswertschöpfungskurve. Diese Funktions-<br />

form besitzt eine eindeutige Optimallösung und würde die optimale Betriebsgröße eindeutig<br />

bestimmen. <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> können mit diesem Modell jedoch kaum erklärt werden. Des-<br />

halb soll im folgenden diese sigmoidförmige Funktionsform etwas modifiziert werden, indem,<br />

ähnlich einer Begünstigung bestimmter Betriebsgrößen, ein von der Betriebsgröße abhängiger<br />

Zuschlag g(B) zur Wertschöpfung Πs vorgenommen wird mit<br />

aB<br />

g(B)<br />

=<br />

2<br />

( B − b) + c<br />

4<br />

∂ ∂ Π B<br />

Π<br />

B<br />

mit a, b, c > 0 konstant.<br />

Abb. 2.2: Verlauf einer doppelt-sigmoidförmigen Kurve 7<br />

Π Π<br />

g s<br />

Π ∂Π ∂B Π<br />

B<br />

Π<br />

B<br />

∂Π ∂B Man erhält nun eine Wertschöpfungsmöglichkeitenkurve<br />

Π( B) = rΠ ( B) + g(B)<br />

6 α = 3; β = 2, 5; γ = δ = 1/ 6.<br />

7 α = 3; β = 2, 5; γ = δ = 1/ 6; a = 2; b = c = 1; r = 7 .<br />

S<br />

B<br />

Π B<br />

∂ ∂ Π B<br />

C<br />

C E D B<br />

B


mit einem Verlauf, der einer doppelt-sigmoidförmigen Kurve 8 wie in Abbildung 2.2 entspricht.<br />

In diesem Fall wird die Beantwortung der Frage nach optimalen Betriebsgrößen schwieriger.<br />

Neben dem globalen Optimum D existiert noch ein lokales Optimum C. In beiden Punkten ent-<br />

spricht die Grenzwertschöpfung der Durchschnittswertschöpfung. Bei einer komparativ stati-<br />

schen Betrachtung ergibt sich auch hier eine eindeutig optimale Betriebsgröße, nämlich D. 9<br />

Betrachtet man diesen Fall jedoch dynamisch und unterstellt, daß im Ausgangszustand aus be-<br />

liebigen Gründen die Betriebsgröße C vorherrscht, dann muß überlegt werden, ob sich der<br />

Sektor von der kleinbetrieblichen Struktur C zur global optimalen Struktur D verändern kann.<br />

Für diese Frage soll unterstellt werden, daß für diesen Übergang zunächst nicht näher defi-<br />

nierte Kosten anfallen. Wenn diese zum Zeitpunkt t 0 in der Höhe S C→D anfallen, dann muß bei<br />

einem unendlichen Betrachtungszeitraum als Übergangsbedingung gelten, daß die Kosten des<br />

Übergangs geringer sind als der Gegenwartswert der zusätzlichen Wertschöpfung, d.h.<br />

SC→D X ⎛ Π(<br />

D)<br />

Π(<br />

C)<br />

≤ ⎜ −<br />

i ⎝ D C<br />

mit i als Kalkulationszins und X als Gesamtfläche des Sektors.<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠<br />

10<br />

Sind die Übergangskosten S C→D höher als der Gegenwartswert der Übergangserträge befindet<br />

sich der Sektor in einer locked in Situation, das heißt, der Sektor ist festgefahren. Unterstellt<br />

man, daß die Höhe der Übergangskosten unabhängig vom Ausmaß der Änderung der Struktur<br />

ist, also lediglich durch die Strukturänderung selbst bedingt wird, kann auch keine langsame<br />

Anpassung an das globale Optimum stattfinden. Die Folge wäre, daß der Endzustand der<br />

Struktur vom Ausgangszustand abhängt. Gegenüber einem Sektor, der sich erst entwickelt und<br />

seine Struktur frei wählen kann, wäre ein Sektor, der bei C beginnt, pfadabhängig. Die Konse-<br />

quenz für den pfadabhängigen Sektor ist, daß ihm die komparativ statisch gesehen überlegene<br />

Struktur verwehrt bleibt. 11<br />

Welches sind nun die Determinanten einer Pfadabhängigkeit? Die Werte für X und i sollen<br />

Π( ) Π(<br />

)<br />

einmal als gegeben angesehen werden. Somit verbleiben die Terme SC→D und D C<br />

− .<br />

D C<br />

Hinter S C→D verbergen sich, wie gesagt, Kosten des Übergangs von C nach D. Diese können<br />

als Transformationskosten bezeichnet werden. Der zweite Term ist etwas komplexer. Zum<br />

einen besagt er, daß bei einem Übergang von C nach D auf etwas verzichtet werden muß;<br />

nämlich auf die Durchschnittswertschöpfung von C. Zum anderen muß berücksichtigt werden,<br />

8 Eine doppelt sigmoidförmige Kurve soll im folgenden definiert werden als eine Funktion f(x), die in ihrem Definitionsbereich<br />

- monoton steigend ist, d. h. f'(x) > 0 und<br />

- genau drei Wendepunkte P - P besitzt, mit f''(x) > 0 für x < P .<br />

1 3 1<br />

9 An der Stelle E erreicht die Durchschnittswertschöpfung i.Ü. ein lokales Minimum; denn die Ableitung der Grenzwertschöpfung<br />

nach dem Faktoreinsatz ist positiv.<br />

10 Der Gegenwartswert des Übergangsertrages ergibt sich aus dem Produkt der Gesamtfläche mit der Differenz der mit<br />

C und D verbundenen Durchschnittswertschöpfungen. Die Kapitalisierung der Erträge erfolgt, bei unendlichen Betrachtungszeitraum,<br />

mit 1/i.<br />

11 Vgl. zur Plausibilität der Existenz mehrerer lokaler Optima und von Übergangskosten BALMANN (1994b).<br />

5


daß sich hinter der Wertschöpfungsfunktion Π, wie sie oben eingeführt wurde, zwei Funktio-<br />

nen verbergen, nämlich Π s und g. Die Funktion Π s kann als eine Art "natürliche" Wertschöp-<br />

fungsfunktion verstanden werden. Ihr Verlauf hängt von den produktionstechnischen und öko-<br />

nomischen Rahmenbedingungen ab. Die Funktion g wurde dagegen als eine (nicht weiter defi-<br />

nierte oder begründete) Begünstigung bestimmter Betriebsgrößen eingeführt. Nun sei einmal<br />

angenommen, daß g davon abhängt, welche Durchschnittsgröße im Ausgangszustand vor-<br />

herrscht. Dann könnte g(C) als eine Rente der Größenstruktur C verstanden werden. Die Diffe-<br />

renz g(C)<br />

C<br />

- g(D)<br />

D<br />

würde einen Rentenverzicht darstellen.<br />

Vernachlässigt man die ‘natürliche’ Ertragsfunktion Π s , ergeben sich aus dieser Modellanalyse<br />

intuitiv zwei Ansatzpunkte für eine Systematisierung der Ursachen von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong>: es<br />

gibt<br />

(i) ‘Kräfte’, die lokale Optima erzeugen (Renten) und<br />

(ii) ‘Kräfte’, die den Übergang des Systems vom lokalen Optimum (Ist-Zustand) zum glo-<br />

balen Optimum (Soll-Zustand) verhindern (Transformationskosten).<br />

Grundsätzlich dürften sich viele Ursachen von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> nicht streng in eine der bei-<br />

den Kategorien einordnen lassen. Auch ist keine der beiden Kategorien notwendig, aber jede<br />

kann als Ursache hinreichend sein. Die Kategoriesierung vermittelt jedoch ein Gefühl für An-<br />

satzpunkte einer Ursachenforschung. Während Kategorie (i) Ursachen dort vermuten läßt, wo<br />

selbstverstärkende Prozesse stattfinden oder bestimmte Zustände begünstigt (subventioniert)<br />

werden, geht (ii) eher davon aus, daß Veränderungen einen Preis haben, also etwas kosten<br />

oder an Bedingungen geknüpft sind. Diese beiden Kategorien können mit dem Begriff Anpas-<br />

sungskosten zusammengefaßt werden; denn sie bezeichnen die Kosten, die durch eine Bewe-<br />

gung von einem Punkt zu einem anderen entstehen. Abbildung 2.3 verdeutlicht die Wirkungs-<br />

richtung dieser Kräfte.<br />

Abb. 2.3: <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> verursachende Kräfte: Anpassungskosten<br />

B<br />

Π B<br />

Π B s<br />

B<br />

6<br />

(i) "Renten" eines Zustands<br />

(ii) Transformationskosten<br />

In den bisherigen Überlegungen wurde davon ausgegangen, daß das System Agrarsektor eine<br />

vorgegebene natürliche Wertschöpfungsfunktion Π s besitzt und sich in einer statischen Um-<br />

welt bewegt. In Abhängigkeit von der Zeit kann sich jedoch insbesondere Π s verändern. Diese<br />

Veränderung kann exogen bedingt sein, beispielsweise weil sich die Umwelt des Sektors wan-


delt. Möglicherweise ist sie jedoch endogen, weil eine bestimmte "natürliche" Funktion die<br />

Existenz von Wissen, Fertigkeiten, wie auch technischer Qualitäten voraussetzt; bestimmte<br />

Sorten im Bereich des Pflanzenbaus oder Tierrassen müssen erst einmal gezüchtet werden.<br />

Diese endogenen Änderungen des Möglichkeitenraumes können in zweifacher Weise von der<br />

Zeit abhängen: erstens kann die Produktion dieser Qualitäten Zeit benötigen, und zweitens<br />

kann sie bestimmte vergangene Strukturen und auch Strukturentwicklungen voraussetzen. 12<br />

Damit sind nunmehr vier Ansätze für die Suche nach den ökonomischen Ursachen von Pfadab-<br />

hängigkeiten gefunden; während sich die ersten beiden Ansätze (zustandsbedingte Renten und<br />

Transformationskosten) auf eine statische Umwelt beziehen, stehen die letzteren (die exogene<br />

Entwicklung der Umwelt und die endogene Entwicklung des Möglichkeitenraums) in engem<br />

Zusammenhang mit einer sich verändernden Umwelt.<br />

3 Entwicklung einer Definition<br />

Bei den obigen Ausführungen hinsichtlich der Frage, unter welchen Bedingungen in Agrar-<br />

strukturentwicklungen <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> entstehen können, kam der gleichzeitigen Existenz<br />

mehrerer lokaler Optima eine wesentliche Bedeutung zu. Ein Optimum kann dynamisch be-<br />

trachtet auch als eine Art Gleichgewicht oder allgemeiner ausgedrückt als Attraktor verstanden<br />

werden. Die gleichzeitige Existenz mehrerer Attraktoren in einem dynamischen System könnte<br />

daher in einem engen Zusammenhang mit der Existenz von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> stehen; denn in<br />

Abhängigkeit vom Ausgangszustand könnte ein jeweils anderer Attraktor erreicht werden.<br />

Bevor jedoch versucht wird, den Begriff des Attraktors für eine Definition von Pfadabhängig-<br />

keiten zu nutzen, soll er erläutert und seine Eignung für die Beschreibung des Verhaltens dy-<br />

namischer Systeme diskutiert werden.<br />

3.1 Der Begriff des Attraktors<br />

Unter einem Attraktor wird vereinfacht ausgedrückt der Zustand verstanden, auf den der Zeit-<br />

pfad (die Trajektorie) eines deterministischen dynamischen Systems zustrebt. Nach LORENZ<br />

(1990, S. 42) läßt sich ein Attraktor folgendermaßen definieren:<br />

Definition: Für ein n-dimensionales dynamisches System &x = f( x), x ∈R<br />

n<br />

, ist eine be-<br />

schränkte Menge A ⊂ R n ein Attraktor des Systems, wenn es eine Menge U<br />

mit den folgenden Eigenschaften gibt:<br />

12 Leider gibt es bislang für die Analyse der letzten Kategorie lediglich für Teilbereiche formalisierte Methoden. Diese<br />

Methoden betreffen zum einen den Aufwand, den Unternehmen für Forschung und Entwicklung betreiben und zum<br />

anderen die Ausbreitung neuer Technologien. Vgl. hierzu insbesondere GRILICHES (1957), aber auch ARTHUR (1989)<br />

und DOSI ET AL. (1988), Part IV - VII. Weitere interessante theoretische Ansätze finden sich im Bereich der Institutionenökonomik.<br />

7


(i) U ist eine n-dimensionale Umgebung von A.<br />

(ii) Falls x(0) ∈ U, dann ist x( t) ∈U ∀ t > 0 und x( t) → A , d.h. jede<br />

Trajektorie die in U beginnt, verbleibt in U und nähert sich der<br />

Menge A, wenn t groß genug ist.<br />

Abb. 3.1: Arten von dynamischem Verhalten in zeitlich stetigen dynamischen Systemen<br />

Fixpunktstreben Grenzzyklus LORENZ-Attraktor<br />

Ein Attraktor kann wie Abbildung 3.1 zeigt unterschiedliche Formen und Dimensionen anneh-<br />

men. Es kann sich dabei um einen Punkt (Fixpunkt), wie dem Gleichgewicht im Sinne des Wal-<br />

rasianischen Marktgleichgewichts, um einen Zyklus (Grenzzyklus), wie die Umlaufbahn eines<br />

Satelliten, und auch um höchst komplexe, nicht vorhersagbare Pfade handeln, in denen endo-<br />

gen ermittelte deterministische Werte sich scheinbar stochastisch verhalten und kleinste Ände-<br />

rungen in den Startwerten (Sensitivität in den Anfangswerten) zu einem völlig anderen Verlauf<br />

führen. Ein Beispiel dafür ist ein Zufallszahlengenerator in einem Computerprogramm, der<br />

Zufallszahlen rein deterministisch erzeugt.<br />

Nichtlineare dynamische Systeme können im Gegensatz zu linearen Systemen mehrere Attrak-<br />

toren besitzen. Abbildung 3.2 verdeutlicht eine derartige Situation. Man stelle sich vor, daß<br />

durch die dort abgebildete Landschaft eine Kugel gerollt würde. Für einen gegebenen, d.h.<br />

festen Wert des Parameters μ, der den Ort angibt, kann dann das jeweilige Minimum als ein<br />

Gleichgewicht interpretiert werden. Während für bestimmte Größenordnungen des Parameters<br />

μ ein eindeutiges Minimum existiert, existieren für andere Bereiche zwei Minima, die jeweils<br />

als Attraktoren zu verstehen sind. Welchen Attraktor das System erreicht, das hängt vom Aus-<br />

gangszustand ab.<br />

8


Abb. 3.2: Multiple Gleichgewichte (Minima) bei Variation des Parameters μ<br />

y<br />

x<br />

μ<br />

9<br />

Bei der abgebildeten Funktion<br />

y = x<br />

4<br />

+ μ<br />

3<br />

⋅<br />

( 1+<br />

cos(<br />

x)<br />

)<br />

findet an der Stelle μ = 0 eine Pitchfork-<br />

Bifurkation statt von einer Situation mit<br />

einem eindeutigen Gleichgewicht zu einer<br />

Situation mit zwei Gleichgewichten.<br />

Mit dem Wechsel von einer Situation mit einem eindeutigen Gleichgewicht zu einer Situation<br />

mit zwei Gleichgewichten bei Variation des Parameters μ findet an der Stelle μ = 0 eine soge-<br />

nannte Pitchfork-Bifurkation statt, 13 bei der ein stabiles Gleichgewicht in ein labiles übergeht<br />

und auf beiden Seiten des labilen Gleichgewichts jeweils ein neues stabiles entsteht. Das Sy-<br />

stem geht von einer Situation mit einem Attraktor über zu einer mit zwei Attraktoren. Eine<br />

Bifurkation muß aber nicht unbedingt auf Parameteränderungen zurückzuführen sein. Bifurka-<br />

tionen können insbesondere in solchen Systemen auftreten, in denen sich einige Variablen im<br />

Verhältnis zu anderen Variablen sehr schnell verändern. Dabei wirken die langsam veränderli-<br />

chen Variablen wie Parameter. Überschreiten diese analog zur Variation von μ bestimmte kriti-<br />

sche Werte, kann es zu radikalen Änderungen des Makrozustandes kommen in denen völlig<br />

neue Strukturen entstehen.<br />

Derartige Zustandsänderungen können als Phasenübergänge 14 bezeichnet werden. Mit derarti-<br />

gen Phänomenen beschäftigt sich insbesondere die Synergetik, die zu erklären versucht, wie in<br />

einem System Ordnungsprozesse zustande kommen. 15 Der Synergetik zufolge wird die Dyna-<br />

mik in Vielkomponentensystemen durch wenige Ordnungsparameter bestimmt. Aufgrund un-<br />

terschiedlicher Anpassungsgeschwindigkeiten passen sich die schneller veränderlichen Varia-<br />

blen den langsamer veränderlichen an. Erstere werden sozusagen "versklavt".<br />

Eine Verwendung des Begriffs Attraktor, wie er oben definiert wurde, ist für die Beschreibung<br />

des zwischenzeitlich auftretenden Systemverhaltens nicht ganz korrekt. Zum einen läßt sich mit<br />

ihm nur der ‘Endzustand’ des Systems für t → ∞ beschreiben. Hierbei wird vorausgesetzt, daß<br />

die Parameter konstant sind, d.h., daß sich das System selber nicht verändert. In komplexen<br />

Systemen läßt sich aber nicht einmal auszuschließen, daß auch innerhalb eines Attraktors so<br />

13 Vgl. z.B. LORENZ (1993, S. 110ff).<br />

14 Vgl. z.B. ERDMANN (1993).<br />

15 Vgl. zur Synergetik insbesondere HAKEN (1983). Im Rahmen der Synergetik wird jedoch im Unterschied zu den hier<br />

vorgestellten Modellen, die alle deterministisch sind, vor allem mit stochastischen Modellen gearbeitet.


etwas wie Phasenübergänge auftreten. Als Beispiel für einen solchen Phasenübergang dürfte<br />

sich der sich wiederholende Wechsel zwischen den beiden ‘Ebenen’ des LORENZ-Attraktors<br />

anführen lassen (Vgl. Abbildung 3.1).<br />

Ein weiteres Manko der Definition des Attraktors hängt damit zusammen, daß dynamische<br />

Systeme häufig eine sehr lange Zeit benötigen bevor sie überhaupt in die Nähe eines Attraktors<br />

kommen (transiente Phase). Innerhalb dieses Zeitraums, auf den sich möglicherweise das In-<br />

teresse des Beobachters konzentriert, können sie bereits ein Verhalten offenbaren, das sich nur<br />

schwer von einem Attraktor unterscheiden läßt. Dieses Verhalten ist zwar nicht dauerhaft,<br />

kann jedoch über einen langen Zeitraum stabil sein. Auch hier können Phasenübergänge auf-<br />

treten.<br />

Abb. 3.3: Phasenübergänge beim System<br />

4<br />

X(t)<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

0 50 100 150 200<br />

t<br />

10<br />

( c ⋅ x ⋅ x + 1 )<br />

t t<br />

x t+ a x t b x t<br />

x d<br />

= ⋅ − ⋅ +<br />

sin ln( ) 2<br />

16<br />

1<br />

+<br />

4<br />

X(t)<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

0 1 2 3 4<br />

X(t-1)<br />

In Abbildung 3.3 wird eine derartige Situation verdeutlicht. Das dargestellte System, bei dem<br />

es sich beispielsweise um die Entwicklung einer Population handeln könnte, verharrt für etwa<br />

40 Perioden auf einem bestimmten Niveau, bevor es plötzlich ein höheres erreicht. 17 Aber auch<br />

auf diesem bleibt es nur für einen gewissen Zeitraum, bevor es das Niveau erreicht, innerhalb<br />

dessen sich ein Attraktor befindet. Diese zwischenzeitlich erreichten Zustände lassen sich mit<br />

dem Begriff des Attraktors ebenfalls nicht beschreiben. 18<br />

Diese Überlegungen verdeutlichen, daß der Begriff des Attraktors zu eng gefaßt ist, um mit<br />

seiner Hilfe bestimmte Zustände von Systemen zu erfassen. Diese Feststellung gilt insbesonde-<br />

re für Systeme, die noch nicht so etwas wie einen Endzustand erreicht haben, weil sie sich erst<br />

entwickeln oder weil in ihnen äußere (stochastische) Einflüsse wirken. Dieser Mangel soll im<br />

folgenden zum Anlaß genommen werden, um den Begriff aufzuweichen, ihn zu erweitern: Zu-<br />

16 Für a = 1,18; b = 0,520221; c =2,83; d = 0,1, x(0) = 0,00909.<br />

17 Vgl. hinsichtlich der ökonomischen Interpretation z.B. DAY (1987), der mit Hilfe eines ähnlichen Modells versucht,<br />

den evolvierenden Charakter der Geschichte der menschlichen Entwicklung einzufangen.<br />

18 Ein solcher Zustand stellt auch das Verhalten des BELOUSOV-ZHABOTINSTKY-Oszillators dar, bei dem sich in einer<br />

Situation fern vom thermodynamischen Gleichgewicht infolge zyklisch ablaufender chemischer Reaktionen über einen<br />

langen Zeitraum hinweg regelmäßige Wellen ausbreiten. Vgl. zur Thematik Chemischer Wellen z.B. MÜLLER (1994).<br />

t


stände von Systemen, die über einen längeren Zeitraum stabil sind, sollen als Quasi-Attraktoren<br />

bezeichnet werden. Ein Quasi-Attraktor läßt sich folgendermaßen definieren:<br />

Definition: Für ein n-dimensionales dynamisches System &x = Φ( x, u(t))<br />

mit x ∈ Rn , und<br />

exogenen Einflüssen u(t) ∈ R n , ist eine beschränkte Menge A ⊂ R n ein<br />

Quasi-Attraktor des Systems, wenn es eine Menge U mit den folgenden Ei-<br />

genschaften gibt:<br />

• U ist eine n-dimensionale Umgebung von A.<br />

• Falls x(0) ∈ U, dann existiert ein δ(u(t)) >> 0 mit x(t) ∈ U ∀ 0 < t < δ<br />

(u(t)), d.h. jede Trajektorie die in U beginnt, verbleibt zumindest für einen<br />

Zeitraum δ(u(t)) in U.<br />

Der Begriff des Quasi-Attraktors gilt aufgrund der ausdrücklichen Berücksichtigung der exo-<br />

genen Größe u(t) ebenfalls für stochastische Systeme. Gleichzeitig ist er grundsätzlich geeig-<br />

net, die oben angesprochenen temporär stabilen Zustände, die sich mit Hilfe des konventionel-<br />

len Attraktorenbegriffs nicht einfangen lassen, zu beschreiben. Die Problematik dieser Definiti-<br />

on besteht aber darin, daß jeweils festgelegt werden muß, was ein hinreichend langer Zeitraum<br />

ist. Dieser Zeitraum wird sich jedoch wohl kaum allgemein festlegen lassen, sondern muß für<br />

jedes betrachtete System individuell ermittelt werden.<br />

3.2 Versuch einer Definition von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong><br />

In den obigen Überlegungen zur optimalen Größe landwirtschaftlicher Betriebe konnte das<br />

Phänomen Pfadabhängigkeit damit erklärt werden, daß mehrere lokale Optima existieren und<br />

der Übergang von einem Optimum zu einem anderen mit Kosten verbunden ist. Derartige Op-<br />

tima können als Attraktoren interpretiert werden. Die Verwendung des Begriffs Attraktor ist<br />

jedoch, wie gezeigt, für der Beschreibung des Verhaltens evolvierender Systeme problema-<br />

tisch. Es dürfte ausreichen, wenn die Stabilität eines lokalen Optimums der Definition eines<br />

Quasi-Attraktors genügt. Landwirtschaftliche Betriebe bzw. Agrarstrukturen wären demnach<br />

pfadabhängig, wenn sie in Abhängigkeit vom Ausgangszustand oder exogenen Einflüssen in<br />

die Nähe eines lokalen Optimums gelangen und es ihnen über einen längeren Zeitraum nicht<br />

gelingt, das lokale Optimum zu verlassen, um zum globalen Optimum zu streben.<br />

Es bietet sich daher an, <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> folgendermaßen zu definieren:<br />

Definition: Ein dynamisches System &x = Φ ( x, u(t))<br />

, x ∈ Rn , u(t) ∈ Rm , ist pfadabhän-<br />

gig, wenn es mehr als einen Quasi-Attraktor A i ⊂ R n besitzt, mit A i ∩ A j =<br />

∅ für i ≠ j.<br />

Diese Definition impliziert, daß es, um die Pfadabhängigkeit eines Systems zu zeigen, hinrei-<br />

chend ist, mehrere Quasi-Attraktoren zu identifizieren.<br />

11


Auf die Güte dieser Definition soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Sie scheint je-<br />

doch, trotz ihrer überraschenden Einfachheit, sämtliche der bisher genannten Anforderungen,<br />

die an <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> gesetzt werden, zu erfüllen. 19<br />

4 <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> in Agrarstrukturentwicklungen<br />

An dieser Stelle ist es nicht möglich sämtliche Ursachen von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> in Agrar-<br />

strukturentwicklungen aufzulisten. 20 Stattdessen werden im folgenden einige Simulationsexpe-<br />

rimente vorgestellt. Diese Experimente beruhen auf einem räumlichen Modell einer Agrarregi-<br />

on in der einzelne landwirtschaftliche Betriebe miteinander im Wettbewerb stehen.<br />

4.1 Ein Modell zur Simulation regionaler Agrarstrukturentwicklungen 21<br />

Die regionale Entwicklung der Agrarstruktur ist ein komplexer dynamischer Prozeß, in dem<br />

sich die einzelnen Betriebe bzw. Unternehmen unter anderem in Abhängigkeit von ihrem je-<br />

weiligen Ist-Zustand, ihren interdependenten Beziehungen zueinander sowie ihrer jeweiligen<br />

ökonomischen und technischen Umwelt entwickeln. Für die Untersuchung dieses Prozesses<br />

können Simulationsrechnungen hilfreich sein.<br />

4.1.1 Zelluläre Automaten<br />

In den letzten Jahrzehnten wurden für die Erklärung und das Verständnis komplexer Gescheh-<br />

nisse im Bereich der Naturwissenschaften mehrfach zelluläre Automaten verwendet. Beispiele<br />

sind CONWAY´s "Life" oder biologische Wachstumsprozesse. Ein zellulärer Automat ist dabei<br />

vereinfacht ausgedrückt eine Art parallel arbeitender Computer, bei der jede Zelle die Arbeit<br />

eines Miniprozessors übernimmt. Er besitzt folgende wesentliche Charakteristika 22 :<br />

(i) Er besteht aus einer räumlich diskreten und regulären Anordnung von identischen Zel-<br />

len. Dies ist in der Regel eine n-dimensionale Matrix.<br />

(ii) Der Wert einer Zelle wird gleichzeitig mit den Werten der übrigen Zellen in einer Folge<br />

zeitlich diskreter Schritte nach einer festgelegten Regel ermittelt.<br />

(iii) Üblicherweise berücksichtigt diese Regel nur die Nachbarzellen (räumlich lokale Regel)<br />

und nur die Zellzustände der letzten Perioden (zeitlich lokale Regel).<br />

(iv) Jede Zelle kann nur eine endliche Anzahl von Werten annehmen.<br />

19 Ein interessanter Aspekt dieser Definition ist der, daß sie nicht nur für ökonomische Systeme gilt, sondern sich ebenfalls<br />

auf nichtökonomische Systeme, wie Optimierungsprozesse, anwenden läßt. Auch gelten dort die gleichen Probleme,<br />

wie z.B. die potentielle Ineffizienz.<br />

20 Zu einer ausführlicheren Analyse möglicher Ursachen vgl. BALMANN (1994a, Kap. 3) und (1994b).<br />

21 Eine ausführliche Darstellung findet sich in BALMANN (1993) und (1994a).<br />

22 In Anlehnung an MAI, J. (1991).<br />

12


Theoretisch können zelluläre Automaten als universelle Rechenmaschinen verwendet werden<br />

und stellen eine Zukunftsperspektive für den Bau sehr leistungsfähiger Computer dar. In ihren<br />

bisherigen Anwendungen werden sie jedoch hauptsächlich dazu genutzt, zu zeigen, wie kom-<br />

plexe Gebilde, z.B. Galaxien oder biologische Strukturen, mittels sehr einfacher Rechenregeln<br />

entstanden sein könnten. Sie dienen also bislang vorwiegend dazu, komplexe Geschehnisse zu<br />

verstehen.<br />

4.1.2 Charakteristika einer regionalen Agrarstrukturentwicklung<br />

Betrachtet man die Parzellen einer landwirtschaftlich genutzte Region von oben, ergibt sich für<br />

deren Nutzung oder Eigentumsverhältnisse im Zeitablauf etwas, was einem zweidimensionalen<br />

zellulären Automaten in gewisser Weise ähnelt. Diese Parzellen entwickeln sich in der Realität<br />

hinsichtlich ihrer Nutzung oder ihren Eigentumsverhältnissen natürlich nicht exakt nach den<br />

Regeln eines zellulären Automaten. Sie sind weder regelmäßig angeordnet, noch besitzt ihre<br />

Entwicklung jenen geforderten deterministischen Charakter, der sich unmittelbar aus dem mo-<br />

mentanen lokalen Zustand entwickelt. Hinter einer regionalen Agrarstrukturentwicklung ver-<br />

bergen sich jedoch ökonomische und soziale Zusammenhänge. Diesen Zusammenhängen kön-<br />

nen folgende Annahmen zugrunde gelegt werden:<br />

(i) Bei einer Agrarstrukturentwicklung handelt es sich um einen dynamischen Prozeß.<br />

(ii) Entscheidungen werden von Wirtschaftssubjekten getroffen. Diese Entscheidungen<br />

basieren nicht zuletzt auf ökonomischen Überlegungen, da die Subjekte deren Wirkun-<br />

gen, soweit sie internalisiert werden, zu tragen haben.<br />

(iii) Bestimmte Ergebnisse, Entscheidungen und Aktionen sind in ihren Ausprägungen<br />

ganzzahlig.<br />

(iv) Bestimmte Wirtschaftsobjekte sind einmalig und in ihrer Nutzung nicht zwischen den<br />

Subjekten teilbar.<br />

(v) Es gibt sowohl Rückkopplungen zwischen dem Tun der Wirtschaftssubjekte als auch<br />

zwischen den daraus resultierenden Ergebnissen. Dies gilt insbesondere auf lokaler<br />

Ebene.<br />

(vi) Bestimmte Vorgänge sind irreversibel.<br />

(vii) Der Zustand des Systems hängt in einem nicht zu vernachlässigenden Maße von seiner<br />

Vergangenheit ab.<br />

4.1.3 Zelluläre Automaten zur Darstellung einer regionalen Agrarstrukturent-<br />

wicklung<br />

Die hier genannten Annahmen werden in ökonomischen Modellen nur selten vollständig be-<br />

rücksichtigt. In der Regel wird beispielsweise von den Wirtschaftssubjekten und den zwischen<br />

ihnen bestehenden Interdependenzen mehr oder weniger stark abstrahiert. Um sie in einer Mo-<br />

13


dellökonomie zu berücksichtigen, kann die Idee, die sich hinter dem Begriff der zellulären Au-<br />

tomaten verbirgt, jedoch sehr hilfreich sein.<br />

Eine Betrachtung der landwirtschaftlich genutzten Parzellen einer Region als eine Art zellulä-<br />

ren Automaten, wobei die einzelnen Zellenwerte die Besitzverhältnisse widerspiegeln, ermög-<br />

licht eine Vernetzung der innerhalb dieser Region wirtschaftenden Betriebe im Sinne von An-<br />

nahme (v). Gleichzeitig lassen sich dabei die Besonderheiten der einzelnen Betriebe, die als<br />

Wirtschaftssubjekte betrachtet werden können, berücksichtigen. Im übrigen läßt sich auch die<br />

Anordnung der Betriebe in der Region als eine Art zellulären Automaten auffassen. Im Gegen-<br />

satz zu einem echten zellulären Automaten sind in einem derartigen Modell jedoch nicht die<br />

einzelnen Zellen die relevanten Größen, sondern die sich dahinter befindlichen ökonomischen<br />

Zusammenhänge. Die Zellen dienen lediglich als Informationsträger.<br />

4.1.4 Modellaufbau<br />

Für die Umsetzung wurde folgendes mikrofundierte Sektormodell entwickelt:<br />

In einer fiktiven Region gibt es eine bestimmte Anzahl landwirtschaftlich nutzbarer, identischer<br />

Flächen. Diese Flächen können von landwirtschaftlichen Betrieben gepachtet werden. Für diese<br />

Region existiert ferner eine Produktionsumwelt mit einer Vorleistungsangebots- und einer Pro-<br />

duktnachfrageseite. Ebenfalls gibt es eine Reihe landwirtschaftlicher Betriebe, die entsprechend<br />

einem bestimmten Verhaltensmuster (Gewinnmaximierung) operieren und um die vorhandenen<br />

Flächen konkurrieren.<br />

Abb. 4.1: Flußdiagramm zum Programmablauf in einer Periode<br />

Betriebsergebnisse<br />

Produktions- und<br />

Marktergebnisse<br />

Produktionsentscheidung<br />

Schrittrichtung<br />

Erwartungsbildung<br />

Investitionsentscheidung<br />

beeinflußt<br />

Nein<br />

vorläufige<br />

Investitionsplanung<br />

Flächenzupacht<br />

Ja<br />

14<br />

Flächenabstockung<br />

Ja<br />

Bodenmarkt<br />

vorläufige<br />

Investitionsplanung<br />

Nein<br />

Nein<br />

vorläufige<br />

Investitionsplanung<br />

Weiterführung<br />

des Betriebes<br />

Ja<br />

Gesamtheit<br />

der Betriebe<br />

Neugründung<br />

eines Betriebes


Gleich einem zellulären Automaten finden die Allokations- und Produktionsprozesse in der<br />

Region zu diskreten Zeitpunkten statt. Dies entspricht auch weitgehend der landwirtschaftli-<br />

chen Realität, die stark vom jahreszeitlichen Ablauf beeinflußt wird. Ferner erfolgen die einzel-<br />

betrieblichen Planungen und Entscheidungen simultan, damit die zwischenbetrieblichen Inter-<br />

dependenzen berücksichtigt werden können. Der Ablauf einer Produktionsperiode läßt sich in<br />

Abb. 4.1 erkennen. Zunächst einmal wird für jede Periode unterstellt, daß die Betriebe für zu-<br />

künftige Produktionsbedingungen Erwartungen bilden. Hierfür wird in diesem Modell das<br />

Konzept der adaptiven Erwartungen genutzt. Auf diese Erwartungen aufbauend findet dann die<br />

Allokation der Faktoren auf vier Ebenen statt: Betriebsaufgabe- bzw. Betriebsgründungsüber-<br />

legung, Flächenallokation, Investitionsplanung sowie die Produktionsplanung. Sämtliche<br />

Überlegungen erfolgen unter der Prämisse der Gewinnmaximierung. Lediglich die Betriebs-<br />

gründung erfolgt hinsichtlich des Standortes, wie auch der Anfangsausstattung mit Arbeit und<br />

Kapital stochastisch.<br />

Da das Modell insbesondere den zwischenbetrieblichen Interdependenzen gerecht werden will,<br />

und die einzelnen Überlegungen auch nicht unabhängig voneinander erfolgen können, muß eine<br />

Systematisierung der Entscheidungsfindung erfolgen. Da ferner die zwischenbetriebliche Allo-<br />

kation, dies betrifft den Faktor Boden, wie auch die Betriebsaufgabe- und -gründungsüber-<br />

legungen, für den Entscheidungsablauf nur sehr aufwendig reversibel gestaltet werden können,<br />

diese aber gleichzeitig von Investitions- und Produktionsplanung berührt werden, wurde eine<br />

Entscheidunghierarchie konzipiert, wie sie ebenfalls von Abbildung . 4.1 verdeutlicht wird.<br />

Abb. 4.2: Momentaufnahme einer Bodenallokation im Simulationsmodell*<br />

* Zellen gleicher Farbe gehören jeweils zu einem Betrieb. Die markierten Zellen zeigen die Hofstellen von Betrieben<br />

an. Größe: 2000 Parzellen je 10 ha<br />

15


Die Produktionsentscheidungen der Betriebe haben nun über die daraus resultierenden<br />

Marktergebnisse Auswirkungen auf deren Ausgangssituation in der Folgeperiode.<br />

Mit diesem Modell können nun verschiedene Ausgangsituationen, Marktkonstellationen oder<br />

die Einbeziehung technologischen Wandels simuliert und in ihren Auswirkungen analysiert<br />

werden.<br />

4.1.5 Größe des Modells<br />

Der Umfang dessen, was in dem Modell berücksichtigt werden kann hängt weitgehend von den<br />

Rechnerkapazitäten ab. Das beschriebene Modell wurde für einen kompatiblen PC entwickelt<br />

und in der Sprache C++ programmiert. Unter Berücksichtigung der vom Betriebssystem (MS-<br />

DOS) vorgegebenen Speichergrenzen und der Rechengeschwindigkeit eines 486ér Prozessors<br />

kann die Agrarstrukturentwicklung einer Region mit einer Größe von 3000 Parzellen (á 1 - 40<br />

ha), bei fast 150 Betrieben, 20 Investitionsalternativen sowie 20 Produktionsrichtungen ohne<br />

Probleme über einen längeren Zeitraum simuliert werden.<br />

4.2 Überprüfung auf Pfadabhängigkeit<br />

Zunächst soll geprüft werden, ob im Ausgangsmodell <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> vorliegen. Diese<br />

Überprüfung orientiert sich an einigen Eigenschaften pfadabhängiger Systeme: der Abhängig-<br />

keit von den Entwicklungen in der Anfangsphase und der Stabilität des Systems gegenüber<br />

späteren Störungen. Wenn keine Pfadabhängigkeit vorliegt, sollte davon ausgegangen werden,<br />

daß strukturelle Anfangsunterschiede sehr bald verschwinden und sich nicht mehrere Quasi-<br />

Attraktoren identifizieren lassen.<br />

Für die Simulationen werden die in Tabelle 4.1 spezifizierten Referenzmodelle herangezogen.<br />

Tab. 4.1: Ausgangssituationen in den Referenzmodellen 23<br />

16<br />

Modell 1 Modell 2 Modell 3<br />

Regionsgröße in ha 6250 ha 20000 ha 30000 ha<br />

Anfangsausstattung Arbeitskräfte (Spannbreite) 1-3 AK 1-3 AK 1-3 AK<br />

Anfangsausstattung Kapital (Spannbreite in TDM) 25 - 975 25 - 975 25 - 975<br />

Gründungswahrscheinlichkeit (1. Periode) 1 : 6 1 : 25 1:100<br />

Abbildung 4.3 zeigt die jeweilige Entwicklung der durchschnittlichen Flächenausstattung der<br />

Betriebe in diesen Modellen. Sie zeigt, daß die Anfangsstrukturen zumindest über einen länge-<br />

23 Die Modelle 1-3 werden im folgenden als kleinbetriebliche, mittlere und großbetriebliche Struktur bezeichnet. Der<br />

Begriff der Gründungswahrscheinlichkeit bezieht sich auf die Wahrscheinlichkeit der Neugründung eines Betriebes je<br />

freier Parzelle und Periode. Hiermit wird letztlich die Anfangsgröße der Betriebe festgelegt.


en Zeitraum stabil sind. Ein Konvergenzprozeß setzt erst sehr spät ein, und das auch nur bei<br />

den kleinerbetrieblichen Strukturen. Die Abbildung läßt die Schlußfolgerung zu, daß im Simu-<br />

lationsmodell eine Pfadabhängigkeit vorliegt. Bestätigt wird dieses Ergebnis auch dadurch, daß<br />

die Ausgangsstrukturen, nachdem sie erst einmal entstanden sind, zu Quasi-Attraktoren wer-<br />

den, die für etwa zwanzig Perioden recht stabil sind.<br />

Abb. 4.3: Entwicklung der durchschnittlichen Flächenausstattung bei den Referenzmodellen<br />

ha<br />

1400<br />

1200<br />

1000<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

1 11 21 31 41<br />

Periode<br />

17<br />

kleinbetriebliche Struktur (Modell 1)<br />

mittlere Struktur (Modell 2)<br />

großbetriebliche Struktur (Modell 3)<br />

Abbildung 4.4 zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Flächenausstattung der Betriebe im<br />

Phasenraum. In diesem Phasendiagramm lassen sich mehrere, eindeutig voneinander unter-<br />

scheidbare Quasi-Attraktoren identifizieren. Jedes Modell verharrt jeweils über einen recht<br />

langen Zeitraum in der Umgebung eines Quasi-Attraktors. Damit ist die Bedingung der Defini-<br />

tion von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> erfüllt, die verlangt, daß sich in einem pfadabhängigen System<br />

mehrere Quasi-Attraktoren identifizieren lassen.


Abb. 4.4: Entwicklung der durchschnittlichen Flächenausstattung im Phasenraum<br />

Flächenausstattung in ha in Periode t+1<br />

1400<br />

1200<br />

1000<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

Quasi-Attraktoren<br />

0 500 1000 1500<br />

Flächenausstattung in ha in Periode t<br />

4.2.1 Effizienzwirkungen von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong><br />

18<br />

kleinbetriebliche<br />

Struktur<br />

mittlere Struktur<br />

großbetriebliche<br />

Struktur<br />

Tabelle 4.2 zeigt einige Strukturdaten von Simulationen, nämlich die durchschnittliche Flä-<br />

chenausstattung der Betriebe und die Ergebnisse der Schätzung der funktionellen Einkom-<br />

mensverteilung. Diese Simulationen beziehen sich auf die Referenzmodelle sowie auf Simula-<br />

tionen in denen andere Zufallszahlen verwendet wurden. Leider sind die geschätzten Werte der<br />

funktionellen Einkommensverteilung recht uneinheitlich. Eine aussagekräftige Größe dürfte die<br />

berechnete Wertschöpfung des Bodens sein. Zwischen den unterschiedlichen Betriebsgrößen-<br />

strukturen bestehen deutliche Unterschiede, die belegen, daß die kleinbetriebliche Struktur eine<br />

wesentlich geringere Bodenwertschöpfung besitzt als die größerbetrieblichen Strukturen. In<br />

Relation zur Bodenwertschöpfung sind die Pachtpreise in den kleinbetrieblichen Strukturen<br />

hoch, während sie bei den größerbetrieblichen Strukturen niedrig sind. Hieraus läßt sich fol-<br />

gern, daß die kleinbetrieblichen Strukturen keine ähnlich hohe Produktivität der Bodennutzung<br />

erreichen wie die größerbetrieblichen, gleichzeitig jedoch der Boden relativ knapp ist. Bei<br />

letzteren besitzen die Faktoren Arbeit und Kapital in Relation zum Boden einen vergleichswei-<br />

se höheren Knappheitsgrad.


Tab. 4.2: Vergleich der Durchschnittskennzahlen bei unterschiedlichen Zufallszahlen 24<br />

Modell Referenzmodelle Alternative 1 Alternative 2<br />

Größe der Region in ha 6250 20000 30000 6250 20000 30000 6250 20000 30000<br />

Anzahl Betriebe 51 52 25 56 63 27 55 71 22<br />

Flächenausstattung (ha/Betrieb) 122 385 1205 111 316 1092 113 280 1395<br />

Pachtpreise (DM/ha) 429 422 375 377 452 333 383 457 326<br />

Wertschöpfung Boden (DM/ha) 284 433 452 245 446 460 259 450 453<br />

Arbeitsproduktivität (a) (DM/h) 10 22 32 7 18 35 5 14 33<br />

Bodenproduktivität (b) (DM/ha) 530 547 407 602 603 434 637 580 425<br />

Kapitalproduktivität (c) 7.4% 5.5% 7.1% 6.1% 5.6% 5.5% 6.1% 7.4% 6.2%<br />

Produktionselast. Arbeit 0.10 0.22 0.24 0.09 0.20 0.30 0.04 0.12 0.24<br />

Produktionselast. Boden 0.58 0.66 0.56 0.63 0.66 0.55 0.66 0.65 0.53<br />

Produktionselast. Kapital 0.27 0.21 0.23 0.25 0.21 0.17 0.28 0.28 0.24<br />

Konstante 4.38 4.32 4.07 4.45 4.40 4.21 4.49 4.29 4.22<br />

Skalenelastizität 1.01 1.07 1.04 1.01 1.05 1.04 0.98 1.02 1.01<br />

Die Diskrepanz zwischen Pachtpreisen und Wertschöpfung kann bei den größerbetrieblichen<br />

Strukturen wohl darauf zurückgeführt werden, daß die Skalenerträge weitgehend ausgeschöpft<br />

sind und Transportkosten aufgrund der mit zunehmender Flächenausstattung wachsenden<br />

Entfernungen eine größere Rolle spielen. Im Modell existieren Größenvorteile in der Produkti-<br />

on. Diese können insbesondere in den kleinbetrieblichen Strukturen dazu führen, daß die<br />

Grenzproduktivität des Bodens höher ist als die Durchschnittsproduktivität. Komparativ sta-<br />

tisch gesehen müßten diese Betriebe sobald wie möglich, das ist in der nächsten Periode, wie-<br />

der Flächen abstoßen. Wenn die Betriebe jedoch investiert haben, existieren versunkene Ko-<br />

sten. Diese können dazu führen, daß die Flächen weiterbewirtschaftet werden.<br />

Trotz der an der Bodenwertschöpfung erkennbaren Effizienzunterschiede sind sämtliche<br />

Strukturen über einen längeren Zeitraum stabil. Damit scheint sich die von ARTHUR (1989)<br />

genannte Eigenschaft der potentiellen Ineffizienz von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> zu bestätigen.<br />

4.3 Überprüfung der Ursachen von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong><br />

Das Simulationsmodell ist, wie gesagt, recht komplex. Für bestimmte Algorithmen mußten<br />

Annahmen getroffen werden. So wurde beispielsweise unterstellt, daß in jeder Periode nur die<br />

Flächen neu verpachtet werden, die von den Betrieben freiwillig abgegeben werden, weil ihnen<br />

die Kosten der Flächen zu hoch sind oder weil Betriebe ausscheiden. Ferner wurde unterstellt,<br />

daß versunkene Kosten existieren. Getätigte Investitionen hatten bei den einzelbetrieblichen<br />

Investitions- und Produktionsoptimierungen einen Restwert bzw. Opportunitätskosten von<br />

Null.<br />

24 In den Tabellen werden jeweils die gewogenen Mittelwerte über 50 Perioden ausgewiesen.<br />

19


Diese impliziten Annahmen des Referenzmodells sollen daher gezielt in ihren Auswirkungen<br />

untersucht werden. Bei diesen Untersuchungen werden jeweils die Ergebnisse der Simulation<br />

der Referenzstrukturen (Modell 1-3, vgl. Tabelle 4.1) denen des entsprechend modifizierten<br />

Modells gegenübergestellt. Dabei wird insbesondere der Einfluß der jeweiligen Modifikation<br />

auf die Existenz von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> betrachtet.<br />

4.3.1 Simultane Erhöhung der Bodenmobilität und Reduktion versunkener Ko-<br />

sten<br />

Wie bereits erläutert könnten die gefundenen <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> Auswirkungen hoher versun-<br />

kener Kosten und einer geringen Bodenmobilität sein. Bei einer isolierten Erhöhung der Bo-<br />

denmobilität und Reduktion versunkener Kosten ergab sich hinsichtlich der Existenz von Pfa-<br />

dabhängigkeiten jedoch nur ein geringer Effekt. Die Ursache hierfür könnte darin bestehen,<br />

daß die <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> auf mehrere gleichzeitig wirkende Ursachen zurückzuführen sind.<br />

Es erscheint daher an dieser Stelle interessant zu untersuchen, wie eine Erhöhung der Boden-<br />

mobilität bei einer gleichzeitigen Reduktion versunkener Kosten bei Betriebsaufgabeüberle-<br />

gungen wirkt.<br />

Der Vergleich dieser Simulationen mit den Referenzmodellen (vgl. Abbildung 4.5) zeigt ein<br />

weitgehendes Verschwinden der Pfadabhängigkeit. Dies spricht dafür, daß die im Modell auf-<br />

tretenden <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> nicht auf nur eine Ursache zurückzuführen sind, sondern eine<br />

Komplementarität zwischen versunkenen Kosten und Bodenimmobilitäten besteht.<br />

Abb. 4.5: Entwicklung der durchschnittlichen Flächenausstattung bei gleichzeitiger Erhöhung<br />

ha<br />

der Mobilität des Bodens und der Reduktion versunkener Kosten<br />

Referenzmodelle<br />

3000<br />

2500<br />

2000<br />

1500<br />

1000<br />

500<br />

0<br />

1 11 21 31 41<br />

Periode<br />

20<br />

ha<br />

erhöhte Bodenmobilität und<br />

Abbau versunkener Kosten<br />

3000<br />

2500<br />

2000<br />

1500<br />

1000<br />

500<br />

0<br />

1 11 21 31 41<br />

Periode<br />

Erstaunlicherweise ist die kleinbetriebliche Struktur in den ersten Perioden am längsten stabil,<br />

obwohl sie, wie Tabelle 4.3 zeigt, nach wie vor die geringste Wertschöpfung des Bodens auf-<br />

weist und sie auch im Vergleich der geschätzten Produktivitäten der Faktoren Arbeit, Boden


und Kapital insgesamt am schlechtesten abschneidet. Aus der Tabelle ist auch erkennbar, daß<br />

die berechnete Wertschöpfung des Bodens ebenso wie die Kapitalproduktivität mit der höheren<br />

Faktormobilität ansteigt. Die Skalenelastizität sinkt jedoch mit der Erhöhung der Faktormobi-<br />

lität.<br />

Tab. 4.3: Vergleich von Durchschnittskennzahlen in Abhängigkeit von der Bodenmobilität<br />

und dem Umfang versunkener Kosten*<br />

Modell Referenzmodelle höhere Mobilität<br />

Gesamtfläche der Region in ha 6250 20000 30000 6250 20000 30000<br />

Anzahl Betriebe 51.32 51.98 24.90 30.04 27.24 15.38<br />

Flächenausstattung (ha/Betrieb) 121.78 384.76 1204.82 208.06 734.21 1950.59<br />

Wertschöpfung Boden (DM/ha) 284.41 432.92 452.06 335.78 454.38 454.89<br />

Arbeitsproduktivität (DM/h) 10.13 21.75 32.04 14.08 18.92 29.59<br />

Bodenproduktivität (DM/ha) 529.91 547.45 407.27 437.43 472.53 398.21<br />

Kapitalproduktivität 7.4% 5.5% 7.1% 8.4% 9.0% 8.8%<br />

Produktionselast. Arbeit 0.10 0.22 0.24 0.16 0.28 0.29<br />

Produktionselast. Boden 0.58 0.66 0.56 0.45 0.49 0.49<br />

Produktionselast. Kapital 0.27 0.21 0.23 0.30 0.21 0.22<br />

Konstante 4.38 4.32 4.07 4.55 4.57 4.40<br />

Skalenelastizität 1.01 1.07 1.04 0.95 1.01 1.01<br />

* Bei der Simulation der kleinbetrieblichen Struktur bei der unterstellten höheren Faktormobilität konnten wegen einer<br />

ab der 30. Periode zu geringen Anzahl von Datensätzen für die geschätzten Koeffizienten der funktionellen Einkommensverteilung<br />

nur die Mittelwerte der ersten 30 Werte gebildet werden.<br />

4.3.2 Synchronizität in der Alterstruktur der Betriebe<br />

Eine weitere Ursache der im Referenzmodell gefundenen Pfadabhängigkeit könnte darin beste-<br />

hen, daß die Betriebe größtenteils in der ersten Periode gegründet wurden; denn die Synchro-<br />

nizität in der Alterstruktur dürfte eine Synchronizität bei den betrieblichen Investitionen verur-<br />

sacht haben. Diese Synchronizität könnte für die Stabilität der Strukturen, die vor allem in den<br />

ersten 20 Perioden gegeben war, verantwortlich sein und die Pfadabhängigkeit mit verursacht<br />

haben. Daher soll im folgenden eine Situation simuliert werden, in der sowohl die Betriebe als<br />

auch deren Produktionsanlagen unterschiedlich alt sind. Die Implementierung der Modifikation<br />

verläuft so, daß in der ersten Periode, nachdem die Unternehmen ihre Investitionen getätigt<br />

haben, das Alter des Betriebes mittels einer Zufallszahl zwischen 0 und 19 bestimmt wird. Um<br />

gravierende Verzerrungen in der Unternehmensbilanz zu vermeiden, werden die Anlagen mit<br />

ihrem Zeitwert aktiviert. Diese Berechnung basiert auf der sogenannten exakten Kalkulation<br />

von Anlagekosten, die versucht die Kosten der Anlage über den Nutzungszeitraum gleichmä-<br />

ßig zu verteilen. Die Werte der Aktiva, der liquiden Mittel und das langfristige Fremdkapital<br />

wurden entsprechend dem modifizierten Anlagenalter korrigiert.<br />

21


Abb. 4.6: Entwicklung der durchschnittlichen Flächenausstattung bei unterschiedlicher Alter-<br />

ha<br />

struktur der Betriebe<br />

Referenzmodelle<br />

1400<br />

1200<br />

1000<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

1 11 21 31 41<br />

Periode<br />

22<br />

ha<br />

asynchrone Betriebsgründungen<br />

1400<br />

1200<br />

1000<br />

800<br />

600<br />

400<br />

200<br />

0<br />

1 11 21 31 41<br />

Periode<br />

Abbildung 4.6 ermöglicht wieder einen Vergleich der modifizierten Modelle mit den Refe-<br />

renzmodellen hinsichtlich der durchschnittlichen Flächenausstattung. Es ist erkennbar, daß die<br />

Auswirkungen der Modifikation relativ gering sind. Daher kann davon ausgegangen werden,<br />

daß die gefundene Pfadabhängigkeit nicht durch die Synchronizität der betrieblichen Alters-<br />

struktur hervorgerufen wurde.<br />

4.4 Modell- und Simulationskritik<br />

Es dürfte deutlich geworden sein, daß das Simulationsmodell aufgrund seiner Komplexität<br />

nicht erlaubt, alle Parameter einzeln oder kombiniert zu variieren. Gleiches gilt für eine Reihe<br />

von Algorithmen, mit denen einzelbetriebliche Entscheidungen und die Faktorallokation deter-<br />

miniert werden. Die Simulationsergebnisse zeigen sich jedoch in ihrem qualitativen Verhalten -<br />

beispielsweise hinsichtlich der Frage, ob <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> vorliegen oder nicht - gegenüber<br />

Variationen von Parametern und Zufallszahlen relativ stabil.<br />

Daneben sind, dies zeigen auch weitere Rechnungen (vgl. BALMANN, 1994a), die Simulati-<br />

onsergebnisse in der Regel theoretisch nachvollziehbar und plausibel. Durch ihre Robustheit<br />

und Plausibilität wird eine Vertrauenswürdigkeit geschaffen, die eine Basis für weitergehende<br />

Interpretationen der Ergebnisse bildet. Dennoch sind die Interpretationsmöglichkeiten der Si-<br />

mulationen beschränkt auf qualitative Aussagen, wie beispielsweise auf Aussagen zur Dynamik<br />

des Agrarstrukturwandels und auf die grobe Richtung von Entwicklungen. Quantitative Aus-<br />

sagen dürften dagegen allein schon wegen des zugrundegelegten Datenmaterials kaum möglich<br />

sein. Doch dies entspricht auch nicht der Zielsetzung bzw. dem Zweck der Simulationen. Ihr<br />

Sinn liegt vielmehr darin zu erarbeiten, ob das Phänomen Pfadabhängigkeit in regionalen<br />

Agrarstrukturentwicklungen auftreten kann, welche Umstände dieses begünstigen und welche<br />

Konsequenzen sich daraus ergeben.


Die Simulationen liefern hinsichtlich dieser Fragestellungen relativ aussagekräftige Ergebnisse.<br />

Die Frage ist nun, inwieweit die Ergebnisse auf die Realität übertragen werden können; denn<br />

auch hiervon hängt ihr Wert in großem Maße ab. Die Übertragbarkeit ist eng damit verbunden,<br />

inwieweit dem verwendeten Simulationsmodell eine Validität zugeschrieben werden kann. Für<br />

eine Validierung wurde darauf geachtet, welche impliziten Annahmen im Modell getroffen<br />

werden und wie sie sich rechtfertigen lassen. Es zeigt sich, daß sich ein Großteil der Annahmen<br />

durchaus theoretisch und empirisch begründen läßt. Zu einem Teil jedoch müssen sie, soweit<br />

sie überhaupt erkannt wurden, damit begründet werden, daß sie notwendig sind, um Rechen-<br />

zeiten zu begrenzen, oder weil z.B. zwar andere methodische Konzepte vorliegen, die theore-<br />

tisch überlegen erscheinen, die sich jedoch nicht so einfach auf dieses hochkomplexe Modell<br />

übertragen lassen. Als Beispiel kann hierfür die Verwendung des Konzepts adaptiver Erwar-<br />

tungen dienen. Möglicherweise können in weniger komplexen Modellen leichter methodisch<br />

anspruchsvollere Konzepte wie z.B. das der rationalen Erwartungen implementiert werden.<br />

Der Nachteil weniger komplexer Modelle liegt jedoch darin, daß diese aufgrund ihres höheren<br />

Abstraktionsgrades andere Zusammenhänge ignorieren und damit im Grunde noch wesentlich<br />

stärkere Annahmen implizieren, die ohne eine gründlichere Analyse des Modells leicht im Ver-<br />

borgenen bleiben. Die Problematik der eher aus methodischen Gründen unterstellten Annah-<br />

men wird dadurch entschärft, daß sich zum einen eine Robustheit der Ergebnisse gegenüber<br />

Modifikationen der Annahmen zeigt. Zum anderen kann versucht werden zu prüfen, ob sich<br />

ähnliche Ereignisse auch aus anderen methodischen Ansätzen ergeben bzw. die Ergebnisse eine<br />

theoretische und empirische Plausibilität besitzen. Dieses trifft auf die vorgestellten Simulatio-<br />

nen zu.<br />

5 Zusammenfassung und Schlußfolgerungen<br />

5.1 Systemtheoretische Ergebnisse<br />

In den bisherigen, eher methodisch ausgerichteten Arbeiten zu <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> - hier sind<br />

vor allem die Arbeiten von ARTHUR (1989) und ARTHUR ET AL. (1987) zu nennen - wurde der<br />

Begriff der <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> nicht explizit definiert. 25 Unter einer Pfadabhängigkeit wird<br />

dort verstanden, daß in einer "frühen" Phase eines Systems dessen weitere Entwicklung weit-<br />

gehend determiniert wird. Um das Verständnis des Begriffs der Pfadabhängigkeit zu präzisie-<br />

ren, wurde in dieser Arbeit eine Definition pfadabhängiger Systeme entwickelt. Diese Definiti-<br />

25 In diesen Arbeiten werden jedoch eine Reihe von Eigenschaften pfadabhängiger Systeme genannt. Unter anderem<br />

wird auch in einem Theorem gezeigt, daß ein Adoptions-Prozeß genau dann nicht-ergodisch und unvorhersagbar ist,<br />

wenn die Adoptionsfunktion mehrere stabile Fixpunkte besitzt. Diese Anforderung der Existenz multipler stabiler<br />

Fixpunkte genügt der im Rahmen dieser Arbeit entwickelten Definition pfadabhängiger Systeme.<br />

23


on besagt, daß ein System pfadabhängig ist, wenn es mehrere voneinander unterscheidbare<br />

Quasi-Attraktoren besitzt. Unter einem Quasi-Attraktor wird dabei eine verallgemeinerte Defi-<br />

nition eines Attraktors verstanden, der sich vom Begriff, wie er in der Theorie deterministischer<br />

dynamischer Systeme verwendet wird, zum einen dahingehend unterscheidet, daß er auf die<br />

Theorie nichtdeterministischer Systeme übertragen wird, indem die Auswirkungen exogener<br />

Einflüsse berücksichtigt werden. Zum anderen lassen sich mit Quasi-Attraktoren auch tempo-<br />

rär stabile Zustände von Systemen zu beschreiben. Damit wird der Versuch unternommen,<br />

auch der Bedeutung des Zeitraums gerecht zu werden, der vergeht, bevor ein System einen<br />

Attraktor im konventionellen Sinne erreicht. Beispielsweise geht aus den in dieser Arbeit vor-<br />

gestellten Simulationen von Agrarstrukturentwicklungen hervor, daß es komplexen dynami-<br />

schen Systemen auch innerhalb beträchtlicher Zeiträume nicht zwangsläufig gelingt, einen At-<br />

traktor zu erreichen - Zeiträume, die so lange andauern können, daß sich bis zum Erreichen des<br />

Attraktors die Systemumwelt gravierend geändert haben kann.<br />

In den vorgestellten Simulationen erreichten Agrarstrukturentwicklungen, von unterschiedli-<br />

chen Anfangsbedingungen ausgehend, jeweils andere Quasi-Attraktoren, die im Phasenraum<br />

identifiziert werden konnten. Bezugnehmend auf die entwickelte Definition pfadabhängiger<br />

Systeme läßt sich zeigen, daß das simulierte Ausgangsmodell pfadabhängig ist. Mit diesem<br />

Ergebnis wurde belegt, daß die entwickelten Definitionen von Quasi-Attraktoren und Pfadab-<br />

hängigkeiten eine Operabilität besitzen.<br />

An dieser Stelle sollte jedoch auch darauf hingewiesen werden, daß die landwirtschaftlichen<br />

Betrriebe in den Simulationsmodellen in einer mehr oder weniger statischen Umwelt wirt-<br />

schafteten. Zwar wurde bei den Simulationen durch im Zeitablauf sinkende Erträge ein gewis-<br />

ser Anpassungsdruck vorgegeben. In der Realität finden sich aber auch eine Reihe weiterer<br />

Änderungen der Umwelt, wie beispielsweise im Rahmen des technischen Fortschritts. Bei den<br />

Reaktionen auf diese Änderungen lassen sich möglicherweise charakteristische Entwicklungs-<br />

pfade oder Muster identifizieren. Um solche Muster erfassen zu können, dürfte eine ‘Dynami-<br />

sierung’ der Definition von Quasi-Attraktoren notwendig sein.<br />

Die vorgestellte Definition pfadabhängiger Systeme ist nicht allein für ökonomische Zusam-<br />

menhänge gültig. Sie kann auch für die Untersuchung nichtökonomischer Systeme oder Pro-<br />

zesse verwendet werden. Ein solcher Prozeß kann beispielsweise ein numerisches mathemati-<br />

sches Optimierverfahren zur Lösung komplexer Probleme sein, wie das des sogenannten tra-<br />

velling salesman Problems. Dieses Problem kann leicht so komplex werden, daß analytische<br />

Verfahren innerhalb vertretbarer Rechenzeiten keine Lösung finden. Hier bieten numerische<br />

Verfahren, hierzu gehören auch einige, als naturanalog 26 bezeichnete Verfahren wie neuronale<br />

Netze, Abkühlprozesse, genetische Algorithmen und evolutionäre Strategien, einen Ausweg,<br />

um überhaupt eine Lösung zu erhalten. Bei diesen Verfahren kann jedoch nicht ausgeschlossen<br />

26 Einen Überblick über naturanaloge Optimierverfahren gibt beispielsweise KURSAWE (1991). Vgl. zu einzelnen Verfahren<br />

z.B. BLÜMECKE (1991) oder LENTZ (1993b).<br />

24


werden, daß nur eine suboptimale Lösung gefunden wird, falls nicht gezeigt wird, daß neben<br />

dem globalen Optimum kein weiteres lokales Optimum existiert. Damit können auch diese Op-<br />

timierverfahren, der Definition entsprechend, pfadabhängig sein. Auch kann bei ihnen die Ei-<br />

genschaft der potentiellen Ineffizienz auftreten.<br />

Zur Erforschung der Ursachen von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> existierten ebenfalls, vor allem von<br />

ARTHUR (1989) und ARTHUR ET AL. (1987), einige Ansätze. Diese Autoren nennen als Ursa-<br />

chen insbesondere positive Rückkopplungen und Netzwerkexternalitäten (ARTHUR 1989 und<br />

1990). In dieser Arbeit wurde versucht, Kategorien zu finden, in die sich mögliche Ursachen<br />

von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> einordnen lassen, um eine systematische Suche zu ermöglichen. Die<br />

Kategorienbildung orientierte sich an Optimierungsproblemen. Der entscheidende Aspekt liegt<br />

in der Existenz mehrerer lokaler Optima, die, wenn sie entsprechend stabil sind, Eigenschaften<br />

von Quasi-Attraktoren besitzen.<br />

5.2 Ökonomischen Konsequenzen<br />

ARTHUR (1990) vermutet, daß sich <strong>Pfadabhängigkeiten</strong>, weil sie seinen Erkenntnissen zufolge<br />

vor allem auf steigende Skalenerträgen und Netzwerkexternalitäten zurückzuführen sind, ins-<br />

besondere in Hochtechnologiebereichen der Wirtschaft finden lassen werden, weniger dagegen<br />

in älteren Sektoren wie der Landwirtschaft. Die in der hier präsentierten Arbeit gefundenen<br />

Ergebnisse können diese Vermutung nicht bestätigen; denn ihnen zufolge ist es für die Pfadab-<br />

hängigkeit eines Systems hinreichend, daß mehrere entsprechend stabile lokale Optima existie-<br />

ren. Diese Optima können zwar auf positive Rückkopplungen, wie Netzwerkexternalitäten<br />

oder steigende Skalenerträge zurückzuführen sein, sie müssen es jedoch nicht. Es gibt hierfür<br />

eine Reihe von Beispielen. 27 Es kann daher davon ausgegangen werden, daß Pfadabhängigkei-<br />

ten auch in Nicht-Hochtechnologiebereichen der Wirtschaft zu finden sind.<br />

Die vorgestellten Simulationen zeigen, daß komplexe Systeme, denen auch Ökonomien zuzu-<br />

ordnen sind, über längere Zeiträume in suboptimalen Zuständen verharren können. Dieses Er-<br />

gebnis hat Konsequenzen für die ökonomisch-empirische Arbeit. So kann angenommen wer-<br />

den, daß es illusorisch ist, aus beobachteten Zuständen komplexer Systeme auf deren globale<br />

Optima schließen zu wollen. Die diesbezüglichen Grenzen empirischer Verfahren dürften dort<br />

zu finden sein, wo über die Überprüfung, theoretisch als notwendig erachteter Voraussetzun-<br />

gen eines Optimums hinausgegangen wird. Hinzu kommt, daß sich in realen Systemen, wie<br />

Ökonomien, auch dessen Umwelt laufend ändert, sei es exogen oder durch das System selbst<br />

induziert. Vielleicht bietet es sich auch deshalb an, Ökonomien weniger als dynamische Syste-<br />

me aufzufassen, in denen der Zeit lediglich eine Rolle hinsichtlich des Weges zum Optimum<br />

oder der Systementwicklung innerhalb eines Attraktors zukommt, sondern eher als evolutionä-<br />

27 Vgl. z.B. BALMANN ET AL. (im Druck).<br />

25


en Prozeß, der in seiner Entwicklung verschiedene Pfade einschlagen kann, die die weitere<br />

Entwicklung nachhaltig beeinflussen.<br />

Die bislang angeführten ökonomischen Implikationen haben sich nur nebensächlich mit Fragen<br />

der Effizienz auseinandergesetzt. ARTHUR (1989) geht davon aus, daß pfadabhängige Systeme<br />

eine potentielle Ineffizienz besitzen. Diese Einschätzung ist, ex post gesehen, für eine Reihe<br />

von Beispielen sicherlich berechtigt, was vor allem von ARTHUR (1989) und auch von DAVID<br />

(1985) belegt wird. Effizienzaussagen setzen jedoch adäquate Referenzsysteme voraus. Ex<br />

post gesehen kann eine Bewertung noch recht einfach sein, vorausgesetzt die vorhandenen<br />

Alternativen sind bekannt. Theoretisch und praktisch interessanter, wenngleich ungemein<br />

schwieriger, ist der Aspekt der potentiellen Ineffizienz jedoch ex ante betrachtet, also wenn<br />

sozusagen "das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist". Wenn bekannt ist, daß ein System<br />

pfadabhängig ist oder sein kann, dann sollte sich jemand, der in das Systemgeschehen eingreift,<br />

bewußt sein, daß entsprechenden Eingriffen in bestimmten Phasen des Systems eine sehr nach-<br />

haltige Wirkung zukommen kann. Es können sich Konsequenzen ergeben, die möglicherweise<br />

kurzfristig wünschenswert, aber langfristig fatal sind. Die hieraus erwachsende Problematik<br />

besteht zweifellos darin, daß ex ante meistens wenig darüber ausgesagt werden kann, was ex<br />

post richtig oder falsch sein wird. Die Entscheidung muß ohne dieses Wissen erfolgen. Bei<br />

Entscheidungen können aber zum einen bekannte systematische Zusammenhänge, wie die<br />

Möglichkeit des Auftretens von <strong>Pfadabhängigkeiten</strong>, berücksichtigt werden. Zum anderen be-<br />

stehen in der Regel nicht nur die Alternativen "ja" oder "nein", sondern es existiert ein Hand-<br />

lungsspielraum bei der Ausgestaltung von Eingriffen. So dürften Subventionen, die in<br />

schrumpfenden Sektoren hochentwickelter Industrienationen, wie beispielsweise bei Kohle,<br />

Stahl, Schiffbau oder Landwirtschaft, dazu genutzt werden, den Anpassungsprozeß sozial ab-<br />

zufedern, anders zu bewerten sein als Versuche, mit Hilfe von Subventionen eine künstliche<br />

Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.<br />

Das Wissen um <strong>Pfadabhängigkeiten</strong> kann somit zwar nicht generell vermeiden, daß falsche<br />

Entscheidungen getroffen werden. Wohl aber kann es, analog zur Theorie der Entscheidungen<br />

unter Unsicherheit, genutzt werden, die Entscheidungsfindung zu verbessern.<br />

26


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28

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